Die an der London School of Economics lehrende Philosophin Lea Ypi macht Furore mit einem Buch über ihre Kindheit und Jugend in Albanien. Ihre philosophische Autobiographie trifft genau eine der Kernfragen der Gegenwart.
Geht es zwingend auf Kosten der Freiheit, wenn Gerechtigkeit zum wichtigsten Ziel erklärt ist? Und auf Kosten der Gerechtigkeit im umgekehrten Fall? Muss man sich zwischen den beiden Werten entscheiden, kann man Freiheit und Gerechtigkeit mit Kompromissen ausbalancieren, oder sind sie Utopien, denen man sich höchstens annähern kann?
Die 1979 in Tirana geborene Lea Ypi erlebte ihre Kindheit in jenem von Enver Hoxha dirigierten sozialistischen Musterland, das sich nach allen Seiten abschottete. Das bitterarme Albanien leistete sich den Alleingang, um die Fahne der reinen stalinistischen Lehre hochzuhalten. Die Geheimpolizei Sigurimi hielt das Volk im eisernen Griff, und eine lückenlose Indoktrination durchdrang die ganze Gesellschaft.
Glückliche Kindheit im stalinistischen Musterland
Die Autorin schaut auf diese Zeit nicht mit der wissenden Distanz des Rückblicks, sondern sie versetzt sich zurück in das Kind, das sie war. Mit dieser Perspektive macht sie das Leben in der strengsten, komplettesten Diktatur des vergangenen Jahrhunderts anschaulich.
Und was bekommen wir zu sehen? Die ziemlich glückliche Kindheit eines aussergewöhnlich aufgeweckten Mädchens! Der allgegenwärtige Mangel ist für Lea unsichtbar, weil normal; sie hat ja keine Vergleichsmöglichkeiten. So lernt sie ohne Gram, wie man sich beim manchmal mehrere Tage dauernden Schlangestehen organisiert; sie trainiert die Cleverness, mit der man gelegentlich zu ausserplanmässigen Schnäppchen kommt; ganz von selbst wächst sie auch in jene Mischung von Solidarität und raffiniertem Tauschhandel hinein, mit der Nachbarn einander das Überleben sichern.
Leas Eltern sind Akademiker; der Vater Zafo Forstingenieur, die Mutter Doli Mathematiklehrerin. Beide werden später in der Umbruchzeit Karrieren machen und auf unterschiedliche Weise scheitern. Die kleine Lea ist eine gute Schülerin, was bedeutet, dass sie eine stramme Sozialistin ist. Sie glaubt den Geschichten ihrer verehrten Lehrerin Nora, die vom gütigen Onkel Enver und dessen weiser Führung Albaniens in eine strahlende kommunistische Zukunft handeln.
Nur manchmal hat Lea eine Ahnung, dass in Noras strahlender Welt ein paar Dinge nicht stimmen können. Sie merkt, dass ihre Eltern Geheimnisse haben, von denen niemand wissen darf. Ihre Grossmutter Nini, die in der Familie lebt, scheint über den Dingen zu stehen. Sie wird zu Leas wichtigster Vertrauten – und so zum heimlichen Bezugspunkt, der es Lea in den Turbulenzen ihres Heranwachsens im Stalinismus und dem darauffolgendem Chaos möglich macht, die Spur ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu halten. Das Buch ist denn auch Nini gewidmet.
Chaotische Jahre
Im Dezember 1990 – Lea ist elf Jahre alt – kommt es zu Demonstrationen gegen das Hoxha-Regime. Die Eltern schliessen sich der Opposition an und sprechen erstmals über die Familiengeschichte, die sie zum Schutz der Kinder (Lea hat einen Bruder) geheim gehalten haben. Die Familie weist väterlicherseits prominente Opfer des Regimes auf, die Mutter stammt aus einer der vormals reichsten Familien. Da im Hoxha-Stalinismus eine archaische Sippenhaft praktiziert wurde, war die Familie gebrandmarkt.
Mit dem Umbruch kommen neue Produkte und Ideen ins Land und bewirken vorerst vor allem eines: Chaos. Viele wollen auswandern. Zum Mahnmal wird der Frachter «Vlora», der im August 1991 im Hafen von Durres von über zehntausend Flüchtenden überrannt und mit defekter Maschine zum Auslaufen nach Bari gezwungen wird – die Geflohenen werden von Italien nach ein paar Wochen zurück nach Albanien gebracht.
Das neu eingeführte Prinzip des wirtschaftlichen Wettbewerbs macht erst einmal viele arbeitslos, so auch Zafo. Die Mutter geht nach ihrer unfreiwilligen Frühpensionierung in die Politik. Während der Vater sich sozialdemokratisch orientiert, schlägt die Mutter einen liberalen bis libertären Weg ein. Dazwischen steht Nini mit ihrem aufgeklärt-offenen Konservatismus. Sie ist Abkömmling der griechischen Oberschicht, wurde durch Heirat Albanerin und machte als erste Frau Karriere in den obersten Rängen der staatlichen Verwaltung.
In der Umbruchzeit kommt der Begriff der Zivilgesellschaft in Schwang. Er signalisiert, dass Freiheit eine soziale Komponente braucht, soll sie nicht destruktiv werden. Was das heisst, erlebt Zafo auf dramatische Weise. Er ist Direktor des Hafens von Tirana geworden und führt mit Erfolg Reformen und Sanierungen durch. Doch dann wird er von den Eignern zu Massenentlassungen gezwungen und zerbricht daran. Wenig später stirbt er. Lea Ypi setzt ihm ein berührendes literarisches Denkmal.
1997 artet das Chaos in offenen Bürgerkrieg aus. Bei der letzten Prüfung für Leas Mittelschul-Abschluss wird draussen geschossen. Wegen einer Bombendrohung wird die Prüfung abgebrochen; sie gilt für alle als bestanden.
Forschen für freiheitlichen Marxismus
Im Epilog sehen wir die erwachsene Lea Ypi, die als Philosophin und Spezialistin für Politische Theorie in England forscht und lehrt und die gelegentlich erklären muss, weshalb sie sich mit Marxismus beschäftigt. Sie will diesen mit ihrem lebenslangen Streben nach Freiheit in Einklang bringen. Denn Freiheit, das hat sie im Zusammenbruch ihrer Heimat Albanien gelernt, steht nicht automatisch allen offen.
Leas Mutter Doli meint einmal, der Grossvater habe nicht fünfzehn Jahre in albanischen Kerkern gesessen, damit die Enkelin Albanien verlassen und den Sozialismus verteidigen könne. Beide lachen darüber und wissen: Es ist ernstgemeint. Lea Ypi macht es sich denn auch nicht leicht mit ihrem Spagat zwischen den beiden Utopien, jener der Gerechtigkeit und jener der Freiheit. Deshalb ist sie eine inspirierende Denkerin. Ihr Buch erzählt, wie sie es geworden ist.
Lea Ypi: Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte, Suhrkamp 2022, 333 S.
In der «Sternstunde Philosophie» (SRF, 27. März 2022) spricht Lea Ypi mit Wolfram Eilenberger über ihr Buch und ihren philosophischen Weg.
Im Literaturhaus Zürich stellt sie ihr Buch am 6. April 2022, 19.00 Uhr und im Literaturhaus Basel am 7. April 2022, 19.00 Uhr vor.