Das Reinhart-Museum am Stadtgarten in Winterthur führt zurzeit zwei Meister der Karikatur zusammen, die zeitlich anderthalb Jahrhunderte voneinander getrennt sind: Honoré Daumier (1808–1879) und Raymond Pettibon (1957 geboren als Reymond Ginn).
Daumier, Sohn kleiner Leute, fängt in Paris ganz unten an als Laufbursche und Verkäufer, nimmt Zeichenunterricht. Ab 1830 arbeitet er für die Monatszeitschrift «La Caricature», zwei Jahre danach auch für die satirische Tageszeitung «Le Charivari». Im Verlauf seiner vierzigjährigen Tätigkeit als Karikaturist entstehen rund 4’000 Lithographien.
Daumier zeichnet schnell, meist direkt auf den Lithostein. Vereinzelt sind zwar Studien erhalten geblieben, welche eine sorgfältige Entwicklung von Motiven dokumentieren. Vor allem aber verlässt Daumier sich auf seine präzisen Beobachtungen. Zeitgenossen und Künstlerkollegen bewundern ihn für sein phänomenales visuelles Gedächtnis, das ihm erlaubt, Gesehenes zeichnerisch virtuos umzusetzen.
Das nachrevolutionäre Frankreich schwankt heftig zwischen republikanischen Aufbrüchen und restaurativen Rückschlägen. Vor allem innenpolitische Themen unterliegen strenger Zensur. 1832 sitzt Daumier wegen majestätsbeleidigenden Karikaturen, die den «Bürgerkönig» Louis Philippe I. aufs Korn nehmen, für sechs Monate im Gefängnis – womit er noch vergleichsweise glimpflich davonkommt. Weniger heikel sind sozialkritische Sujets, und von der Obrigkeit geradezu gerngesehen sind Bildpamphlete gegen Frankreichs Feinde.
Solche Eindeutigkeiten gibt es beim Amerikaner Pettibon nicht. Weder hat er ein definiertes politisches oder soziales Engagement noch ist er in seinem Schaffen einer Repression unterworfen. Pettibon gehört zu den desillusionierten Nachfahren der Flower-Power-Bewegung und entwickelt sich in der kalifornischen Punkszene zum Künstler. Die postideologische Welt des Konsums und das «Anything goes» der fragmentierten Kultur sind nicht dazu angetan, einem kreativen und kritischen Geist produktive Reibung zu bieten oder eine klare Orientierung zu geben.
In dieser geistigen Situation bildet die Kunstszene ein Soziotop der Unangepassten. Hier finden sie Verständnis und Anerkennung, allenfalls ein Auskommen oder gar Erfolg und Ruhm. Der Ruhm als Künstler bleibt Pettibon nicht versagt, und doch erklärt er immer wieder, er richte sich mit seinen Arbeiten nicht an die Klientel der Galerien und den Kunstbetrieb. In einem Interview sagt er: «It would mean more to me to go outside this frenetic gallery system where you’re preaching to the converted.»
Dieses «outside» sind für Pettibon seine Cover-Zeichnungen und Flyers für Punkbands, seine Underground-Zines, die in urbanen Szenen verbreiteten Stickers. Was in der Kultur als «low» gilt, formt er aus gemäss den Codes dessen, was als «high» geachtet ist. Pettibon als Karikaturisten zu bezeichnen, passt eigentlich nicht. Er ist ein Künstler, der sich mit seiner Umwelt und mit der geistigen Situation der Zeit oft karikierend auseinandersetzt. Soll man sein Bild Donald Trumps als Karikatur rubrizieren? Ist es nicht vielmehr ein Bild, das ganz in der klassischen Tradition kritischer Herrscherporträts die Persönlichkeit dieses Menschen herausstellt?
Auch ein Honoré Daumier ist mit der Bezeichnung Karikaturist – obwohl er mit seinem zeichnerischen Genie dieses Genre auf das höchstmögliche Niveau gebracht hat – als Künstler nicht vollständig erfasst. Die Winterthurer Ausstellung zeigt Daumier mit mehreren Exponaten als hervorragenden Zeichner, Maler und Skulpteur mit Sujets ohne karikierenden Charakter.
Trotz extremer Unterschiedlichkeit der Stile und Praktiken wie auch der historischen Umstände ihres Schaffens treten die Parallelen zwischen den beiden Künstlern klar hervor. Sie werden umso deutlicher, je mehr man sich auf die Gegenüberstellung ihrer Werke einlässt. Die Winterthurer Ausstellung ist ein Muster klug konzipierter und kuratierter Kunstpräsentation.
Kunst Museum Winterthur / Reinhart am Stadtgarten: Daumier – Pettibon, bis 4. August 2019, kuratiert von Andrea Lutz und David Schmidhauser, Katalog