Schweizerinnen und Schweizer arbeiten durchschnittlich nur noch 31 Stunden pro Woche. Das wird zunehmend zum Problem. Ohne ein neues, allgemein geteiltes Verständnis für die soziale Notwendigkeit von Erwerbsarbeit wird es nicht gehen.
Zum unerschütterlichen Selbstbild der Schweiz gehört die Gewissheit, ihre Bevölkerung zeichne sich aus durch eine besonders hohe Arbeitsamkeit. Mit Unverständnis schaut man etwa auf den Nachbarn Frankreich mit seiner gesetzlich festgelegten 35-Stunden-Woche. Das schweizerische Arbeitsethos ist identitätsstiftend, und zwar so sehr, dass es am stärksten von Zugewanderten hochgehalten wird. Mit entsprechender Überanpassung versuchen sie oftmals, die so schwer erreichbare Zugehörigkeit zur Schweiz zu erringen.
Mit den Fakten hat der Mythos der herausragenden Schweizer Arbeitsmoral allerdings schon seit Längerem nicht mehr viel zu tun. Bei der Jahresarbeitszeit liegt die Schweiz unter dem europäischen Mittelwert. Sie rangiert mit durchschnittlich 1495 Stunden knapp vor Frankreich (1402 Stunden) und immerhin deutlich vor dem Schlusslicht Deutschland (1332 Stunden).
Im 19. und 20. Jahrhundert war die Reduktion der Arbeitsbelastung durch Abbau der Wochenarbeitszeit sowie Einführung von allmählich wachsenden Ferienansprüchen eine grosse sozialpolitische Errungenschaft. Diese ging Hand in Hand mit dem Anstieg der industriellen Produktivität und stützte die letztere, indem sie Gesundheit, Zufriedenheit und Leistungswillen der Arbeitenden förderte.
Wie es scheint, steht es in der heutigen Arbeitswelt mit Gesundheit, Zufriedenheit und Leistungswillen nicht zum Besten. Vor allem bei den Gutverdienenden zeigt sich ein Trend zur Teilzeitarbeit. Der Gründe sind viele: Wunsch nach komfortablerer Work-Life-Balance, Ausweichen vor Stress oder unzuträglichem Betriebsklima, aber auch Familienpflichten in Haushalten mit Kindern oder andere Betreuungsaufgaben. Opportunitäten spielen ebenfalls eine Rolle: Steuerprogression und hohe Kita-Kosten machen mehr Arbeitseinkommen für einen Haushalt unter dem Strich oft uninteressant.
So ist es denn nicht verwunderlich, dass gemäss Bericht der «Sonntagszeitung» in der Schweiz die durchschnittlich geleistete Wochenarbeitszeit auf 31 Stunden gesunken ist. 1990 war man noch bei 42 Stunden. Bei den Frauen arbeitet jede Zweite Teilzeit. Und die Männer holen auf in dieser Disziplin: Bereits jeder Fünfte nutzt die Möglichkeit eines reduzierten Pensums. Zum Teil sind diese Daten Ausdruck eines gesellschaftlichen Fortschritts, indem sie die vermehrte Beteiligung der Männer an Familienarbeit spiegeln. Doch unter den Teilzeitern finden sich immer mehr auch kinderlose junge Männer und Frauen.
Der Rückgang der Arbeitsleistung hat Folgen. Deren unmittelbarste ist der immer dramatischere Fachkräftemangel. Dieser kann auch mit verstärkter Einwanderung nicht völlig aufgewogen werden, nicht zuletzt deshalb, weil mittlerweile bald ganz Europa nach Arbeitskräften sucht.
Weitere, bislang kaum thematisierte Effekte sind die Auswirkungen der geringeren Einkommen auf das Steuersubstrat und die Einzahlungen in die AHV. Auch die berufliche und private Altersvorsorge leiden unter dem Teilzeittrend; die Lücken bei den Einkommen der Pensionierten werden sich in Zukunft dramatisch bemerkbar machen.
In Diskussion ist ferner der verringerte «Return on Investment» beim Bildungssystem. Wenn Absolventinnen und Absolventen von Hochschulen später nur wenig oder gar nicht arbeiten, helfen sie kaum mit, den impliziten Generationenvertrag zu erfüllen. Ausformuliert lautet dieser: Ich erhielt vom Staat eine teure Ausbildung und leiste jetzt dank gutem Verdienst mit meinen Steuern einen Beitrag, damit der Staat weiterhin Hochschulen finanzieren kann.
Bisher ist das Konglomerat von Kompetenzen, Werthaltungen und Charaktereigenschaften, das man «Arbeitsethos» nennt, meist als persönliche Angelegenheit oder private Tugend betrachtet worden. Das war schon immer zu kurz gegriffen, und es wird den Umständen in der heutigen wirtschaftlich-gesellschaftlichen Lage definitiv nicht mehr gerecht.
Die Einstellung der Einzelnen zur Arbeit ist ein sozialpolitischer Faktor von erstrangiger Bedeutung. Es wird Zeit, das Thema Arbeitsethos zu entprivatisieren. Erwerbsarbeit als fakultative Option, die nach ausschliesslich individuellen Bedürfnissen und Präferenzen gewählt wird und der man bei entsprechender Möglichkeit aus dem Weg gehen kann? Was für ein paar seltene Dandys vielleicht als Lebensmodell taugt, wäre als allgemeiner Trend verheerend. Auch Utopismen wie die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens zielen in die falsche Richtung. Eine Gesellschaft mit vielfältigen sozialen Leistungen funktioniert nur, wenn die Arbeitsfähigen ihren Beitrag leisten. Dieser Zusammenhang muss (wieder) im Common Sense ankommen.