Ob ihr Vorgänger und Förderer sich das so vorgestellt hat? Luiz Inácio Lula da Silva, Brasiliens populärstes Staatsoberhaupt aller Zeiten, hatte nicht bloss im Alleingang in seiner Arbeiterpartei die Kandidatur von Dilma Rousseff durchgesetzt, er war auch ihr eifrigster Wahlhelfer. Die kühle Technokratin bot in seinen Augen am ehesten Gewähr, dass seine erfolgreiche Politik fortgesetzt würde. Und bei ihr konnte er damit rechnen, auch als Präsident a.D. mit Wünschen und Vorschlägen auf ein offenes Ohr zu stossen.
Der charismatische Vollblutpolitiker redete denn auch bei der Regierungsbildung ein gewichtiges Wort mit. Seinem Einfluss dürfte es hauptsächlich zuzuschreiben sein, dass der frühere Finanzminister Antonio Palocci nicht bloss Rousseffs Wahlkampagne koordinierte, sondern auch ihr Kabinettschef wurde.
Schneller Reichtum ohne Erklärung
Allerdings nur für gut fünf Monate. Dieser Tage musste der starke Mann an der Seite der Präsidentin seinen Sessel räumen, nachdem er der illegalen Bereicherung bezichtigt worden war. Die Tageszeitung „Folha de São Paulo“ hatte enthüllt, dass Palocci als Abgeordneter sein Vermögen zwischen 2006 und 2010 durch Beratermandate um das Zwanzigfache auf umgerechnet beinahe 11 Millionen Franken vermehrt habe.
Wie er genau zu diesem Reichtum gekommen war, konnte oder wollte der Kabinettschef nicht auf glaubwürdige Weise erklären. Obwohl die Generalstaatsanwaltschaft das Verfahren gegen ihn nach kurzer Zeit einstellte, bat Palocci um Entlassung. Es war seine zweite Demission von einem Spitzenamt: 2006 zwangen ihn Korruptionsvorwürfe, als Finanzminister zurückzutreten.
Aller guten Dinge sind drei
Auch wenn Rousseff sein Ausscheiden öffentlich bedauerte: Sie dürfte darüber nicht bloss unglücklich gewesen sein. Sein Abgang bot ihr die Chance, im zweiten Anlauf den nach dem Präsidentenamt zweitwichtigsten Posten in der Regierung mit einer Person ihrer Wahl zu bekleiden - und Eigenständigkeit zu demonstrieren. Sie entschied sich für ihre Parteikollegin Gleisi Hoffmann, die im vergangenen Jahr als erste Frau im Bundesstaat Paraná mit einem absoluten Spitzenresultat zur Senatorin gewählt wurde.
Die 45-jährige Anwältin gehört zwar nicht wie ihr Vorgänger zum politischen Establishment, gilt aber als ausgesprochen tüchtig und durchsetzungsstark. Genauso wie Ideli Salvati, der zweiten Frau, der Rouseff im Zuge einer kleinen Kabinettsumbildung eine Schlüsselposition anvertraute und damit das Frauen-Triumvirat an der Spitze des grössten lateinamerikanischen Landes vervollständigte. Die 59-jährige bisherige Ministerin für Fischerei leitet jetzt das Ressort für institutionelle Beziehungen und ist in dieser Funktion verantwortlich für ein möglichst reibungsloses Zusammenspiel zwischen der Regierung und den zehn Parteien, die sie unterstützen, sowie für die Kontakte mit der Opposition.
Lula hatte bis zuletzt versucht, Paloccis Rücktritt abzuwenden. Doch diesmal konnte selbst er es nicht richten. Die Damenwahl seiner Wunschnachfolgerin kommentierte er eher wortkarg. Wenn sich Rousseff so entschieden habe, dann deshalb, weil dies die beste Option sei, sagte er gegenüber einheimischen Medien.
Ein Hoch dem Vorvorgänger Lulas
Der Ex-Präsident wird sich wohl daran gewöhnen müssen, dass seine politische Ziehtochter vermehrt eigene Wege geht. Auch im Umgang mit politischen Gegnern. Vor ein paar Tagen überraschte Roussef Lulas Vorgänger Fernando Henrique Cardoso mit einer wahren Lobeshymne. In ihrer Grussbotschaft zu seinem 80. Geburtstag anerkannte sie, dass der konservative Sozialdemokrat während seiner Amtszeit 1995 bis 2002 die Grundsteine für die bemerkenswerte wirtschaftliche Stabilität und die Stärkung der demokratischen Institutionen in Brasilien gelegt hat.
Sie räumte damit ein, dass die Fortschritte der vergangenen Jahre nicht allein das Verdienst ihres Parteifreundes sind. Lula, der grosse Pragmatiker, hatte sowohl in der Wirtschaftspolitik als auch im Sozialbereich vieles fortgeführt und weiterentwickelt, was unter Cardoso in Gang gekommen war. Er vermied es aber jeweils tunlichst, in seinen Erfolgsbilanzen auch nur andeutungsweise darauf hinzuweisen, dass ein beträchtlicher Teil der Reformbestrebungen von seinem Rivalen initiiert worden waren.
Kein inhaltlicher Richtungswechsel
Ein Frauen-Triumvirat und ein anderer Regierungsstil bedeuten noch nicht, dass Rousseff sich auch inhaltlich von der Politik ihres Schirmherrn distanziert. Brasiliens erste Präsidentin setzt genauso wie ihr Vorgänger auf wirtschaftliches Wachstum um jeden Preis. Mammutprojekte wie das geplante Wasserkraftwerk Belo Monte am Amazonas-Nebenfluss Xingu liegen ihr mindestens so sehr am Herzen wie dem früheren Gewerkschaftschef, ökologische Bedenken stossen auch bei ihr weitgehend auf taube Ohren. In der Sozialpolitik hält sie ebenfalls an den erprobten Konzepten fest, Hauptinstrument bleibt die so genannte „Bolsa Família“, ein staatlich finanziertes Familien-Stipendium, von dem heute rund zwölf Millionen Haushalte profitieren.
Lula braucht sich also – zumindest vorläufig – keine Sorgen zu machen um sein politisches Erbe. Im Übrigen hat er auch im (vorläufigen?) Ruhestand das Volk hinter sich. Meinungsumfragen zufolge ist die Mehrheit ausdrücklich dafür, dass der Ex-Präsident seiner Nachfolgerin mit Rat und Tat zur Seite steht. Emanzipation hin oder her.