Wolfgang Schäuble ist tot. Der «ewige Schäuble», Parlamentarier so lang wie kein anderer vor ihm, starb am Dienstag mit 81 Jahren. Ein Leben mit Höhen und Tiefen, Triumphen und Katastrophen. Ein Leben für die Politik, für Demokratie und Verfassungstreue.
Politiker – schon gar «Berufspolitiker» – geniessen in Deutschland gemeinhin keinen sonderlich guten Ruf. Inkompetenz, Faulheit, Raffgier, Machthunger, Realitätsferne – die Liste der negativen Stereotypen in Richtung derer «da oben» könnte mühelos noch beträchtlich verlängert werden. Dabei lässt die übergrosse Zahl der Kritiker geflissentlich ausser Acht, dass die Parlamente im Grunde doch die Gesellschaft als solche widerspiegeln sollten. Aber wen kümmern solche demokratie-theoretischen Feinheiten schon, wenn Platz geschaffen werden soll für persönliche Wut? Natürlich gibt (und gab) es auch im Deutschen Bundestag immer fragwürdige Figuren. Aber es gab genauso stets Persönlichkeiten von herausragender Bedeutung. Eine solche Persönlichkeit war Dr. Wolfgang Schäuble.
Schäuble führte ein Leben für die Politik. Ein Leben ohne Politik konnte er sich nicht vorstellen. Im Rahmen dessen war er ein «homo politicus» mit allen Vorzügen, aber auch mit manch unnötigen Kanten. Mit feinfühliger Mitmenschlichkeit, doch auch mit brutaler Härte und rücksichtsloser Durchsetzungswucht, wenn es ihm darum ging, Dinge zu realisieren, von deren Notwendigkeit für Staat und Gesellschaft er (nach zumeist langen, gründlichen Überlegungen) überzeugt war. Dann allerdings schonte er weder Gegner, noch sich, noch – wenn es sein musste – die Interessen der eigenen (christdemokratischen) Partei. Keine Frage – in seinen 51 Parlamentarierjahren hat Wolfgang Schäuble Geschichte geschrieben.
Am Anfang stand der Sport
Die früheste Begegnung mit dem 1972 erstmals – und zwar als direkt Gewählter – in den damals natürlich noch in Bonn residierenden Bundestag eingezogenen jungen Abgeordneten aus dem badischen Offenburg trug sich zufällig auf einem Zwischengang in der CDU-Parteizentrale im Konrad-Adenauer-Haus zu. Wie alle parlamentarischen Nobodies hatte sich natürlich auch Schäuble bei der Verteilung der Posten und Pöstchen zunächst einmal hintanstellen müssen – dort, wo die weniger wichtigen Ressorts vergeben wurden. So wie etwa der parteiinterne Sportausschuss. Aber da waren gerade die Olympischen Spiele von München vorüber mit ihren Triumphen und Enttäuschungen, aber auch dem schrecklichen Attentat auf israelische Sportler und dem Versagen der deutschen Sicherheitsorgane. Kurzum, der Sport stand mit einem Mal ganz oben, und Schäuble eilte an die Spitze der Bewegung. In diesem Fall mit der Organisation eines umfangreichen sportpolitischen Kongresses. Und da kam ihm ein Journalist mit einem Intervievwunsch natürlich gerade recht.
Schäuble war lange Zeit selber ein begeisterter Sportler. Kein Spitzenathlet, aber ein guter Tennisspieler und auch sonst flink auf den Beinen. Als Sportler will man gewinnen, ist ehrgeizig und hartnäckig. Eben genau so, wie der Mann aus dem Badischen. Bei Schäubles erstem Einzug in den Bundestag hatte gerade der Sozialdemokrat Willy Brandt die SPD erstmals in der bundesdeutschen Geschichte zur stärksten Fraktion gemacht. Der gefeierte Kanzler wurde zudem mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Das hat den gerade der Jungen Union entwachsenen Mann vom Fusse des Schwarzwalds – wie er später schmunzelnd erzählte – «masslos gewurmt und angetrieben». Aber es brauchte noch lang, bis «seine Zeit» kommen sollte.
Ein politisches Traumpaar
Nämlich noch ziemlich genau zehn Jahre, bis zum Scheitern der rot-gelben Koalition Helmut Schmidt - Hans-Dietrich Genscher im Herbst 1982. Noch heute hält sich weithin die Mär, Schmidt sei das Opfer des freidemokratischen Verrats. Richtig ist, dass die FDP seinerzeit die von der SPD geforderte, ausgabenfreudige Sozialpolitik nicht weiter mittragen wollte. Einen solchen Stopp hatte allerdings auch Schmidt selber verlangt und gleichzeitig in einer dramatischen Rede vor seiner Fraktion eingeräumt, «dass ich das mit Euch nicht machen kann». Mindestens genauso entscheidend für das sozialliberale Regierungs-Ende aber war natürlich die Tatsache, dass die SPD die von Helmut Schmidt in der Nato initiierte Nachrüstungspolitik mit der Androhung eigener atomarer Mittelstreckenraketen ablehnte und dem eigenen Kanzler scharenweise davonlief. Erst sehr viel später, in einer Rede im Bundestag, räumte Willy Brandt dies als «Irrtum» ein.
Durch ein «Konstruktives Misstrauensvotum» und – ein halbes Jahr später – vorgezogene Neuwahlen wurde jedenfalls Helmut Kohl bundesdeutscher Regierungschef in einer Koalition mit Genschers FDP. Das war der Start für ein Männer-Duo, das fortan bis in die hohen 1990er Jahre als eine Art politisches Traumpaar angesehen wurde – und ein solches lange auch war. In dem Badener Schäuble hatte der Pfälzer Kohl einen nicht nur fleissigen, intelligenten und zupackenden, sondern – vor allem – absolut treuen und loyalen Knappen. Und es war allen Beobachtern der damaligen Bonner Szene klar, dass aus dem Knappen eines Tages der Kronprinz erwachsen und (entsprechender Wählerwille vorausgesetzt) auch der nächste Regierungschef werde. So legte es der «schwarze Riese von der Pfalz» tatsächlich auch in einer Erklärung in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre auf dem Leipziger CDU-Parteitag, unter dem Beifall der Delegierten, fest. Aber dann traute der früher immer so instinktsichere Kohl seinem Favoriten plötzlich nicht mehr zu, die Bundestagswahl 1998 für CDU und CSU zu gewinnen und trat stattdessen selbst noch einmal an. Das Ergebnis ist bekannt: Die Union verlor, die 16 Jahre währende Ära Kohl war beendet, das bis dahin enge Freundschaftsverhältnis zwischen den beiden Männern hatte einen ersten Knacks bekommen.
Das Attentat 1990
Doch was war dazwischen alles geschehen? Was war – nicht zuletzt durch die beiden – nicht alles bewirkt worden? Der ehrgeizige und fleissige Wolfgang Schäuble hatte sich ziemlich schnell zu einem Politiker entwickelt, den man jederzeit in jede Debatte schicken konnte. Ob Pflegeprobleme oder Rentenpolitik, Innere Sicherheit oder Verteidigungsfragen, ob Aussenpolitik oder Abrüstung – Schäuble wusste Bescheid. Und wer ihm nicht Paroli bieten konnte, durfte froh sein, wenn er (natürlich verbal) nicht verprügelt wurde. Möglich, dass Helmut Kohl als «Kanzler der deutschen Einheit» in die Geschichtsbücher eingehen wird. In gewissem Masse sicher zu Recht, denn er setzte die nationale Frage mit einer ungewöhnlichen Konsequenz gegen mannigfaltigste Widerstände durch. Doch der Feinmechaniker beim Installieren des unter unglaublichem Zeitdruck entstehenden Räderwerks von Verträgen, Abmachungen, Kompromissen und Rechtsangleichungen – dieser Feinmechaniker hiess Wolfgang Schäuble. Wobei noch der CSU-Mann und damalige Finanzminister Theo Waigel genannte werden müsste.
Schäuble hat Kohl immer die Stange gehalten. Auf jedem Posten und in jedem Amt auf den und in das ihn der «Dicke» setzte. Das blieb auch so nach dem einschneidendsten Ereignis, durch das sich das Leben des Mannes grundlegend veränderte: Das Attentat vom Oktober 1990, bei dem ein geistesgestörter Mann drei Schüsse auf Schäuble abfeuerte, die ihn so verwundeten, dass er zeit seines Lebens querschnittgelähmt an den Rollstuhl gefesselt wurde. Doch mit eisernem Willen kämpfte er sich den Weg ins Leben zurück – vor allem ins politische Leben. Es gab nicht wenige seiner Freunde, die behaupteten, es sei vor allem die Leidenschaft zur Politik gewesen, die ihm diese Kraft eingeimpft habe.
Unerfüllter Herzenswunsch
Der Mann aus der Ortenau hat, ohne Zweifel, manche gefährlichen Tiefen überwinden müssen aber auch glorreiche Höhen in diversen Kabinetten und an der Spitze seiner Fraktion erklommen – nur sein Herzenswunsch blieb ihm versagt. Nämlich die Kanzlerschaft mit der Chance, regieren zu können im Sinne des Grundgesetzes zum Wohle des wiedervereinigten Deutschlands und seiner Bürger. Nach ethischen, einem modernen Christentum verpflichteten Grundsätzen, aber trotzdem konservativen Werten wie Grundsatztreue, Zuverlässigkeit, Solidarität, Eigenverantwortung und Eigenverantwortlichkeit. Doch entweder war jemand (Kohl) zu lange vor ihm, oder (Merkel) seine hohe Zeit war mit der 2000er Zeitenwende abgelaufen. Aber darüber klagte er nie. Wenigstens nicht öffentlich. Nur dass seine Freundschaft mit Kohl letztlich total zerbrach, an einer miesen Parteispenden-Affäre – das hat der badische Protestant nie verwunden. Die Verbitterung darüber sass so tief, dass Wolfgang Schäuble nicht einmal an der Beerdigung seines einstigen grossen Vorbilds teilnahm. Manche Zeitzeugen meinten, in diesem Verhalten auch so etwas wie eine pietistische Selbstgerechtigkeit des Badeners zu erkennen …
Bei der Wahl zum nächsten Bundestag wäre Wolfgang Schäuble nicht noch einmal angetreten. Seine politische «Abkühlzeit» als Bundestagspräsident bis 2021, also immerhin als zweithöchster Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland, hatte er noch erkennbar genossen. Ebenso wie die Gelegenheiten, bei denen er (der Bundestagssenior) dem parlamentarischen Jungvolk zumeist kluge Ratschläge erteilen konnte.
Mit Wolfgang Schäubles Tod ist die Zahl von Deutschlands wirklich bedeutenden politischen Köpfen wieder ein Stück kleiner und überschaubarer geworden.