Bundeskanzler Olaf Scholz hat rasch gehandelt. Einen Tag nach dem Rücktritt von Christine Lambrecht als Bundesverteidigungsministerin berief er den bisherigen Innenminister von Niedersachsen, Boris Pistorius (SPD), ins Berliner «Ampel»-Kabinett.
Obwohl der 62-jährige Pistorius auf dem Gebiet der Sicherheit ein ausgewiesener Experte ist, hat seine Berufung an die Spitze des Wehrressorts Überraschung ausgelöst. Nicht, weil an seinen politischen oder fachlichen Qualitäten gezweifelt würde, sondern weil damit die (von Teilen der SPD und vor allem den Grünen) mit Herzblut geschriebene geschlechtlich-paritätische Besetzung des Bundeskabinetts durchbrochen wird. Statt wie bisher acht Männer und acht Frauen werden (zumindest vorerst) künftig neun Männer und nur noch sieben Frauen die Berliner Ministerien führen.
Geschlecht vor Kompetenz?
Darin sehen freilich keineswegs nur Oppositionspolitiker keinen Nachteil. Nach den Erfahrungen mit der bisherigen Amtsinhaberin Christine Lambrecht klingt es fast wie ein Stossseufzer, wenn der stellvertretende FDP-Vorsitzende (und damit Mitglied der liberalen Koalitionspartei) Wolfgang Kubicki erklärt, endlich habe sich die SPD ihrer selbst auferlegten ideologischen Fessel entledigt, Geschlechtszugehörigkeit vor Kompetenz zu stellen. Der wie immer eigenwillig formulierende Kubicki sprach zudem eine Sorge an, die auch viele in seiner sozialdemokratischen Kollegenschaft umtreibt: «Mit der Ernennung von Boris Pistorius hat Scholz eine seiner letzten Patronen verschossen. Viel Munition besitzt er nicht mehr.»
Christine Lambrecht war lediglich 13 Monate im Amt. Dass ihre Berufung an die Spitze des traditionell als «Schleudersitz» verrufenen Verteidigungsministeriums ein Fehlgriff war, wurde nicht erst in den vergangenen Wochen erkennbar. Eigentlich hatte die an der südhessischen Bergstrasse beheimatete einstige Justiz- und Familienministerin bereits mit der Bundestagswahl im Herbst 2021 ihre politische Karriere beendet. Es wird möglicherweise ihr und des Kanzlers Geheimnis bleiben, warum sie sich trotzdem überreden liess, dieses Amt zu übernehmen. Zumal sie ja nicht einmal mehr ein Bundestagsmandat, und damit im Zweifelsfall die Rückendeckung ihrer Fraktion, besass.
Stiefkind von Politik und Nation
Es ist müssig, noch einmal die Zahl der Fettnäpfchen aufzuzählen, in die Christine Lambrecht in diesen 13 Monaten trat. Und natürlich ist ihre Rücktrittsbegründung als angebliches Opfer medialer Attacken absurd. Aber dass sie den in der Tat stets darauf lauernden Kameras und Notizblöcken nahezu wöchentlich ordentlich «Futter» gab, ist nicht zu bestreiten. Zumal sich von Woche zu Woche immer deutlicher zeigte, dass die Ministerin weder zu den Leitungsnotwendigkeiten ihres Hauses, noch – viel wichtiger – zu den Eigenheiten und dem Innenleben der Truppe ein Verhältnis aufzubauen verstand. Und genau das wäre erforderlich gewesen. Denn die einstmals hervorragend ausgestatteten und geführten Streitkräfte wurden seit den 1990er Jahren mehr und mehr zum Stiefkind sowohl der Nation als auch der Politik.
Erfüllt vom Glauben an den endlich erreichten Frieden zwischen Ost und West und an die daraus resultierende Friedensdividende sahen grosse Teile der deutschen Gesellschaft keinen Sinn mehr für die immensen Ausgaben zugunsten einer äusseren Sicherheit, die sich doch ohnehin schon dadurch ergab, «dass wir nur noch umgeben sind von Freunden». Und wenn dann – so wie der einstige sozialdemokratische Verteidigungsminister Peter Struck – jemand doch einmal mahnend den Finger hob und auf die sich zum Beispiel in Afghanistan entwickelnden Gefahren hinwies, erntete er auf breiter Front Kritik, Hohn und Spott. Das katastrophale Ende der westlichen (und damit auch deutschen) Mission am Hindukusch wurde daheim allenfalls achselzuckend verfolgt. Sichtbarer Höhepunkt der öffentlichen Missachtung war, dass kein einziger Repräsentant des Staates anwesend war, als die uniformierten Männer und Frauen aus Kabul kommend in Deutschland landeten. Ausdruck einer weit verbreiteten öffentlichen Meinung: Wozu benötigen wir noch das Militär, wichtig ist vor allem «das Soziale».
Nur noch Nebensache
Wenn sich jetzt, da vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs der ganze trostlose Zustand der über drei Jahrzehnte kaputt gesparten Bundeswehr für jedermann sichtbar geworden ist, die bestimmenden Parteien des Bundestages gegenseitig die Schuld zuschieben, wirkt das nur noch peinlich. Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts und der deutschen Wiedervereinigung zu Beginn der 1990er Jahre haben aktive Aussen- und aufmerksame Sicherheitspolitik in Deutschland eine zunehmend unwichtige Rolle gespielt. Bei allen Parteien. Tatsächlich war der Sozialdemokrat Peter Struck der letzte Verteidigungsminister, der wirklich diesen Namen verdiente. Ob danach die Christdemokratin und aktuelle EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, ob der eitle CSU-Mann Karl-Theodor von und zu Guttenberg oder die kurzzeitige CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer – alle liessen zu oder halfen gar dabei mit, dass die Bundeswehr in ein Abbruchunternehmen umgewandelt wurde.
Und jetzt Boris Pistorius. Es könnte sein, dass sich dessen Versetzung aus dem Innenministerium in Hannover auf den Sessel des Verteidigungsministers als ein Glücksgriff für Scholz erweist. Als langjähriger Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Osnabrück und anschliessender Chef des niedersächsischen Innenressorts hat Pistorius profunde Kenntnisse von Verwaltung, aber auch über die Probleme der Sicherheit – wenn auch vor allem der inneren Sicherheit – angeeignet. Im Kreise seiner Kollegen aus den anderen Bundesländern werden seine einerseits umsichtige und ruhige, andererseits aber auch zupackende Art gerühmt. Dennoch wird sein Erfolg (oder Misserfolg) weitgehend davon abhängen, welche Zusagen er dem Kanzler vor der Amtsübernahme abgerungen hat. Pistorius hat keine Zeit, um sich einzuarbeiten. Schon am Freitag findet auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein in der Pfalz ein Treffen mit Amtskollegen statt, bei dem es um die weitere konkrete westliche Hilfe für die von Russland überfallene Ukraine geht. Nicht zuletzt um die Lieferung deutscher Leopard-2-Panzer.
Salto rückwärts in der Sicherheitspolitik?
In der «alten» Zeit, also der des Kalten Krieges, war der Verteidigungsminister einer der wichtigsten Ressortchefs in der Bundesregierung. Die Situation heute ist gewiss noch nicht mit «damals» vergleichbar. Dennoch wird (und muss) sich an der Person Pistorius zeigen, ob die deutsche Gesellschaft schon verinnerlicht hat, dass sich mit dem russischen Überfall auf die Ukraine vor einem Jahr die Welt verändert hat. Und dass in der politischen Gewichtung Aussen- und Sicherheitspolitik wieder nach ganz oben rücken müssen. Dem neuen Verteidigungsminister werden Beharrungs- und Durchsetzungsvermögen nachgesagt. Aber bei deren Umsetzung müssen der Kanzler, die sozialdemokratische Partei und die ganze Koalition mitmachen. Sonst könnte diese Personalentscheidung wirklich des Kanzlers «letzter Schuss» gewesen sein.