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Buch

Viel Steine und wenig Brot

21. Oktober 2023
Carl Bossard
Sabbione
Das Steindorf Sabbione im kargen Val Bavona (Keystone/TI-Press, Francesca Agosta)

Es gibt Bücher, die gehen unter die Haut; sie bleiben darum im Gedächtnis. Dazu zählt Plinio Martinis bewegender Roman «Nicht Anfang und nicht Ende». Es ist eine Auswanderergeschichte aus dem Val Bavona im Tessin. Eine Reverenz an das unvergessene Werk.

Der harte, karge Alltag trieb sie fort. Unzählige sind ausgewandert, das Lebensglück in der Emigration zu suchen. Rund 70 Prozent seiner Einwohner hat das verzweigte Maggiatal zwischen 1850 und dem Zweiten Weltkrieg ans ferne Kalifornien verloren. Das Tessin beklagte eine Auswandererquote von teilweise weit über zehn Prozent der Bevölkerung. Der Massenexodus nach Übersee und nach Australien hatte seinen Grund: «Viel Steine gab’s und wenig Brot», wie’s bei Ludwig Uhland in einem Gedicht heisst. Zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben.

Kampf gegen die Naturgewalten

Viele Steine gibt’s noch heute im wild-herben Val Bavona, diesem steilen Seitental des oberen Valle Maggia. Da ist nicht viel anderes als eine schmale Talsohle, übersät von monströsen Felsblöcken, oft so gross wie mehrstöckige Wohnhäuser: Zeugen von Bergstürzen und Erdrutschen. Daneben ragen nackte Felswände senkrecht in die Höhe. Wer in dieses gebirgige Gelände gerät, ahnt etwas von der unerbittlichen Härte des Berglerlebens, vom zähen Kampf der Bauern und Hirten gegen die übermächtigen Naturgewalten. Von den 127 Quadratkilometern Fläche dieses kleinen Tessiner Tals können nur rund 1,5 Prozent des Bodens landwirtschaftlich genutzt werden. Darum führen kühne und gefährliche Wege über tausend Höhenmeter hinauf zu abgelegenen Maiensässen und winzigen Matten. Ein Nomadentum mit Behausung auf Zeit.

Herumkraxeln zwischen Ginsterstauden

Beim Tessiner Schriftsteller Plinio Martini (1923–1979) heisst es: «Die ganze schöne Jahreszeit lang gab es im Val Bavona eine ständige Plackerei, den Saumpfad entlang und die steilen Fusswege hinauf, vom Dorf auf die Wiesen, von den Wiesen auf die Alpweiden, von einer Alp auf die andere, von einer unbequemen Hütte zur nächsten, die noch schlimmer war, einen Steig um den andern, bis zu den höchsten Matten hinauf, wo die Kühe mehr Flechten als Gras wiederkäuten und der Mensch sich zum Heulen einsam fühlen kann.» (1)

Zudem war der Tod in Martinis Welt ständiger Begleiter: «Als ich zur Schule ging, hatten mehr als die Hälfte meiner Kameraden schon Vater oder Mutter verloren; da sah man, was bei unserem ständigen Herumkraxeln zwischen den Ginsterstauden herauskam. (…) unser Tal mit all seinen Wäldern und Abgründen von oben bis unten durchzukämmen, das ist schlimmer, als Australien erforschen.»

«In America voglio andare»

Nicht nach Australien, nach Kalifornien zieht es Plinio Martinis Ich-Erzähler Gori. Die Figur ist fiktiv, vieles andere aber real. Hunger und Armut treiben Gori aus dem kärglichen Einerlei im engen Tal – in der Hoffnung auf ein besseres Leben. 1927 verlässt er zusammen mit seinem Bruder die Heimat und wandert aus. Zurück bleibt seine erste Liebe, Maddalena, und zurück bleiben seine Familie und die Freunde. Die Sehnsucht nach dem heimatlichen Tal aber trägt er mit in die Fremde, eingeschnürt in sein bescheidenes Bündel. «In Amerika trugen wir Auswanderer unser Heimweh wie eine Krankheit in uns herum.»

Plinio Martini
Plinio Martini mit zweien seiner Kinder (Bild: Familienarchiv Plinio Martini)

1946 kehrt er zurück und findet ein verändertes Land. Nichts ist jetzt mehr, wie es einst war: Maddalena ist tot, die Mutter behindert und der Vater alt und gebrechlich. Die ersehnte Heimat ist ihm fremd geworden. Wenige Monate nur bleibt er im Tal; dann reist er zurück nach Amerika. Doch auch dort wird er auf immer ein Fremder bleiben. Entwurzelt. «Aufbrechen, zurückkehren, nicht mehr hier noch dort sein.» Weder in der Heimat noch in der Neuen Welt findet er ein Zuhause.

Eine Geschichte der Entfremdung

Nach Jahren kommt Gori, inzwischen ein alter Mann geworden, nach Hause in sein Tal. Er zieht Bilanz und erzählt als Emigrant das eigene Leben. «Ich fahre nicht mehr nach Amerika zurück», gesteht er gleich zu Beginn. «Vielleicht werde ich sogar widerstehen, (…) meine Freunde zu besuchen. Ich weiss jetzt schon, wie einem zumute ist, wenn man Menschen wiedersieht, die alt geworden sind, und Orte, die sich selbst nicht mehr gleichen. Ich muss mich abfinden. Ich bin nur noch ein armer Mann, der ein Bündel Kummer mit sich herumschleppt.»

Es ist dieses «Bündel Kummer», das er bis auf den Grund – daher der italienische Titel: «Il fondo del sacco» – leeren wird, um so dem Leser alle Not und Traurigkeit, auch alle unerfüllten Hoffnungen aufzuzeigen. Den Hintergrund bildet das Fresko einer Lebensgrundlage, die sich rasant verändert und am Verschwinden ist. Der Schriftsteller Martini hat es am eigenen Leib erlebt: Nirgendwo in der Schweiz ist die agrarische Welt so schnell untergegangen wie im Tessin. (2)

Der Natur eine kärgliche Existenz abringen

«Plinio Martini schaut zurück in eine vergangene Zeit, ein Nostalgiker ist er darum nicht», schreibt Roman Bucheli. Für den Feuilletonredaktor der NZZ hat Martini «mit seinem Werk etwas vom Schönsten geschaffen, was die Literatur der italienischen Schweiz hervorgebracht hat». (3) Er habe, so fügt Bucheli an, mit seinem epochalen Tessin-Roman Literaturgeschichte geschrieben.

Splüi di Inselmitt
Splüi di Inselmitt bei Sabbione im Val Bavone: Er diente als Ziegenstall; bis zu vierzig Tiere fanden darin Platz. (Wikimedia Commons)

Mich selber zieht es immer wieder in diese Gegend. Es ist ein anderes Tessin als jenes der Sonnenstubenromantik mit dem Boccalino Merlot unter schattenspendenden Kastanienbäumen. Ein Dolce Vita ist hier nicht in Sicht. Im Gegenteil. Das Durchqueren des Val Bavona lässt erahnen, wie Menschen der Natur eine kärgliche Existenzgrundlage abgerungen haben. Unter härtesten Umständen. Davon zeugen auch die Terrassen und Treppen und die zahlreichen Unterstände. Eine Art anonymer Felsarchitektur von Grotten und Höhlen, eine «Architektur ohne Architekten». (4) Besonders beeindruckend sind die Splüi, von Trockenmauern eingefasste Felshöhlen. Sie dienten einst als Wetterschutz für Mensch und Vieh, als Vorratskammern oder gar als Backstube. Nicht selten sind sie nun vom Wald überwuchert.

Fontana im Val Bavona
Anonyme Felsarchitektur: ein Splüi bei Fontana im Val Bavona, bald überwuchert (Bild: Ralph Hut)

Überwuchert sind auch manche Erinnerungen ans Damals. Plinio Martini hält vieles wach. Mit seinem Werk wehrt er sich gegen das Vergessen und Verschwinden. Das ist auch der Grund, warum die verhaltene und behutsame Liebesgeschichte von Maddalena und Gori bei Wanderungen in den Tessiner Tälern im Rucksack mitkommt und mich begleitet.

(1) Plinio Martini: Nicht Anfang und nicht Ende. Roman einer Rückkehr. Aus dem Italienischen übertragen von Trude Fein. Zürich: Werner Classen Verlag, 1974. Die Zitate stammen aus diesem Buch. Neuauflage: Limmat-Verlag, Zürich 2023

(2) Alexander Grass: Mein liebes Tessin. In: DIE ZEIT, 04.05.2023, S. 19

(3) Roman Bucheli: Sie verwünschten und liebten ihr Tal. In: NZZ, 04.08.2023, S. 3

(4) Grotti, Splüi. Cantine. Anonyme Felsarchitektur im Maggiatal. Photographien von Thomas Burla und Ralph Hut mit einem Text von Conradin Wolf. Zürich: Edition Hohweg, 1995, S. 6

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