Russlands Kriegsherr Putin und seine Kreml-Sprachrohre bezeichnen ukrainische Drohnen- oder Raketenangriffe auf russisches Gebiet als «Terror-Aktionen». Bei der seit bald zwei Jahren andauernden Bombardierung ukrainischer Städte und Dörfer, durch die weit über zehntausend Zivilpersonen getötet wurden, handelt es sich nach Moskauer Sprachregelung hingegen nur um eine «militärische Spezialoperation», die nichts mit Terror zu tun hat.
Wer als ausländischer Beobachter am vergangenen Montag, dem ersten Tag im neuen Jahr, auf dem Ersten Kanal des russischen Fernsehens die Hauptnachrichtensendung «Wremja» (Die Zeit) angeschaut hat, dem sind zweierlei Besonderheiten aufgefallen: Erstens: Während mehr als der Hälfte der etwa zwanzigminütigen Sendung stand Präsident Putin im Zentrum der Sendung. Man sah Putin beim Besuch in einem Reha-Zentrum für verwundete Soldaten und in einem Kremlsaal beim Austeilen von Orden an verdiente Militärangehörige. Erst nach diesen langfädig ausgebreiteten, aber offensichtlich sorgfältig inszenierten Episoden wurde auch über andere Ereignisse des Neujahrstages in Russland oder draussen in der Welt berichtet.
25 Tote beim Beschuss der russischen Grenzstadt Belgorod
Zweitens: Im arrangierten Gespräch des Staatschefs mit den um ihn an einem Tischgeviert aufgereihten militärischen Rekonvaleszenten fragte einer der Anwesenden auch nach dem zwei Tage zuvor erfolgten Luftangriff auf die westrussische Stadt Belgorod, die unweit der Grenze zur Ukraine liegt. Putins Miene schien sich bei diesem Thema zu verfinstern. Dann sagte er mit empörter Intonation, es handle sich hier klar um eine «terroristische Aktion» des Feindes, die sich gezielt gegen Zivilisten gerichtet habe. Aber man werde diesen Terrorakt zu vergelten wissen. Der Beschuss der russischen Grenzstadt erfolgte, nachdem die russischen Streitkräfte in den Tagen zuvor eine besonders intensive Welle von Raketen- und Drohnenangriffe gegen ukrainische Städte – unter ihnen die Hauptstadt Kiew und die östliche Metropole Charkiw – lanciert hatten.
Inzwischen haben die russischen Behörden bestätigt, dass durch Luftangriffe am frühen Samstagnachmittag im Zentrum von Belgorod 25 Menschen getötet und über 100 verletzt wurden. Ob diese Menschen tatsächlich unmittelbar ukrainischen Geschossen zum Opfer gefallen sind, ist allerdings umstritten. Einzelne westliche Quellen berichten, dass Menschen in Belgorod auch durch herunterfallende Raketentrümmer, verursacht durch russische Abwehrgeschosse, verletzt oder getötet worden sein könnten. Diese letztere Möglichkeit ist jedenfalls nicht auszuschliessen, zumal die lokalen Behörden zunächst ebenfalls von herunterfallenden Raketentrümmern berichtet hatten.
Verschleierung von Ursachen und Folgen des Angriffskrieges
Was uns hier aber beschäftigt, sind nicht die Einzelheiten der menschlichen Tragödie vom vergangenen Wochenende in der russischen Grenzstadt Belgorod, sondern die absolut zynische Sprache, mit der Russlands Kriegsherr Ursachen und Folgen des laufenden Ukraine-Krieges gleichzeitig verschleiert und verdreht. Putin ist für jeden halbwegs rational und ehrlich denkenden Menschen der Initiator und Hauptverantwortliche für den Angriffskrieg auf die Ukraine, den er am 24. Februar 2022 losgetreten hat – obwohl er kurz zuvor noch hochrangigen westlichen Besuchern ins Gesicht gelogen hatte, einen Krieg gegen das Nachbarland werde es nicht geben.
Dieser skrupellose Machthaber, der mit seiner Kriegstreiberei unzählige ukrainische Dörfer und Städte ganz oder teilweise zerstört und laut Uno-Hochkommissariat weit über zehntausend Zivilisten getötet sowie Millionen von ukrainischen Bürgern ins Ausland vertrieben hat, spricht im staatseigenen Fernsehen mit gespielter Empörung immer dann von «Terrorismus», wenn die Ukraine es wagt, als Gegenwehr gelegentlich auch russische Städte aus der Luft anzugreifen.
Den Kopf einziehen und schweigen?
Man fragt sich, wie diese verlogene Rhetorik beim russischen Publikum tatsächlich ankommt. Zwar heisst es immer, die grosse Mehrheit der Russen befürworte den Krieg gegen die Ukraine und vertraue dem Langzeitherrscher Wladimir Putin. Doch einige Zweifel an diesem Befund scheinen berechtigt. Von öffentlichen Protesten gegen den Krieg ist praktisch nichts mehr zu vernehmen, seit die ersten Manifestationen in Moskau und St. Petersburg unmittelbar nach Beginn des Überfalls von den Polizeiorganen brutal niedergeschlagen wurden und rund eine Million russischer Bürger ins Ausland geflohen ist.
Doch das Ausbleiben kritischer Stimmen im öffentlichen Raum und der von den staatlich kontrollierten Medien verbreitete Eindruck einhelliger Unterstützung für Putins Krieg muss nicht unbedingt bedeuten, dass das russische Volk tatsächlich in geschlossener Front mit dem Überfall auf das Nachbarland und der Opferung von Zehntausenden von einheimischen Soldaten einverstanden ist. Die Vermutung liegt jedenfalls nahe, dass sehr viele Bürger des russischen Vielvölkerstaates es vorziehen, den Kopf einzuziehen und sich in Schweigen zu hüllen, weil sie wissen, dass jeder öffentliche Protest nahezu unvermeidlich als «Diskreditierung der Armee» gebrandmarkt und jahrelange Gefängnisstrafen zur Folge hätte. Auch während des totalitären Hitler-Regimes sind schliesslich keine grösseren Protestbewegungen gegen dessen Angriffskriege bekanntgeworden, ebenso wenig im Sowjetimperium beim Überfall der Warschaupakt-Staaten 1968 auf die offiziell verbündete Tschechoslowakei.
Die Schweige-Vermutung und ihre Aufteilung
Für diese Schweige-Vermutung sprechen auch die Aussagen des 77-jährigen russischen Soziologen Lew Gudkow. Der Leiter des bekannten Lewada Meinungsforschungsinstituts, das 2016 vom Kremlregime als «ausländischer Agent» eingestuft wurde und deshalb nur noch eingeschränkt funktionsfähig ist, erklärte unlängst laut einem Bericht in der NZZ vom 29. Dezember, dass bei aktuellen Umfragen heute nur noch fünf Prozent der befragten Bürger bereit seien, sich auf Antworten einzulassen. Man kann sich leicht ausmalen, weshalb ein so überwältigender Teil der Angefragten es vorzieht, ihre Meinungen für sich zu behalten.
Im gleichen NZZ-Artikel berichtet der Slawist und Russlandexperte Ulrich M. Schmid, dass der Leiter des nichtstaatlichen, von ausländischen Geldquellen finanzierten Umfrageinstituts Russian Field versuche, die Stimmung in der russischen Bevölkerung durch die Einteilung in vier Meinungsgruppen (Cluster) zu messen. Gemäss dieser Analyse vom Oktober 2023 sollen 19 Prozent der Bevölkerung den «Falken» zugerechnet werden, die auf einen militärischen Sieg gegen die Ukraine setzen. 20 Prozent «Loyalisten» würden auch eine Verhandlungslösung akzeptieren, 48 Prozent «Tauben» hingegen einen Rückzug Russlands aus der Ukraine unterstützen. 13 Prozent werden der Gruppe der «Unentschlossenen» zugeordnet.
Wie signifikant solche inoffiziellen Diversifizierungen des Meinungsbildes in Russland auch sein mögen, sie stützen jedenfalls die naheliegende Vermutung, dass die vom Kremlregime mit grossem propagandistischem Aufwand suggerierte Version einer kompakten patriotischen Einheitsfront hinter Putins Angriffskrieg gegen das ukrainische «Brudervolk» und dessen angebliche «Nazi-Führung» nicht mit den wirklichen Realitäten verwechselt werden sollte.
Deshalb ist auch anzunehmen, dass ein bedeutender Teil unter den Russen wach genug ist, um Putins Unterscheidung zwischen angeblich patriotischen russischen Angriffen auf ukrainische Städte und Dörfer und «ukrainischen Terror-Raketen» gegen russische Städte als das zu erkennen, was sie ist: plumpe Propaganda.