
Der am 13. September in Rolle am Genfersee gestorbene Regisseur hat eine Reihe klassisch gewordener Filme geschaffen. Seine artistische Hinterlassenschaft ist durchdrungen vom unablässigen Forschen nach der transzendenten Dimension des Filmbildes.
Vor dem Fernseher sitzend würde das Publikum den «Kopf senken», hatte Godard einst in einem seiner inspirierten Aphorismen gesagt, während man im Kino den Kopf zu heben pflege. Eine der bewegendsten Illustrationen dieser Sentenz, in der wohl nicht von ungefähr auch die Idee der Andacht mitschwingt, findet sich in Godards «Vivre sa vie», in dem die angehende Prostituierte Nana (Anna Karina) ihre Augen im Kinosaal auf die Nahaufnahmen von Renée Falconetti heftete, die unter der Regie Robert Bressons eine unvergessliche Jeanne d’Arc spielte.
Dieser unbedingte und stets ungebrochen gebliebene Glaube an die Macht des Kinobildes ist vielleicht die die einzige Konstante in Godards Schaffen, das sich während einer Zeitspanne von über sechzig Jahren (also ziemlich genau der Halbwertszeit der Filmgeschichte) in einmaligem Elan jeweils neu erfand.
Ebenso facettenreich waren auch die diversen Stimmungslagen, die seine Werke prägten: Seine Filme konnten witzig sein, aber auch bleiern, enigmatisch und zugleich didaktisch, provokativ und geistreich. Wobei er den Zuschauern die Pointen, das Barthes’sche Punctum, trotz aller formaler, sich bisweilen im Formalismus verlierenden Virtuosität stets zu liefern wusste: Sei’s im Schlusssatz von «À bout de souffle» (1960), in dem die in die Kamera blickende Jean Seberg fragt, was «déguelasse» heisst, und gleichsam nebenbei die abyssale Einsamkeit von Antonionis Figuren vorwegzunehmen scheint, sei’s in seiner letzten, digital abgehaltenen Pressekonferenz in Cannes (2018), in der er orakelhaft auf den iPhone-Bildschirmen erschien, die in den Händen der Journalisten unvermutet an Kubricks Monolithe erinnerten.
Anspruch der Zeitgenossenschaft
Der Dialog mit der technologischen Entwicklung der filmischen Aufnahmegeräte war vermutlich unabdingbar angesichts seines Anspruchs, die Symptome seiner Zeit zu erfassen. Rückblickend lässt sich jedenfalls feststellen, dass ihm wohl keine Innovation entgangen war, die seiner Arbeit dienlich sein könnte — vom «schnellen» Filmmaterial, das ihm in den sechziger Jahren ermöglichte, Aussenaufnahmen ohne Kunstlicht zu realisieren, bis zum Computer, an dem er die Sequenzen seines «Le livre d’image» komponierte (dass ihm die Hand für die visuelle Gestaltung relevant erschien, zeigte sich bereits in den 1970er-Jahren, als er sich für die von Aaton entwickelte Miniaturkamera «Paluche», eine Vorgängerin des DV-Formats, interessierte).
Zum Selbstzweck degradierte er die Technik allerdings nie. Die Slow-Motion-Aufnahmen in der Eingangssequenz von «Sauve qui peut (la vie)» (1979) wurden zur Epiphanie, in der er die Erinnerung an seine Jugendjahre hochsteigen liess, während die «asynchronen» 3D-Bilder in «Adieu au langage» (2014) die Tautologie des Filmbildes unterliefen, um sich in ästhetischen Randzonen zu verlieren. Die grobkörnigen, zugleich jedoch auch aquarellartig fliessenden Bildfolgen in «Histoire(s) du cinéma» (1998) und «Éloge de l’amour» (2001) waren wiederum der VHS-Ästhetik geschuldet, die das Alterswerk in ein adäquates Dämmerlicht tauchte.
In seinem kreativen Furor hat er neben den Bonmots und visuellen Trouvaillen auch Sätze und Bilder hinterlassen, die irritieren können. Die Frauenporträts, bis in die 1980er-Jahre ein beliebtes Motiv in Godards Schaffen, sind meist von grosser soziologischer Schärfe, doch paradoxerweise oft auch von einer soliden Misogynie durchzogen. Seine Kommentare zu Israel und generell dem Judentum, etwa in seiner Parallelmontage von Golda Meir und Hitler in «Ici et ailleurs» (1974), situieren sich, höflich gesagt, am Nullpunkt des Denkens. Auch sein politisches Engagement, oft changierend, ist nur selten nachvollziehbar – bis zu seiner Kritik an Selenskyjs Intervention am diesjährigen Festival von Cannes: der Fusstritt gegen den «schlechten Schauspieler», der den Ansprüchen einer «westlichen Ästhetik» genüge, hätte auch aus dem Kreml stammen können.
Interessanter ist bestimmt die Frage nach seiner artistischen Hinterlassenschaft, von der er sich – auch dies ein Paradox – just in jenem Moment zu verabschieden schien, in dem sie vom «Weltkino» auf verblüffend konsensuelle Weise adoptiert wurde. Von «New Hollywood» bis Quentin Tarantino (der seine Produktionsfirma nach Godards «Bande à part» benannt hatte), vom brasilianischen «Cinema Novo» bis zum chinesischen Filmschaffen der Gegenwart sind die Bezüge zu Godards Frühwerk unübersehbar – auch wenn der Maître von Rolle keinen seiner selbsternannten Erben je als legitimen Nachfolger anerkennen wollte.
Filmischer Dialog mit Kunst- und Weltgeschichte
Teils war diese Flucht in die Einsamkeit vermutlich seinem Hang zuzuschreiben, die Brücken hinter sich abzureissen: Sein Credo, dass die Kunst nur im Dialog mit einer singulären Wirklichkeit, beziehungsweise Wahrnehmung entstehen kann, liess ihn die ästhetischen Formen, die einst ihre Aktualität besassen, im Namen einer dialektischen Kritik später jeweils verwerfen. Teils gründete seine Abwendung von der Grammatik der «Nouvelle vague» jedoch auch auf seinem Versuch, sein Alterswerk auf einem (filmspezifischen) Austausch mit der Kunst- und Weltgeschichte aufzubauen.
Auf diesem mäandernden Weg hat er viele Zuschauer verloren. Wer genau hinsah, wurde jedoch mit leuchtenden, von fulminanten Intuitionen getragenen Sequenzen belohnt, die die steinernen Momente seiner Produktionen mühelos vergessen liessen. In der «Auferstehungsszene» in «Nouvelle Vague» (1990) bereits angetönt, wurde die Frage nach der transzendenten Dimension des Filmbildes insbesondere in den monumentalen «Histoire(s) du cinéma» zum Prüfstand, auf dem sich ein breiter Fundus der Filmgeschichte zu verantworten hatte.
Wie hatte sich das Kino den Katastrophen des 20. Jahrhunderts gestellt? «Le cinéma regarde le passé et ainsi re-garde ce qui s’est passé» zählt zu den Sätzen, mit denen er die Kunstform in die Pflicht nahm und in einer komplexen Montage mit historischen Aufnahmen und Zeitdokumenten kollidieren liess. Das Fazit, das «JLG» nach den in einem zehnjährigen Arbeitsprozess hergestellten «Histoire(s)» zog, war nichtsdestoweniger durchzogen: Trotz seiner «seherischen» Fähigkeiten hatte der Film weder die deutschen Lager noch den Gulag erahnen können.
Auch die letzten Arbeiten sind in erster Linie einer sorgfältig austarierten Schnitttechnik geschuldet, die den literarischen Zitaten, Versatzstücken aus der Kunstgeschichte und visuell übersättigten Natursequenzen seine mit den Jahren immer brüchiger klingende Stimme unterlegte: Wenn sich hier ein Glaube ausmachen liess, müsste man diesen vermutlich in der Nähe des Pantheismus ansiedeln. Nach und nach schien sein Pessimismus jedoch selbst den Bildschirm einzuschwärzen. Warum drehte er dennoch stets weiter? Bis in seine letzten Tage arbeitete er, die Kamera am Ende kaum mehr aus der eigenen Wohnung richtend. «Bon qu’à ça», hätte er mit Beckett antworten können, vermutlich aber auch, weil er sich seiner Verantwortung bewusst war: «Das Einzige, was eine Epoche überdauert», schrieb er 2018 anlässlich einer der seltenen öffentlichen Vorführungen von «Le livre d’image», «ist die Kunstform, die sie sich geschaffen hat».