
Einen Tag nach dem Getreide-Abkommen von Istanbul haben russische Kräfte die Hafenstadt Odessa mit Raketen getroffen. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj sieht den Sinn der Vereinbarung in Frage gestellt. Russland erklärt, es habe nichts mit dem Beschuss zu tun. Das am Freitag geschlossene Abkommen sieht vor, dass von Odessa und zwei anderen Häfen aus Millionen Tonnen ukrainischen Getreides exportiert werden. Nachdem Russland zunächst erklärt hatte, es habe mit dem Angriff «absolut nichts zu tun», teilte das russische Verteidigungsministerium am Sonntag mit, der Angriff habe einem Lager mit amerikanischen Raketen gegolten.
Nach Angaben des Moskauer Verteidigtungsministeriums hätten sich im Hafen ein ukrainisches Kriegsschiff und ein Lager mit amerikanischen Harpoon-Raketen befunden. Solche hatten der russischen Kriegsmarine mehrfach schwere Schläge versetzt, vor allem auch beim Kampf um die Schlangeninsel. Ziel sei neben dem Kriegsschiff und den US-Raketen auch eine Reperaturwerkstätte für ukrainische Kriegsschiffe gewesen.
Am Samstag hatte Russland noch bestritten, dass es etwas mit dem Raketenangriff zu tun hat. «Die Russen haben uns mitgeteilt», erklärte der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar, «dass sie absolut nichts mit diesem Angriff zu tun hätten und dass sie diese Angelegenheit sehr genau und im Detail untersuchen.» Der Angriff sei bedauerlich.
Die Uno, die EU und auch das Schweizerische Aussenministerium hatten den russischen Angriff auf den Hafen von Odessa aufs Schärfste verurteilt. Nach wochenlangen Verhandlungen hatten sich die Ukraine und Russland auf ein Abkommen geeinigt. Vermittelt wurde die Vereinbarung von der Uno und vor allem von der Türkei.
Der ukrainische Präsident Selenskyj hat den Angriff als Bruch des Abkommens gewertet. Der Beschuss beweise «nur eins: Egal was Russland sagt oder verspricht, es wird Möglichkeiten finden, es nicht umzusetzen».
Unterzeichnung am Freitag
Das Abkommen war am Freitag bei einer feierlichen Zeremonie unterzeichnet worden. Lord Malloch-Brown, der ehemalige stellvertretende Generalsekretär der Uno, hatte erklärt, die Vereinbarung sei «ein wichtiger Anfang» und ein «diplomatischer Coup» für die Türkei. Uno-Generalsekretär Antonio Guterres sprach von einem «Hoffnungsschimmer».
Für die Ukraine drängt die Zeit. Die Silos sind übervoll. Über 20 Millionen Tonnen letztjährigen Getreides sollten so schnell wie möglich exportiert werden, um der jetzigen Ernte Platz zu machen. Diese ist bereits im Gang. Nach Angaben des Vorsitzenden des Verbandes der Landwirte und Grundbesitzer der Ukraine, Iwan Tomytsch, sind im Süden der Ukraine bereits 90% der Gerste geerntet worden, während die Weizen- und Rapsernte fast abgeschlossen ist. Weiter nördlich, in den Regionen Kiew und Tscherkassy, hat der Prozess gerade erst begonnen.
Welche Häfen?
Sollte Russland ein ukrainisches Getreideschiff angreifen, so wird die Ukraine nach Angaben von Präsidentenberater Podolyak «militärisch antworten». Die auslaufenden ukrainischen Schiffe würden «nicht durch russische Schiffe begleitet». In den ukrainischen Häfen würde es «keine russischen Vertreter» geben.
Laut der Vereinbarung sollen der Hafen von Odessa und zwei weitere nahe bei Odessa liegende Häfen für den Getreidetransport bestimmt worden sein, nämlich: Tschornomorsk, 20 Kilometer südlich von Odessa und Pivdennyi Port, etwa 30 Kilometer nordöstlich von Odessa, der grösste kommerzielle Hafen der Ukraine.
Koordinierungszentrum in Istanbul
Die Schiffe sollen gemäss Abkommen durch einen sicheren Korridor durchs Schwarze Meer fahren, den Bosporus passieren, um dann die Weltmärkte zu erreichen.
Die Schiffe werden von einem gemeinsamen Koordinierungszentrum (Joint Coordination Centre, JCC) überwacht, das seinen Sitz in Istanbul hat und dem Vertreter der Ukraine, Russlands, der Türkei und der Uno angehören.
Die Schiffe würden vor ihrer Ankunft in der Ukraine von russischen, ukrainischen, türkischen und Uno-Beamten inspiziert, um sicherzustellen, dass sie keine Waffen transportieren.
Für 120 Tage
Die Ukraine und Russland haben sich verpflichtet, keines dieser Getreideschiffe anzugreifen. Im Falle eines Zwischenfalls würde die JCC eingreifen, um mögliche Probleme zu lösen.
Die Vereinbarung gilt für 120 Tage ab dem Datum der Unterzeichnung und kann um den gleichen Zeitraum verlängert werden, sofern nicht eine der Parteien ihre Absicht bekundet hat, sie zu kündigen, erklärte der ukrainische Minister Oleksandr Kubrakov, der die Vereinbarung unterzeichnet hat.
Zu wenig Schiffe
Die Ukraine steht jetzt vor einem grossen logistischen Problem: Es fehlen Schiffe und Matrosen, um das Getreide zu exportieren.
John Stawpert von der Internationalen Schifffahrtskammer sagte, in den ukrainischen Häfen befänden sich nur 450 Seeleute. Zu Beginn des Krieges seien es 2’000 gewesen.
Um das Getreide zu exportieren, wären etwa 400 grossräumige Transportschiffe nötig. Zur Zeit stünden aber nur gut 100 Schiffe zur Verfügung.
Sinkende Preise
Nachdem bekannt wurde, dass ein Abkommen in der Luft liegt, haben die Weizenpreise auf den internationalen Märken nachgegeben. Der Preis für Chicagoer Weizen-Futures – eine wichtige Referenzgrösse für den Weltmarkt – fiel am Freitagmorgen um mehr als 3%, während der Preis für Mahlweizen um mehr als 4% sank.
Der Preis für britische Futterweizen-Futures – eine europäische Benchmark für Futterweizen – sank um fast 3%.
Risiken
Mit dem Abkommen will Russland das hässliche Image loswerden, wonach es das Getreide als Kriegswaffe gebrauche und damit Millionen von Menschen in den Hunger treibt.
Die Vereinbarung birgt viele Risiken in sich. Die Ukraine befürchtet, dass Russland die vereinbarten Getreide-Routen vor Odessa für künftige Militäroperationen nutzen könnte.
Dazu erklärte das ukrainische Aussenministerium, es werde nur ein Abkommen unterstützen, das «die Sicherheit der südlichen Regionen der Ukraine» und «die starken Positionen der ukrainischen Streitkräfte im Schwarzen Meer» garantiere.
Russland seinerseits will sichergehen, dass die Ukraine nicht versucht, das Abkommen zu nutzen, um Waffen und andere Güter einzuschmuggeln.
Die Reedereien sind skeptisch. Sollte es zu einem Angriff auf ein Getreide-Schiff kommen, könnte damit das gesamte Abkommen gefährdet werden.
Die Uno ist erleichtert
Mit Erleichterung hat das WFP, das Welternährungsprogramm der Uno, das Abkommen zur Kenntnis genommen. Letztes Jahr versorgte das WFP 400 Millionen vom Hunger bedrohte Menschen mit ukrainischem Getreide. Die Uno betonte immer wieder, dass der Welt eine Hungerkrise katastrophalen Ausmasses drohe, wenn die Schwarzmeerhäfen nicht freigegeben werden.
Das IKRK, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, erklärt, dass die steigenden Preise für Lebensmittel, Brennstoffe und Düngemittel in Verbindung mit der Dürre und den Konfliktregionen am Horn von Afrika zu einer «unumkehrbaren humanitären Krise mit unvorstellbaren menschlichen Kosten» führen. Neue Getreidelieferungen, grosszügigere Hilfslieferungen und eine Senkung der Lebensmittelpreise könnten viele Menschenleben retten.
In Uno-Kreisen heisst es, das Abkommen von Istanbul sei eine Art «Mini-Waffenstillstandsabkommen». Die Uno-Beamten hoffen, dass jetzt weitere Vereinbarungen getroffen werden.
Misstrauen
Viele in der Ukraine trauen Putin nicht. Der ukrainische Abgeordnete Oleksiy Goncharenko erklärt gegenüber der BBC: «Wir glauben nicht an die Russen.» Sie würden nur dann ein Abkommen unterzeichnen, wenn sie keine andere Möglichkeit mehr sähen. «Ich bin sicher, dass Putin versuchen wird, dies als Druckmittel einzusetzen. Er wird alles tun, um diese Lieferungen wie Teelöffellieferungen zu einem Engpass zu machen. Wir werden also sehen.»
Die Ukraine betont, dass sie «kein Abkommen mit Russland» unterzeichnet habe. Mykhaylo Podolyak, ein Berater von Präsident Wolodimir Senelskyj, sagte: «Wir unterzeichnen ein Abkommen mit der Türkei. Russland wird ein spezielles ‘Spiegel’-Abkommen unterschreiben.»