Die Sommerferien sind da, Zeit für etwas Musse. Welche Bücher wollen Sie lesen, am Strand, in den Bergen oder zuhause auf Balkonien? Journal21-Autorinnen und -Autoren machen Ihnen Vorschläge.
- KLARA OBERMÜLLER EMPFIEHLT
Elizabeth Strout: Am Meer
Wer erinnert sich nicht an die Wochen des Lockdowns während der Corona-Krise, als das gesellschaftliche Leben zum Erliegen kam und unsere Gedanken sich nach Innen kehrten? In Elizabeth Strouts neuestem Roman wird die Zeit noch einmal lebendig. Die Autorin hat sie zum Anlass genommen, das Schicksal ihrer Protagonistin Lucie Barton und deren Ex-Mann William weiterzuspinnen. In ein einsames Haus auf einer Landspitze in Maine haben die beiden sich zurückgezogen, um der Seuche zu entgehen: eine zwar komfortable, aber doch klaustrophobische Situation, die alte und neue Konflikte in gesteigerter Form zum Vorschein bringt. In ihrem unvergleichlichen, leicht süchtig machenden Plauderton umkreist Elizabeth Strout die grossen Themen der Literatur: Liebe und Familie, Zerbrechlichkeit und Tod. Sie tut es wie immer scheinbar beiläufig, doch unter den Bedingungen des Lockdowns erhalten sie ihre ganz eigene, existentielle Dringlichkeit.
Luchterhand, München 2024, 288 Seiten
Hilary Mantel: Sprechen lernen
Wir kennen sie als die herausragende Chronistin der Tudor-Zeit, als Biografin Thomas Cromwells und seines grossen Gönners und Gegenspielers Heinrich VIII. In ihren vor 20 Jahren entstandenen, aber erst letztes Jahr auf Deutsch erschienenen autofiktionalen Erzählungen «Sprechen lernen» führt uns die Autorin nun jedoch zurück zu den Anfängen ihres literarischen Schaffens: ins raue Milieu eines Arbeiterviertels im englischen Norden, in die beklemmende Atmosphäre einer dysfunktionalen Familie, in die Enge einer von Bigotterie und Armut geprägten Gesellschaft. Hier das Aufscheinen erster zentraler Motive und das Erwachen einer immer schärfer werdenden sprachlichen Sensibilität zu erleben, ist ein äusserst faszinierendes Lektüre-Erlebnis, das auch zu einem vertieften Verständnis der grossen historischen Romane der Autorin verhilft.
DuMont, München 2023, 160 Seiten
Irene Gysel: Katharina von Zimmern – Flüchtlingskind, Äbtissin, Bürgerin von Zürich
Die Liste in Vergessenheit geratener historischer Frauenfiguren ist lang. Eine von ihnen ist Katharina von Zimmern, die letzte Äbtissin des Fraumünsters, der das Verdienst zukommt, die Stadt durch ihr umsichtiges Handeln während der Reformationswirren vor Zerstörung bewahrt zu haben. Die ehemalige Fernsehjournalistin und Kirchenrätin Irene Gysel beschäftigt sich seit Jahren mit ihr und ihrem bewegten, an Brüchen und Neuanfängen reichen Leben. Zusammen mit der Historikerin Barbara Helbling hatte sie sie in den neunziger Jahren recht eigentlich entdeckt und seither in aufwendiger Recherchearbeit immer wieder neue Hinweise und Dokumente zu Tage befördert. Das Ergebnis ihrer Forschungen liegt nun in einer faktenreichen und spannend geschriebenen Biografie vor, die nicht nur Katharina von Zimmern noch einmal lebendig werden lässt, sondern auch Licht in ein entscheidendes Stück Zürcher Stadtgeschichte wirft.
Theologischer Verlag, Zürich 2024, 200 Seiten
- REINHARD MEIER EMPFIEHLT
Iwan Turgenjew: Frühlingsfluten
Turgenjews Romane und Erzählungen zu lesen bietet immer eine Bereicherung und Entspannung. Das gilt besonders für unsere Gegenwart, in der das Putin-Regime mit seinem mörderischen Krieg gegen die Ukraine und der Diktatur im Innern ein erschreckendes Bild von Russland vermittelt. Turgenjew repräsentiert eine sehr viel humanere und versöhnlichere Seite der russischen Kultur und Tradition. Er war ein undogmatischer russischer «Westler», profunder Kenner Europas. Der Roman «Frühlingsfluten» spielt hauptsächlich in Deutschland. Der junge Gutsbesitzer Dimitri Pawlowitsch Sanin verliebt sich in einer Frankfurter Konditorei in die 19-jährige Gemma. Doch die geplante Heirat kommt nicht zustande. Die durchtriebene Marja, die junge Frau seines russischen Schulfreundes, bezirzt ihn und entführt ihn nach Paris. Das endet im Fiasko und Sanin zieht sich einsam auf sein Gut zurück. Dort bahnt sich dreissig Jahre später eine Versöhnung mit dem Schicksal an.
Hofenberg, Berlin 2018, Taschenbuch, 144 Seiten
Max Frisch: Montauk
Dieses Buch habe ich fünfzig Jahre nach dessen Erscheinen wiedergelesen, nachdem unlängst in der NZZ am Sonntag ein Interview mit Lynn, der einstigen Geliebten von Max Frisch erschienen ist. Das am engsten autobiographisch geprägte Werk des Autors handelt von einem Weekendausflug mit der jungen Verlagsbetreuerin Lynn nach Montauk auf Long Island bei New York im Jahr 1974. Der 63-jährige Frisch beschreibt neben dem Ausflug Erinnerungen und Reflexionen über sein bisheriges Leben, seine verschiedenen Frauenbeziehungen und Gedanken über das Alter. Einige dieser autographischen Episoden zeigen den Autor durchaus nicht in günstigem Licht. Ob das für den Willen zur unbedingten Ehrlichkeit spricht oder ob dabei auch einige Körnchen Koketterie mitschwingen, darüber kann man streiten. Mich hat die erneute Lektüre als spannende Verbindung von Lebenserfahrung und glänzendem Stil fasziniert.
Suhrkamp, Berlin 1981, Taschenbuch, 224 Seiten
Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister
Ewald Frie ist mit elf Geschwistern auf einem Bauernhof bei Münster und bei streng katholischen Eltern aufgewachsen. Er ist Historiker und erzählt am Beispiel seiner Familie, wie im Lauf der 1960er Jahre dieses bäuerliche Leben sich in raschem Tempo und doch kaum bemerkt von der Gesellschaft auflöste. Der Autor hat alle seine zehn Geschwister über ihre Erfahrungen auf dem Hof mit seinen alten Gebräuchen und beim Wechsel in eine zunehmend technologisierte, verstädterte Welt befragt. Nur ein Bruder ist auf dem Land geblieben. Frie berichtet ohne Pathos und sachlich informativ über diesen tiefgreifenden Wandel. Gleichzeitig lässt er seinen Respekt und seine Sympathie für die hart arbeitenden Eltern in dieser entschwundenen Welt anklingen.
Dtv, München 2023, 192 Seiten
- URS MEIER EMPFIEHLT
Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die grosse Flucht der Literatur
Prominente Juden und Oppositionelle, aus Nazi-Deutschland nach Frankreich geflohen, sitzen nach der deutschen Besetzung des Landes fest, viele in Lagern des Vichy-Regimes, andere untergetaucht, vor allem im noch unbesetzten Marseille. Ihr Überlebensziel ist Lissabon und dort der Dampfer nach den USA. Der junge Amerikaner Varian Fry ist nach Marseille gekommen, um möglichst viele der bedrohten Flüchtlinge trotz endlosen und immer neuen Schwierigkeiten zu retten – eine schier unmögliche Aufgabe, die doch vielfach gelingt. Wittstock erzählt diese Jahrhundertgeschichte neu als packenden historischen Roman.
C. H. Beck, München 2024, 351 Seiten
Stephan Wackwitz: Geheimnis der Rückkehr. Sieben Weltreisen
Wackwitz blickt zurück auf eine Karriere in den Diensten des deutschen Goethe Instituts in Tokio, Krakau, Bratislava, New York, Tiflis und Minsk. Und er gibt Rechenschaft über seinen geistigen Werdegang vom schwäbischen Pietismus über eine marxistische Phase in jungen Jahren zur Inspiration durch Jürgen Habermas und vor allem Richard Rorty und dessen ironische Liberalität. Die Wechselbäder der verschiedenen Kulturen und Mentalitäten werden Wackwitz zum Lebenselement. Das Buch ist Reisebericht, Lebensbeichte und Standortbestimmung in einer bewegten Welt. Sein essayistischer Duktus spiegelt die ebenso selbstkritische wie selbstbewusste Position des Verfassers.
S. Fischer, Frankfurt am Main 2024, 365 Seiten
Klaus Machowiak: Kann Spuren von Latein enthalten. Kleines Lexikon deutscher Wörter lateinischer Herkunft. Von abkanzeln bis Zwiebel
Ein weiteres Büchlein eines von seiner bildungspolitischen Marginalisierung beleidigten Lateinlehrers, der die Relevanz seines Faches verteidigt? Keineswegs! Machowiak schreibt aus Spass an der Sache, und das ist ansteckend. Die kurzen Exkurse in die Erforschung der Sprachgeschichte gehen oft hinter das Latein zurück und zeigen fallweise, dass auch junge Wörter lateinisch beeinflusst sein können. Das Taschenbuch lädt zu genussvollem Schmökern ein und beschert von Seite zu Seite hübsche Aha-Erlebnisse – etwa, wenn man erfährt, dass die Ampel von ampulla kommt, dem Wort, das ursprünglich das ewige Licht über dem Altar meint.
C. H. Beck Paperback, 174 Seiten
Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland
Toller war Schriftsteller, Jude und glühender Sozialist. Er gehörte der Regierung der Münchener Räterepublik vom April 1919 an. Das utopische Experiment überdauerte nur gerade vier Wochen, da wurde der Verfasser in Festungshaft genommen. Sein Bericht ist expressionistisch getönt, wie auch seine damals viel gespielten Theaterstücke. Der schön gestaltete Band bietet nebst Fotografien und Dokumenten eine vom Herausgeber Ernst Piper verfasste biographische Skizze. Das Buch gibt einen authentischen Einblick in deutsche Zustände nach dem verlorenen Weltkrieg.
Die andere Bibliothek Bd. 469, Aufbau Verlag, Berlin 2024 (Originalausgabe: Querido Verlag, Amsterdam 1933), 345 Seiten
- CHRISTOPH KUHN EMPFIEHLT
Anne Weber: Bannmeilen
Die in Paris lebende deutsche Autorin und Übersetzerin Anne Weber nimmt sich in ihrem neuesten Buch eines Schauplatzes an, der ganz nahe bei Paris liegt und doch von Touristen, aber auch von Stadtbewohnern nie betreten wird. Es geht um die Banlieue, die Vorsdtädte, die sich jenseits des «périphérique», der Autobahn, wie ein Gürtel um Paris legen. Unter dem Titel «Bannmeilen» ist ein spannendes Buch entstanden; weniger ein Roman, als der sich das Buch deklariert, als ein stark persönlich gefärbter Tatsachenbericht. Die Autorin durchstreift zusammen mit einem befreundeten Filmemacher zu Fuss die Vorstädte. Das wird kein beschauliches Flanieren, sondern ein genaues, ein scharfsinniges Untersuchen und Beschreiben einer fremden, schwer zugänglichen Realität. Im Austausch mit dem Freund, der aus Algerien stammt und die Banlieue als früheres Zuhause kennt, haucht Anne Weber den tristen Wohnblocks, Schrotthalden, Lagerhallen, Friedhöfen Leben ein. In einem Café, einer kleinen Oase in der betonierten Wüste, trifft sie Bewohner der Banlieue, gewinnt ihr Vertrauen, lässt sich Schicksale erzählen.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2024, 301 Seiten
Julien Green: Treibgut
Julien Green (1900–1998), ein französisch schreibender Amerikaner, der zeitlebens in Paris zu Hause war, liebte die Stadt, hat sie in seinen vielen Romanen immer wieder porträtiert. Wolfgang Matz hat einen frühen Roman Greens, «Treibgut», neu übersetzt. Er präsentiert ihn, mit Anmerkungen und einem klugen Nachwort versehen. Es geht um einen reichen Pariser zwischen zwei Frauen, der sich eingestehen muss, dass er eine Existenz als nichtsnutziger Feigling führt. Feinsinnig zeigt Green Risse und Krisen in der bürgerlichen Gesellschaft, unter denen die Stadt zwischen den beiden Weltkriegen zu leiden beginnt. Die Hauptrolle im Roman spielt Paris selber. Die Stadt bekommt in mythisch und magisch anmutenden Beschreibungen schon fast surrealistische Qualitäten, vor allem, wenn sich der Autor «den schwarzen Abgrund» der Seine vornimmt.
Aus dem Französischen von Wolfgang Matz, Hanser Verlag, München 2024, 400 Seiten
Jörg Hartmann: Der Lärm des Lebens
Jörg Hartmann, den populären Theater- und Filmschauspieler, kennt man aus der Fernsehserie «Weissensee» oder als wilden Tatort-Kommissar Faber. Jetzt hat er ein autobiografisches Buch geschrieben: «Der Lärm des Lebens». Darin beschreibt er seine Jugend im Ruhrpott, das Milieu, dem er entstammt, Eltern, Grosseltern und seinen Werdegang. Kunstvoll wird die Chronologie der Ereignisse unterbrochen und zerstört – mit jedem Kapitel fängt die Geschichte Jörg Hartmanns und fangen die Geschichten um ihn herum neu an. Der Schauspieler verfügt als Autor über einen frischen, kräftigen Stil, der mit Humor gesättigt ist und der entsprechend aufs Beste unterhält. Familiengschichten, deftige Ruhrpottatmosphäre kontrastieren mit der weltstädtischen Theaterwirklichkeit, wie sie sich in Berlin manifestiert. In «Der Lärm des Lebens» sind theatralische, pointenreiche Präsenz und romaneske An- und Beschaulichkeit eine vielversprechende Verbindung eingegangen.
Rowohlt Verlag, Berlin 2024, 304 Seiten
- STEPHAN WEHOWSKY EMPFIEHLT
Anna Politkovskaja: In Putins Russland
Im Jahr 2004 erschienen die Reportagen von Anna Politkovskaja, in denen sie das Leben unter Putin im Militär, aber auch in zahlreichen zivilen Bereichen schilderte. Ihr ging es darum, den schönen Schein, den der Westen dem ehemaligen Geheimdienstmann Putin nur zu gerne abnahm, als Camouflage einer härteren und unerbittlichen Realität zu enttarnen. Allein die Anfangskapitel über das Militär rauben jede Illusion. Zaghafte Ansätze zu Reformen in der Ära Jelzins wurden von Putin wieder einkassiert – insbesondere nach dem zweiten Tschetschenienkrieg. Gerade in dieser Zeit hat dieses Buch nichts von seiner Aktualität verloren. Die Neuflage wurde mit einem aktuellen Vorwort versehen. Im Jahr 2006 wurde Anna Politkowskaja ermordet.
Dumont, Köln 2022, Taschenbuch, 320 Seiten
Werner Herzog: Die Zukunft der Wahrheit
Gibt es so etwas wie Wahrheit im Film, aber auch in der Poesie oder der Musik?, fragt Werner Herzog in seinen tiefsinnigen, aber gleichwohl unterhaltenden Essays. Mit seinem Film Fitzcarraldo hat er diese Frage auf die Spitze getrieben. Aber auch sonst schöpft Herzog aus dem Vollen. Spielend bewegt er sich in der Welt der Mythen, um in der Gegenwart festzustellen, dass Wahrheit nicht in der schlichten Übereinstimmung von Aussagen mit Fakten bestehen kann. Damit meint er nicht «alternative Wahrheiten», sondern Erfahrungen, die sich für ihn auch bei unglaublich langen Fussmärschen einstellen – einmal hat er Deutschland an seinen Grenzen entlang umrundet. Man folgt diesem grossen Filmemacher gern auf seinen verschlungenen Wegen.
Hanser, München 2024, 112 Seiten
Lou Bihl: Ohne Befund. Geschichten aus dem Gesundheits-Wesen
Auch in der Medizin besteht die Wahrheit nicht einfach in der Übereinstimmung von Diagnosen mit erhobenen Daten. Diese bildet zwar die Grundlage ärztlichen Handelns, aber in der Begegnung mit den Patienten stellen sich immer neue Irritationen ein, die vermeintliche Gewissheiten ins Wanken bringen. In zehn Geschichten erzählt Lou Bihl in fiktionaler Form von ihren Erfahrungen. Manche Geschichten sind überaus spannend, zum Beispiel wie sich Oberärztin Thea als Stalking-Opfer sieht und es ein überraschendes Ende gibt. Anderes ist nicht ganz so gelungen, aber lesenswert. Jede Geschichte bietet Einblicke in die inneren Zweifel und Konflikte, denen sich die Ärztinnen in ihren weissen Kitteln ausgesetzt sehen.
Unken-Verlag, Karlsruhe 2024, 236 Seiten
- IGNAZ STAUB EMPFIEHLT
Adam Moss: The Work of Art – How something comes from nothing
Zeit seiner Tätigkeit als langjähriger Chefredaktor des «New York Times Magazine» und des Magazins «New York» war Adam Moss fasziniert vom kreativen Prozess, der aus nichts etwas entstehen lässt – egal in welchem Bereich der Kunst. So hat er denn für seine «Führungen durch den Kopf des Künstlers» 48 prominente amerikanische Kulturschaffende befragt, wie sie arbeiten, was sie inspiriert und wie sie Blockaden überwinden. Unter seinen Gesprächspartnern sind Autoren, Journalisten, Fotografinnen, Theater- und Filmleute, Komponisten, Musiker, Köchinnen, Modedesigner, Maler, Zeichner und Bildhauer. Das Buch lebt von Moss’ fast unerschöpflicher Neugier gegenüber den unterschiedlichen Kreativprozessen und Instrumenten der interviewten Künstlerinnen und Künstler sowie deren Eigenheiten.
Penguin Press, New York 2024, 426 Seiten
Don Winslow: City in Ruins
Es ist schade, dass der begnadete amerikanische Thriller-Autor Don Winslow zu schreiben aufhört, um sich künftig als politischer Aktivist zu betätigen. Denn im letzten Buch seiner Trilogie über den früheren irischen Mafioso Danny Ryan, der vom untergeordneten Mafioso in Providence zum erfolgreichen Geschäftsmann in Las Vegas aufgestiegen ist, zeigt der Autor noch einmal seine ganze Meisterschaft bei der Beschreibung dubioser Charaktere und ihres unausweichlichen Untergangs in einer amerikanischen Gesellschaft, deren ethische Standards sich bis zur Unkenntlichkeit hin gewandelt haben – in einer Stadt wie Las Vegas, die den Übernamen «Sin City» trägt, erst recht. Danny Ryan hatte geglaubt, seine Vergangenheit hinter sich lassen zu können, doch sie holte ihn mit aller Macht ein.
William Morrow, New York 2024, 380 Seiten
Beat Stutzer: Gemeinsam unterwegs – Giuseppe Haas Triverio & M.C. Escher
Der Nidwaldner Giuseppe Haas-Triverio (1889–1963) ist als Künstler zu Unrecht fast vergessen. Doch während knapp drei Jahrzehnten in Rom ansässig, unternahm er in Italien und auf Malta fünf Studienreisen mit dem heute weltbekannten Niederländer M. C. Escher (1898–1972), deren Früchte, Zeichnungen und Holzschnitte der Kunsthistoriker Beat Stutzer zu einer faszinierenden Ausstellung im Museum Bruder Klaus in Sachseln und in einem mit Fotografien angereicherten Buch zusammengetragen hat. Die Zeichnungen und Holzschnitte der beiden Künstler leben auch von der Spannung, wie unterschiedlich sie sich denselben Sujets angenähert und diese kreativ verarbeitet haben. Haas-Triverios und Eschers Reisetagebücher und ein weiterführendes Literaturverzeichnis ergänzen den aufschlussreichen Kunstband.
Scheidegger & Spiess, Zürich 2024, 184 Seiten
- ROLF APP EMPFIEHLT
Annie Ernaux: Eine Leidenschaft
Annie Ernaux ist berühmt geworden durch Bücher, die in einer sehr nüchternen Weise um sie selber kreisen. Auch «Eine Leidenschaft» aus dem Jahr 1991, das jetzt in deutscher Übersetzung herausgekommen ist, ist so gearbeitet. Die Leidenschaft: Das ist ein verheirateter Mann, mit dem sie eine Liebesbeziehung hat. Sie erlebt eine totale Abhängigkeit, die erst aufhört, als der Mann – ein Ausländer – zurückkehrt in seine Heimat. Noch einmal treffen sie sich, und sie kommt zur Einsicht, dass gerade dieses in der Abgeschiedenheit ihrer Wohnung Erlebte ihre Verbindung zur Welt gestärkt hat – weil sie «herausgefunden hat, wozu man fähig ist – zu allem nämlich».
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 70 Seiten
Sebastian Conrad: Die Königin
Als sie 1924 in Berlin ein erstes Mal ausgestellt wird, erregt die Büste der ägyptischen Königin Nofretete das Staunen der Welt. Heute ist ihr Kopf omnipräsent, er ist aufgeladen mit politischer Bedeutung – eine Frau mit politischer Macht, ein Symbol für Afrika als Pionier der Zivilisation, eine Verkörperung von Black Power, ein Symbol für Diversität. In seinem anregenden Buch «Die Königin. Nofretetes globale Karriere» beschreibt der Historiker Sebastian Conrad nicht nur Entdeckung und Aneignung Nofretetes durch die Kolonialmacht Deutschland, sondern auch die Bedeutungsverschiebungen in der Gegenwart.
Propyläen Verlag, Berlin 2024, 376 Seiten
Hans Platzgumer: Diese ungeheure Welt in meinem Kopf
Im Traum bittet Franz Kafka die Tänzerin Eugenie Eduardowa, «sie möchte doch den Csárdás noch einmal tanzen». Eugenie: So heisst die Frau, die mit ihrem Liebhaber eines Tages beim Wiener Taxifahrer Sascha Konjovic einsteigt, der gerade Kafka liest. Sie begleitet ihn auf einer Irrfahrt, die tief ins Innere seines Lebens und in den Dschungel in seinem Kopf führt. Ununterbrochen redet er mit Milo, seinem Bruder, empfängt Befehle, widersetzt sich ihnen. Kafka bewahrheitet sich: «Die Einsamkeit, die mir seit jeher aufgezwungen war, wird jetzt ganz unzweideutig und geht auf das Äusserste.»
Elster & Salis Verlag, Wien 2024, 179 Seiten
- HEINER HUG EMPFIEHLT
Benedikt Eppenberger: Heidi, Hellebarden und Hollywood
Auch das ist ein Stück Schweizer Geschichte. Und was für eins. In diesem Jahr feiert die von Lazar Wechsel gegründete Präsens-Film, die älteste Filmgesellschaft der Schweiz, ihr hundertjähriges Bestehen. Aus diesem Anlass erzählt der SRF-Mann Benedikt Eppenberger auf fesselnde, unterhaltsame Art, wie die grossen Präsens-Blockbusters zustande kamen. Wer kennt sie nicht, die Filme «Wachtmeister Studer», «Heidi», «Ueli der Pächter», «Es geschah am hellichten Tag» etc.? Erzählt wird auch, mit welch riesigen, auch politischen Problemen das Filmschaffen zu kämpfen hatte. Da wird gemobbt und intrigiert. Alphatierchen, Geldgeber, Regisseure, Schauspieler, liegen sich in den Haaren. Während des Krieges wird Präsens in die geistige Landesverteidigung eingespannt. Selbst das Militärdepartement mischt sich ein und favorisiert einen faden Konkurrenzfilm zu «Gilberte de Courgenay»: «S’Margritli und d’Soldate». Das gut recherchierte Buch, angereichert mit Hunderten köstlicher Anekdoten, gibt nicht nur Einblick in schweizerisches Filmschaffen: Es ist es auch ein politisches Buch.
NZZ libro, Zürich 2024, 334 Seiten
Sung-Yoon Lee: Die Schwester
Sie ist klug, ehrgeizig, skrupellos, hübsch, radikal, geheimnisvoll – und höchstgefährlich. Über Kim Yo-jong, die Schwester des nordkoreanischen Diktators Kim Jong-un, wusste man bisher wenig. Der in den USA lehrende Nordkorea-Experte Sung-Yoon Lee nähert sich ihr nun an und bezeichnet sie als «die gefährlichste Frau der Welt». Wie ihr Bruder ist sie eine Agitatorin und völlig unberechenbar. Ist sie sogar mächtiger als ihr Bruder? Sie droht mit dem Einsatz von Atomwaffen und der Vernichtung Südkoreas – und der Autor nimmt diese Drohungen ernst. Im Gegensatz zu ihrem Bruder spricht sie Englisch, ist intelligent, weltgewandt und über die Weltlage top-informiert. Ist Kim Yo-jong eine tickende Zeitbombe? Und mit ihr Nordkorea? Ein Buch, das uns nicht kalt lassen darf.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2024, 304 Seiten
Alberto Grandi: Mythos Nationalgericht
Warnung: Wenn Sie in den Ferien an einem italienischen Strand liegen, zeigen sie sich nicht öffentlich mit diesem Buch. Das könnte für Sie schlecht enden. Eigentlich sind die Italiener und Italienerinnen ja ein friedliches Volk. Doch wenn ihre Küche angegriffen und lächerlich gemacht wird, werden sie rabiat. Genau das tat der Wirtschaftshistoriker Alberto Grandi. Er weist nach, dass vieles in der italienischen Küche gar nicht in Italien erfunden wurde, sondern ganz einfach geklaut ist: aus Asien, Spanien, den USA und anderswo. Die in Italien fast religiös verehrte italienische Küche hat eine böse Schramme gekriegt. Die Nation ist in ihrem Stolz tief gekränkt. Rechtsaussen-Vizeministerpräsident Salvini tobte und verlangt eine Bestrafung des Autors. Doch das Buch ist witzig geschrieben und nimmt vieles nicht allzu ernst. Der Autor ergötzt sich an den wütenden Reaktionen.
Harper Collins, Hamburg 2024, 256 Seiten