Sieben Jahre nach der heiss umkämpften Brexit-Abstimmung und gut drei Jahre nach dem offiziellen Austritt aus der EU bedauert heute eine deutliche Mehrheit der Briten diese Entscheidung. Die phantastischen Versprechungen der Brexit-Propagandisten und ihres Anführers Boris Johnson haben sich als hohle Illusionen erwiesen. Eine Prise Schadenfreude kann man den Nachläufern dieses Rattenfängers nicht ersparen.
Gestützt auf aktuelle Resultate mehrerer Umfrage-Institute hat der «Economist» unlängst berichtet, dass heute 60 Prozent der britischen Bevölkerung enttäuscht sind über den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Gemeinschaft. 2016 hatten in einem leidenschaftlich umkämpften Referendum 52 Prozent der Abstimmenden für diesen Schritt gestimmt, 48 Prozent dagegen. Die meisten unter denjenigen, die sich damals aus irgendwelchen Gründen nicht am Referendum beteiligten, würden heute entschieden für einen EU-Verbleib stimmen, schreibt der «Economist».
Geplatzte Aufschwung-Träume
Ein anderer Faktor für den Meinungsumschwung sei der Umstand, dass 2016 ältere Bürger mehrheitlich für den EU-Ausstieg und jüngere mehrheitlich für «Remain» votiert hätten. Inzwischen hat sich der Anteil dieser älteren «Leave»-Anhänger natürlicherweise verringert. Selbst Nigel Farrage, der zeitweise schärfste Antreiber eines EU-Ausstiegs und frühere Vorsitzende der UK Independent Party (UKIP) hat im Mai eingestanden, Brexit habe sich als Fehlschlag erwiesen.
Die Gründe für den Katzenjammer sind nicht schwer zu erkennen. Seit dem formellen EU-Austritt vor dreieinhalb Jahren haben sich die wirtschaftlichen Probleme in Grossbritannien in mancher Hinsicht verschärft. Das Wachstum ist unbedeutend, die Inflation und die Zinssätze sind höher als in den meisten europäischen Ländern, die Realeinkommen sind gesunken, die Netto-Einwanderung hat zugenommen. Vor allem aber haben sich die hochfliegenden Versprechungen, die die Brexit-Propagandisten dem Volk vorgegaukelt hatten, als naive Träume entpuppt.
Boris Johnsons Lügen-Bus
Das krasseste Beispiel für solche Irreführungen ist wohl der rote Bus, mit dem der damalige Brexit-Trommler Boris Johnson im Lande herumfuhr und auf dem in Riesenlettern prangte, beim EU-Ausstieg würden jede Woche 350 Millionen Pfund zugunsten des Nationalen Gesundheitsdienstes (NHS) herausspringen. Aus diesem schönen Geldregen ist nichts geworden, der NHS steckt heute tiefer in der Krise als zuvor. Johnson aber konnte sich mit seinen Brexit-Lügen und dem Schlachtruf «Get Brexit Done» zum konservativen Regierungschef katapultieren. Er gewann Ende 2019 die Unterhauswahlen mit einer phänomenalen Mehrheit.
Drei Jahre später aber war seine von Skandalen und falschen Hoffnungen umbrandete Zickzack-Parade als Prime Minister wieder zu Ende. Er musste schmählich abtreten und die Downing-Street-10-Residenz zugunsten einer konservativen Parteifreundin, Liz Truss, räumen. Diese entpuppte sich als noch inkompetenter als der Schaumschläger Johnson. Schon nach vier Monaten übernahm der vergleichsweise nüchternere, und solidere Rishi Sunak, Spross einer indischen Einwandererfamilie, das Regierungs-Szepter im Königreich.
«Singapur an der Themse» als Fata Morgana
Ein Quentchen Schadenfreude über den Brexit-Hangover kann man zumindest jenen britischen Stimmbürgern nicht ersparen, die vor sieben Jahren dem Demagogen Boris Johnson und seinem Tross von Anti-EU-Ideologen auf den Leim gekrochen waren. Was hatten diese «Leave»-Aktivisten nicht alles an grossartigen Zukunftsszenarien an die Wand gemalt! Das Königreich werde zu einem «Singapur an der Themse», ein Magnet für internationale Investoren mit steilem Wirtschaftswachstum. Befreit von den Regeln und Zwängen der Brüsseler Bürokratie werde Grossbritannien wirtschaftlich zu neuen Ufern aufbrechen und die EU auf der Überholspur hinter sich lassen. Von solcher Rhetorik ist heute auch von den glühendsten Brexit-Hardlinern in den Reihen der Konservativen nichts mehr zu hören.
In der Hoffnung, diese Quertreiber in der eigenen Partei endlich zum Schweigen zu bringen, hatte sich der frühere Premier David Cameron dazu verleiten lassen, ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft durchzuführen. Doch sein Kalkül wurde für Cameron zum Rohrkrepierer, der seinem Rivalen Boris Johnson zum Triumph beim Brexit-Referendum und bald darauf zum Aufstieg als Regierungschef verhalf.
Labour hält sich zurück
Die allseitige Ernüchterung über den Brexit bedeutet indessen keineswegs – das betont auch der «Economist» –, dass sich eine Entscheidung für einen neuen EU-Beitritt anbahnen könnte. Die Briten haben vorläufig keinerlei Lust, sich in einem weiteren jahrelangen Kampf um dieses emotionale Thema aufzureiben. Deshalb hütet sich auch der pragmatische neue Labour-Führer Keir Starmer, eine neue unpopuläre Brexit-Debatte auf seine Agenda zu setzen. Sollte er, was gegenwärtig ziemlich danach aussieht, nach der nächsten Unterhauswahl, die spätestens im Januar 2025 fällig wird, neuer Premier werden, dürfte er keine Eile haben, die Brexit-Pandora Büchse sofort zu öffnen.
So dürfte wohl das Verhältnis zwischen Grossbritannien und der EU noch auf unabsehbare Zeit hinaus zwischen partiellem politischen Interessenverbund (wie beispielsweise im Ukraine-Krieg) und wirtschaftlicher Distanzhaltung stecken bleiben. Das wird weder für die Weiterentwicklung des grossen europäischen Integrationsprojekts noch für die stotternde britische Wirtschaft von Nutzen sein.
Eine konstruktive Wirkung mag vom britische Brexit-Katzenjammer immerhin ausgehen. Er hat jene sturen Anti-EU-Ideologen im Königreich, die stets behaupteten, an allen Übeln im Land sei die EU-Mitgliedschaft schuld, wohl für längere Zeit ins Abseits manövriert.