
Auch die zweite Festivalwoche hat eher mit Höhen als mit Tiefen überrascht. Mario Martone etwa hat mit «Nostalgia» ein leuchtendes Porträt seiner Heimatstadt Neapel geschaffen. Doch keine Produktion hat bei der Kritik Einstimmigkeit erreicht.
Manchmal, wenn sich nach den zehn Festivaltagen der Staub gelegt hat, sticht eine einzelne Produktion heraus, wie etwa 2019, als «Parasite» von Bong Joon-ho im Anschluss an die Goldene Palme nicht nur vier Oscars, sondern auch einen «Golden Globe» und den «Bafta Award» für den besten nicht englischsprachigen Spielfilm gewann. In der letztjährigen Ausgabe wurde «Drive my Car» vom Japaner Ryûsuke Hamaguchi, der Gewinner des Drehbuchpreises, zum internationalen Phänomen der Arthouse-Säle.
Ernüchterung nach dem «arabischen Frühling»
In Abwesenheit eines Favoriten zeugt die diesjährige Ausgabe immerhin von den tektonischen Verschiebungen, die die filmische Geografie neu ausrichten: Die Abwesenheit chinesischer Regisseure kontrastierte mit der beeindruckenden Kraft der koreanischen Produktionen; die Bilder vom Krieg in der Ukraine haben den ethischen und politischen Massstab verfeinert, an dem sich die Spielfilme messen lassen mussten. Unübersehbar waren auch die Spuren, die der «arabische Frühling» und die darauffolgende Ernüchterung hinterlassen haben: «Boy from Heaven» von Tarik Saleh spielt in Ägypten und wirft seine kaum halbwüchsige Figur in den blutigen Krieg zwischen Staatsgewalt und religiösem Archaismus, während «Leila’s Brothers» des Iraners Saeed Roustayi den langsamen Zerfall der iranischen Familienstrukturen nachzeichnet.
Formal ist «Boy from Heaven» wie ein politischer Thriller inszeniert: Adam, der Sohn eines Fischers, erhält einen Studienplatz an der Azhar-Universität in Kairo, als der grosse Imam, die höchste sunnitische Autorität des Landes, unvermutet stirbt. Vom Geheimdienst rekrutiert, der einen regierungstreuen Nachfolger durchsetzen will, sieht sich Adam den Drohungen der Muslimbrüderschaft ausgesetzt, die einen fundamentalistischen Kandidaten ins Amt heben will.
Die geschwungenen Sarazenerschwerte und die schweren Gemäuer, hinter denen Intrigen geschmiedet werden, sind bekannte Versatzstücke aus dem Actionkino; ungesehen ist, dass auch eine islamische Institution als Dekor dienen kann. «The Nile Hilton Incident», Salehs vorheriger Film, der frontal die polizeiliche Korruption ansprach, gewann den Grossen Jury-Preis des Sundance-Festivals und wurde von der heimischen Zensur auf den Index gesetzt. «Boy from Heaven» hat wohl ebenfalls kaum Chancen, in ägyptischen Kinos gezeigt zu werden.
Tränen als einzige Lebenszeichen
Saeed Roustayi, der Autor von «Leila’s Brothers», hatte sich als versierter Regisseur bereits mit dem Film noir «Just 6.5» einen Namen gemacht. Hier erinnert seine Darstellung des familiären Kosmos an den kühlen Blick, der Asghar Farhadi auf seine Figuren wirft: Esmail, der Patriarch, verliert aufgrund der wirtschaftlichen Krise die finanziellen Mittel, die es ihm erlauben würden, sich gegenüber seinem breiteren Familienclan zu behaupten. Seine Entscheidung, die Zukunft seiner Kinder einem überholten Ehrenverständnis zu opfern, bringt seine Tochter Leila auf den Plan, die ihre Brüder versammelt, um der väterlichen Autorität entgegenzutreten.
Mit unerbittlicher Logik führt Roustayis dialogreiches Script die Familie an den Abgrund – die schwelenden Konflikte brechen auf, der Horizont verengt sich, der schwarze Humor weicht der Verzweiflung. In der Schlussszene fällt künstlicher Schnee auf ein Kinderfest: Die Welt der Erwachsenen ist im Stillstand, das einzige Lebenszeichen kommt von den Tränen, die über die Gesichter laufen.
Wie lässt sich die Balance zwischen Drehbuch und Improvisation, zwischen Kontrolle und Freiheit finden? Claire Denis, die dieses Jahr mit «Stars at Noon» im Wettbewerb vertreten ist, baut auf die gleichnamige Publikation von Denis Johnson (1986), siedelt die Handlung jedoch nicht in den Wirren der sandinistischen Revolution, sondern in der Jetztzeit an. Gefährlich ist der zentralamerikanische Staat allerdings weiterhin: Trish und Daniel, eine amerikanische Journalistin und ein britischer Spion, werden bedroht, später stirbt ein Taxifahrer, ein Wagen geht in Flammen auf. Die Regisseurin lässt die Liebesgeschichte mit einer geopolitischen Verschwörung kollidieren, doch das Geschehen bleibt zu ungefähr, um übers Zeichenhafte hinauszugehen. Was in «Beau Travail» (1999) zu einer hypnotischen Seherfahrung wurde wirkt hier kraftlos: die Körper sind erotisiert, die Gesten sinnlich, und doch greift die für Claire Denis’ Filme so typische «Berührungsästhetik» ins Leere.
Leuchtendes Porträt Neapels
«Nostalgia» von Mario Martone wiederum scheint sich ganz auf seinen feinschraffierten Hintergrund zu konzentrieren. Neapel, die Heimatstadt des Regisseurs, erweist sich erneut als das ästhetische Epizentrum seiner Arbeit: «Morte di un matematico napoletano», 1994 an der Mostra von Venedig uraufgeführt, machte Martone zur Nachwuchshoffnung des italienischen Kinos, nach einer durchzogenen Karriere in den 2000er Jahren folgte 2014 seine Leopardi-Biografie «Il giovane favoloso» und, 2021, «Qui rido io», dem Komikergenie Eduardo Scarpetta gewidmet.
Die vordergründige Handlung von «Nostalgia» – eine Männerfreundschaft, von Verbrechen und Verrat aus dem Lot gebracht – wirkt hier als Vorwand, um der süditalienischen Metropole erneut ein leuchtendes Porträt zu widmen. Die Kamera, den mäandernden Schritten eines vom Heimweh verzehrten Rückkehrers folgend (ein grossartiger Pierfrancesco Favino), führt durch die Katakomben und die Kirchen, streift Gemüsestände und Restaurants, blickt über das Häusermeer auf den Vesuv und verliert sich in den engen Gassen: Unter dem Blick des Protagonisten wird der schleichende Zersetzungsprozess Neapels ebenso erfahrbar wie der geheimnisvolle Magnetismus der Stadt.
Ein ähnliches Gespür für den «endroit juste» hat allenfalls Christian Mungiu in «R.M.N.» entwickelt. Sein diesjähriger Wettbewerbsbeitrag spielt in Transsylvanien und registriert in langen, hart geschnittenen Einstellungen, wie sich die gesellschaftlichen und ethnischen Spannungen in der Bergregion am Ostrand Europas zum eigentlichen Stellungskrieg auszuweiten drohen. Vielleicht ist die Zeichnung des soziokulturellen Panoramas hier zu wenig stringent, um als Anwärter auf die Palme d’Or in die Kränze zu kommen – erschwerend kam in seinem Fall dazu, dass Mungiu für seine früheren Inszenierungen in Cannes neben der Hauptauszeichnung bereits einen Regie- und einen Drehbuchpreis entgegennehmen konnte und die Erwartungen entsprechend hochgesteckt waren.
Wunderkinder des Kapitalismus
Schwächer als die jeweiligen Vorwerke sind auch die Filme von Jean-Pierre und Luc Dardenne, Hirokazu Kore-Eda und Ruben Östlund, die ebenfalls bereits (mindestens) eine Palme aus Cannes davontragen konnten. In «Tori et Lokita» des belgischen Brüderpaars kippt die empathische Schilderung des Schicksals zweier heranwachsender Flüchtlinge aus Afrika ins Manichäische, Kore-Eda – der seine Handlung in die südkoreanische Hafenstadt Busan disloziert – baut auf das Drama der Kindsaussetzung, um seiner Analyse der Familienstrukturen, die sich wie ein roter Faden durch seine Filmgrafie zieht, ein weiteres Kapitel hinzufügen. Der Schwede, vor fünf Jahren mit «The Square» prämiert, zeigt in «Triangle of Sadness» am Beispiel seiner Figuren – Models und Influencer, Landminenproduzenten und IT-Milliardäre –, wie sich der Kapitalismus seiner terminalen Phase nähert und am Ende seine Wunderkinder frisst. Der Film ist als Laborprojekt konzipiert, das jedes Lebenszeichen vermissen lässt: Die Protagonisten werden zu den Wortführern eines nihilistischen Drehbuchs, der Ton ist sarkastisch, die Regie hochpräzis. Kein anderer Film hat die internationale Presse dieses Jahr ähnlich gespalten.
Eher gut reifen David Cronenbergs Obsessionen, die er in «Crimes of the Future» in einer neuen Variation zum Ausdruck bringt. Wie in «Crash» und «Dead Ringers» bildet auch hier der chirurgisch modifizierte, futuristische Körper den Horizont des Films – neu ist vielleicht, dass die wuchernden Organe, die Viggo Mortensens Figur ins insektenförmige Orthopädiebett zwingen, indirekt auch auf den Alterungsprozess des bald achtzigjährigen Filmemachers verweisen. Park Chan-wook, mit «Old Boy» und «Lady Vengeance» bekannt geworden, hat mit «Decision to Leave» eine virtuos inszenierte Neuauflage von Verhoevens «Basic Instinct» vorgelegt, in der die Beziehung zwischen dem adretten Polizisten und der jungen Witwe zwischen Verdachtsmomenten und gegenseitigen Verführungsversuchen oszilliert.
Zerbombte Städte
Einen bleibenden Eindruck hat auch Sergei Loznitsas «The Natural History of Destruction» hinterlassen. Die Dokumentation, die aus einer kommentarlosen Montage von Archivbildern des alliierten Luftkriegs am Ende des 2. Weltkriegs besteht, war noch in Produktion, als am 24. Februar die russische Invasion begann. Auf die einführenden Bilder aus dem deutschen Alltag unter dem Nationalsozialismus folgen Aufnahmen von der englischen Rüstungsindustrie und schliesslich Luftaufnahmen der Bombenabwürfe und die darauffolgenden Rauchkolonnen. Die letzten Sequenzen zeigen die gespenstische Leere, die in den zerbombten Städten herrscht. Manchmal braucht es den zeitlichen und physischen Abstand, um zum «richtigen Bild» zu gelangen.