Wer steckt tatsächlich hinter dem Terroranschlag vom 22. März auf eine Moskauer Konzerthalle, bei der über 140 Menschen gestorben sind? Die islamistische Terrororganisation IS bekennt sich zu der Tat. Putin hat auf eine ukrainische Spur hingedeutet. Doch es kursieren auch Vermutungen über eine zynische Inszenierung durch russische Geheimdienste. Sie werden nicht zuletzt durch Erinnerungen an eine mysteriöse Sprengstoff-Affäre in der Stadt Rjasan zu Beginn von Putins Herrschaft genährt.
Ein historisch gut informierter Bekannter in Russland schrieb kurz nach dem Terrorüberfall auf die Moskauer Crocus City Hall per E-Mail, man denke leider in diesem Zusammenhang unwillkürlich an den Reichstagsbrand und an den Sender Gleiwitz und müsse deshalb das Schlimmste vermuten.
Stichworte Gleiwitz und Reichstagsbrand
Was mit diesen Stichworten gemeint ist, wird nicht näher erläutert, aber man kann sich das unschwer ausmalen: Am 22. August 1939 überfielen deutsche Soldaten in polnischen Uniformen den staatlichen Radiosender in der ostdeutschen Stadt Gleiwitz unweit der polnischen Grenze. Der inszenierte Anschlag diente dem Hitler-Regime als einer von verschiedenen Grenzzwischenfällen, um am 1. September die Reichswehr in Polen einmarschieren zu lassen und damit den 2. Weltkrieg auszulösen.
Auch der Berliner Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. Februar 1933 gilt als Fanal, das dem eben erst an die Macht gekommene Hitler-Regime als Vorwand diente, um verfassungsmässige Grundrechte aufzuheben und in Deutschland eine De-facto-Diktatur zu etablieren. Zwar ist bis heute unter Historikern umstritten, ob der Reichstagsbrand von den Nazis selbst inszeniert worden ist oder tatsächlich durch eine Brandstiftung des Einzelgängers Marinus von der Lubbe ausgelöst wurde. Die entscheidende Tatsache bleibt, dass das Unglück von Hitler und seinen Spiessgesellen sofort dazu benützt wurde, die angestrebten totalitären Ziele in die Tat umzusetzen.
Offenkundig gibt es auch in Russland Menschen, die auf den Gedanken kommen, dass bei dem terroristischen Massaker vor anderthalb Wochen in Moskau gewisse Parallelen zu den historischen Ereignissen um den Sender Gleiwitz und dem Reichstagsbrand nicht auszuschliessen sind. Es geht also um Schreckenstaten, die von den Machthabern zu politischen Zwecken entweder selbst inszeniert oder zumindest zur Ausdehnung ihrer autoritären Herrschaft manipuliert werden.
Erinnerungen an den zweiten Tschetschenienkrieg
In diesem Kontext ist von einigen Kommentatoren an die Serie von blutigen Sprengstoffanschlägen erinnert worden, die sich im Jahre 1999 im Zusammenhang mit dem zweiten Tschetschenienkrieg und kurz nach der Ernennung Putins zum russischen Regierungschef in verschiedenen russischen Städten gegen zivile Wohnblöcke ereignet haben. Der politisch und gesundheitlich schwer angeschlagene Präsident Jelzin hatte Anfang August 1999 den bisher weitgehend unbekannten Putin zu seinem neuen Ministerpräsidenten ernannt. Dieser sollte bei den im nächsten Jahr fälligen Präsidentenwahlen auch seine Nachfolge im Kreml antreten.
Kurz darauf, im September 1999, kam es in Moskau, im dagestanischen Buinaksk, und in der südrussischen Stadt Wolgodonsk zu schweren Sprengstoffexplosionen in grossen Wohnhäusern, bei denen insgesamt über 350 Menschen starben und über tausend verletzt wurden. Alle diese Anschläge wurden tschetschenischen Extremisten zugeschrieben. Der neue Ministerpräsident Putin hatte sofort nach seinem Amtsantritt einen neuen Feldzug gegen die Rebellen in der nordkaukasischen Republik Tschetschenien eingeleitet, die für staatliche Unabhängigkeit von Russland kämpften. Unmittelbar ausgelöst wurde dieser sogenannte zweite Tschetschenienkrieg durch den Einfall tschetschenischer Extremisten in der kaukasischen Nachbarrepublik Dagestan.
In der russischen Bevölkerung löste der neue Feldzug gegen die tschetschenischen Rebellen zunächst nur wenig Verständnis aus. Der erst kurz zurückliegende erste Tschetschenienkrieg, der mit einem mühsam zustande gekommenen Waffenstillstand endete, war noch in unguter Erinnerung. Doch die grauenvollen Sprengstoff-Attentate gegen zivile Wohnhäuser in verschiedenen Städten änderten die Stimmung. Putin gelang es, mit martialischer Rhetorik und rücksichtslosem Gewalteinsatz gegen die abtrünnige Kaukasusrepublik, deren Führung heillos zerstritten war, in der russischen Bevölkerung breite Unterstützung für seine Politik zu mobilisieren und damit auch seine Wahl zum neuen Präsidenten zu sichern.
Dubiose Geheimdienst-Übung in Rjasan
Dennoch waren damals in Russland, wo es Ende des vorigen Jahrhunderts noch weitgehende Meinungs- und Medienfreiheit gab, auch skeptische Stimmen gegen den neuen Kaukasuskrieg und Zweifel an der Urheberschaft der Wohnhaus-Attentate zu vernehmen. Diese Zweifel konzentrierten sich in erster Linie auf einen dubiosen Vorfall vom 22. September 1999 in der Stadt Rjasan, rund 150 Kilometer östlich von Moskau. Dort hatte ein Bewohner eines 13-stöckigen Wohnhauses in der Nowosylow-Strasse zwei Männer beobachtet, die schwere Säcke in den Keller schleppten. Er meldete das der lokalen Polizei. Experten stellten fest, dass die Säcke den Sprengstoff Hexogen enthielten. Tausende von Bewohnern in den umliegenden Häusern wurden evakuiert und die Strassen abgesperrt. Die Polizei verhaftete zwei verdächtige Terroristen, doch diese wiesen sich als Mitarbeiter des Geheimdienstes FSB aus und wurden umgehend wieder entlassen.
Zwei Tage nach dem Vorfall erklärte der FSB-Chef Nikolai Patruschew, dass es sich bei dem Ereignis in Rjasan um eine Übung des Geheimdienstes gehandelt habe. Die im Keller des Wohnhauses beschlagnahmten Säcke hätten bei genauer Prüfung keinen Sprengstoff, sondern Zucker enthalten. Einige Zeit später veröffentlichte die regierungskritische Zeitung «Nowaja Gaseta» (sie ist seit Beginn des Ukraine-Krieges in Russland verboten) ein Interview mit dem Sprengmeister Juri Tkatschenko, der in Rjasan den Zeitzünder, mit denen die verdächtigen Säcke verbunden waren, entschärft hatte. Tkatschenko beharrte darauf, dass es sich bei der Zündvorrichtung keineswegs um eine Attrappe, sondern um ein funktionierendes militärisches Gerät gehandelt habe. Auch die aus den Säcken aufsteigenden und mit einem Messgerät geprüften Gase hätten auf die Präsenz des Sprengstoffes Hexogen verwiesen.
Die dubiose «Sprengstoff-Übung» der Sicherheitskräfte, die sich vor 25 Jahren in Rjasan ereignete, ist nie restlos aufgeklärt worden. Deshalb sind die Spekulationen, dass damals auch bei den anderen Anschlägen auf russische Wohnhäuser der Geheimdienst und damit die von Putin geführte Regierung die Hände im Spiel hatten, nie ganz verstummt. Eine vom Duma-Abgeordneten und Menschenrechtskämpfer Sergei Kowaljow angestrebte Untersuchung über die Hintergründe dieser Anschläge verlief im Sande, weil die Regierung es ablehnte, Auskünfte zu bestimmten Fragen zu erteilen.
Putins mafiöse Praktiken
Kein Wunder, dass nach dem Terror-Massaker vom 22. März in Moskau und den Fragen nach dessen Hintergründen die Erinnerungen an die mysteriöse Anschlagsserie zu Beginn von Putins Machtaufstieg im Jahre 1999 und vor allem an die seltsame Geheimdienst-«Übung» in Rjasan in einigen Köpfen innerhalb und ausserhalb Russlands neu belebt worden sind. Putin, der damals neue politische Führer Russlands, der seine Karriere als langjähriger Geheimdienst-Agent begonnen hatte, sitzt immer noch an der Kremlspitze und hat sich soeben für eine weitere sechsjährige Amtszeit wählen lassen.
Ist es denkbar, dass das fürchterliche Attentat auf die Moskauer Konzerthalle nicht allein vom islamistischen IS und den verhafteten mutmasslichen tadschikischen Tätern verübt wurde, sondern dahinter auch mit dem Putin-Regime verbundene Kräfte involviert sein könnten? Völlig undenkbar sind solche finsteren Verbindungen zumindest für jene Beobachter nicht, die Putin nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre und vor allem seit dem mörderischen Überfall auf die Ukraine jede mögliche Skrupellosigkeit zur Befriedigung seines expansiven Machttriebes zutrauen.
Putin selber ist nicht davor zurückgeschreckt, die mögliche Verantwortung für den jüngsten Moskauer Terroranschlag ohne jeden Beweis der von ihm überfallenen Ukraine zuzuordnen. Deshalb ist es auch gerechtfertigt, den zynischen Ankläger nicht grundsätzlich von der Mittäterschaft auszuschliessen. Denn anders als bei seinen haltlosen Vorwürfen gegen die angebliche «Nazi»-Regierung in Kiew gibt es im Falle Putins konkrete Indizien für seine mafiösen Praktiken. Ein Indiz in diesem Zusammenhang ist die angebliche Geheimdienst-«Übung» von Rjasan im Jahre 1999.