Die kulturpessimistische Klage über eine angeblich unablässig anschwellende Bilderflut wird in stets neuen Varianten laut. Das Faktum der wachsenden Zahl visueller Botschaften ist gewiss nicht zu bezweifeln. Die Präsenz von Bildern im Alltag hat nur schon in der Zeitspanne, die ein Erwachsener überblickt, dramatisch zugenommen. Dutzende von TV-Kanälen senden rund um die Uhr, Printmedien zeigen heute viel mehr Fotos und Grafiken als früher, Online-Medien setzen auf die Anziehungskraft bewegter und stehender Bilder, die meisten Leute tragen ein fotografierendes und filmendes Gadget bei sich, und namentlich die Jungen und Jüngsten tauschen sich über Social Media mittels Fotos und Videos aus.
Historisch kurze Bilderzeit
Im Rückblick wird schnell deutlich, dass die Omnipräsenz des Bildes vor – historisch gesehen – sehr kurzer Zeit erst begann. Sie setzte ein mit dem Siegeszug des Fernsehens in den 1960er-Jahren. Vorher bestanden die populären Bildwelten des Alltags aus Illustrierten, Werbung, Kino, Bildbänden (wer kennt noch die Silva-Bücher?), privaten Familienfotos, Feriendias und, in seltenen Fällen, Super-8-Filmen.
Vor den ersten Fotografien von Joseph Nicéphore Nièpce und Louis Jacques Mandé Daguerre im frühen 19. Jahrhundert existierten keine apparativ hergestellten Bilder. Erst gegen Ende des Jahrhunderts gab es gerasterte Fotos, die in Massenauflagen gedruckt werden konnten. In der darauf folgenden Periode haben Fotografie und Film eine erst langsame, dann sich beschleunigende Umwälzung bewirkt, die in einer Reihe steht mit den grossen medialen Umbrüchen der Menschheit: den Erfindungen von Schrift (4. Jahrtausend v. Chr.) und Buchdruck (in China 14., eventuell schon 11. Jahrhundert, in Europa 15. Jahrhundert).
Bildermagie und vorgeschichtliche Prägung
In den letzten rund 130 Jahren hat massenhafte Verfügbarkeit die Bilder entzaubert. Ein archaisches Verständnis hatte ihnen magische Kräfte zugeschrieben und sie nicht nur als Symbole gesehen, sondern als Träger von Macht. Mehr noch, Bilder hatten als Wesen gegolten, die zu handeln fähig sind: Sie verhexten oder heilten, bannten oder erlösten. Vollständig verschwunden sind solche Erscheinungsformen von Bildermagie natürlich nicht. Es gibt sie nicht nur in vormodernen Kulturen und Kulturschichten, sondern genauso auch in modernen Herrscher- und Starkulten.
Das Vokabular des Wahrnehmens, die Grammatik des Bewusstseins, die Syntax des Denkens machen wir nicht selbst, sondern wachsen in sie hinein. Unsere geistige Grundausstattung ist langfristig ausgelegt. Vorgeschichtlich geformt in der Phylogenese und Anthropogenese, weist sie eine Zeitstruktur auf, von der auch im Blick auf Gegenwart und Zukunft keine Entwicklungssprünge zu erwarten sind.
Vermehrung und Beschleunigung
Genau diese Sprunghaftigkeit schreiben jedoch die meisten Zeitbeobachter der heutigen Zivilisation zu, und oft münden ihre Diagnosen in die These, die Entwicklung der Menschen halte nicht Schritt mit dem Tempo von Technik, Wirtschaft und Gesellschaft. Manche Auguren wollen diesen Pessimismus nur auf die älteren Exemplare der Spezies beziehen; bei jüngeren rechnen sie hingegen mit der Fähigkeit, aus dem Äonenrhythmus auszubrechen und mit dem anziehenden Speed des Umfelds gleichauf zu bleiben.
Kein Zweifel: Junge können die Bildfolgen rasant geschnittener Filme besser aufnehmen als Ältere. Sie lernen aber auch leichter Vokabeln, rennen schneller und halten auf Partys länger durch. Angenommen, heutige Jugendliche bringen es gegenüber ihren Grosseltern auf die zehnfache Kapazität beim Verdauen von Bildern, so steht dem immer noch eine weit grössere Steigerung der alltäglichen Bildermenge gegenüber. Man hat demnach damit zu rechnen, dass auch für die bildgewohnte Jugend der visuelle Druck grösser geworden ist, als er sich ihren Vorfahren darbot.
Die Massenproduktion von Bildern ist unter den zahlreichen Umwälzungen seit dem Beginn des Industriezeitalters eine der wirkungsmächtigsten, weil sie tief in den Alltag und die Bewusstseinshaushalte der Menschen eindringt. Eigentlich würde es verwundern, wenn die heutigen Bilderfluten für den menschlichen Geist keine Überwältigung oder sogar Überforderung wären.
Verhaltensmuster gegenüber visuellem Ansturm
Ob und wie wir Heutigen mit dem Bombardement durch Bildeindrücke klarkommen, ist allerdings schon methodisch eine knifflige Frage. Es bräuchte einen Standort ausserhalb unserer Lebenswelt oder einen gehörigen zeitlichen Abstand, um das verlässlich erkennen und beurteilen zu können. Da wir beides in diesem Fall nicht haben, bleiben eigentlich nur Selbstbeobachtung und zivilisationskritische Introspektion.
In diesem Sinn sei versuchsweise nach Reaktionen auf Überforderung gefahndet. Dabei stossen wir auf drei unterschiedliche Paradigmen des Verhaltens angesichts eines Zuviel an Visuellem. Dieses kann wahrgenommen werden
- als steigende Flut, vor der es ab einem kritischen Pegel zu fliehen gilt;
- als wachsender Druck, dem man ausweicht oder mit Gegendruck antwortet;
- als Strom, den man einfach vorbeiziehen lässt, wenn die benötigten Gefässe gefüllt sind.
In der Alltagspraxis der Bildrezeption kommen alle drei idealtypischen Verhaltensmuster vor. Das Pegel-Paradigma kann man klar der kulturpessimistischen Haltung zuordnen, während das Druck-Gegendruck-Paradigma am ehesten mit einer kulturellen Elite zusammenpasst, die ihren Umgang mit Bildern selektiv und aktiv gestaltet. Das Gefäss-Paradigma hingegen beschreibt einen indifferenten Pragmatismus, der sich nach Gewohnheiten, Modetrends und Zufällen aus den Angeboten und Möglichkeiten der visuellen Welt bedient, als ob das schon immer so gewesen wäre. – Es sind, wie gesagt, drei Idealtypen, was bedeutet, dass sie kaum je in reiner Form auftreten, sondern sich im wirklichen Verhalten vermischen.
Sofern diese Befunde der Selbstbeobachtung und sozialen Nabelschau zuträfen, wären sie geeignet, die kulturkritische Aufregung um die moderne Bilderflut zu dämpfen.
Undurchschaubare Komplexität
Allerdings ist trotz Entwarnung in puncto Flutkatastrophe noch längst nicht klar, was Bilder eigentlich sind und was sie mit uns machen. Das verbreitete rationalistische Verständnis vom Bild als Imitation oder Abbild der Wirklichkeit passt zwar zu einem Teil der kursierenden visuellen Produkte, wird aber selbst sachorientierten Bildern bei weitem nicht vollständig gerecht. Noch wenn diese dem Zweck des Abbildens dienen wollen, wenn sie also dokumentieren und sich als Fenster zur Welt darbieten: selbst dann transportieren solch instrumentelle Bilder immer auch emotionale, metaphorische, symbolische Gehalte. Sie erzählen Geschichten, die ihre Produzenten vielleicht gar nicht im Sinn hatten, und sie wirken jenseits ihrer Sachgehalte – gewollt oder ungewollt – als ästhetische Artefakte.
Bilder sind etwas so Kompliziertes, dass ihre Wirkungen kaum vorauszusehen sind. Kommunikationsprofis wie Bildredaktoren, Art Directors und visuelle Gestalter wissen um die schwer zu durchschauenden Geheimnisse der Bildrezeption. Wären Bildwirkungen in allen Facetten analysier- und objektivierbar, so gäbe es keine gefloppten Werbekampagnen und kein kontraproduktives PR-Bildmaterial.
Beim Lesen von Bildern wirken unsere phylogenetischen und anthropogenetischen Prägungen untergründig mit. Wir antworten auf visuelle Reize mit Reaktionen, die in unseren Genen liegen. Ein bewusstes und unbewusstes Bildgedächtnis hält Muster bereit, mit denen wir Bilder entschlüsseln. Was die kulturkritisch-bildskeptische Haltung als Überforderung wahrnimmt, liegt vielleicht gar nicht so sehr an der im historischen Massstab tatsächlich enorm gewachsenen Bildermenge. Es hat vielleicht mehr zu tun mit dem geheimnisvollen Charakter von Bildern überhaupt.
Der Verfasser hat sich in seinem Blog unter dem Titel «Bilderverbot, Bildersturm, Bilderflut» ausführlicher mit der Kultur- und Religionsgeschichte des Bildes befasst.