Mehrere Länder, so auch die Schweiz, sind mit einer massiven vierten Corona-Welle konfrontiert. Die Diskussionen um eine Impfpflicht nehmen Fahrt auf.
Österreichs Regierung plant sie für das Frühjahr 2022, in Deutschland wird die Frage demnächst im Bundestag debattiert: die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht gegen Corona. Mit zunehmender Dauer der Pandemie haben sich überall die Meinungsbilder in Richtung einer Akzeptanz von Impfobligatorien verschoben. Auch unter Fachleuten der Rechtswissenschaften und der Ethik haben sich die Diskurse in diesem Sinn verändert.
Überwältigende Evidenz
Das kann nicht verwundern, denn mittlerweile ist die Evidenz einfach überwältigend: Hohe Impfraten stehen mit geringerer Pandemiedynamik in Zusammenhang. Portugal mit seinen 87 Prozent doppelt Geimpften steht entschieden besser da als die Schweiz mit 67 Prozent. Auch die Unterschiede innerhalb der Schweiz sind happig: Dem Kanton Appenzell Innerrhoden mit 54 Prozent Geimpften und einer 7-Tage-Inzidenz von über 1’000 steht das Tessin gegenüber, das mit 72 Prozent Geimpften und einer 7-Tage-Inzidenz von unter 300 eine viel günstigere Situation aufweist.
Es ist denn auch die gemeinsame Forderung aller anerkannten Experten, die Leute sollten sich unbedingt impfen lassen und die Behörden müssten das Tempo der Impfkampagnen erhöhen, um der vierten (oder fünften) Corona-Welle etwas entgegenzusetzen.
An Gründen, die angeblich gegen das Impfen sprechen, hört man so vieles. Da sind zum einen die prinzipiellen Impfgegner. Dieser harte Kern wird auf wenige Prozent der Bevölkerung geschätzt. Er weist alle Kennzeichen einer hermetischen Sekte auf und ist für rationale Argumente offenkundig nicht erreichbar. Überzeugte Impfgegnerinnen sind taub für die Tatsache, dass von sämtlichen medizinischen Errungenschaften das Impfen die wichtigste und erfolgreichste ist.
Da ist wohl nichts zu machen. Wer die Erde für eine Scheibe hält oder glaubt, deren Erschaffung in sechs Tagen sei eine eherne Tatsache, der sich alle Wissenschaft unterzuordnen habe, bleibt eben bei seinen Hirngespinsten. Wenn die Anhänger solcher Konstrukte nicht allzu zahlreich sind und so lange sie nicht öffentlichen Einfluss bekommen (wie fatalerweise die Kreationisten in Teilen der USA), ist das auch nicht weiter schlimm. So wie die Gesellschaft mit einer beschränkten Zahl von Sektierern zu Rande kommt, sind auch ein paar Prozent unbeirrbare Impfverweigerer epidemiologisch zu verkraften.
Die problematischen dreissig Prozent
Problematisch sind jedoch die rund dreissig Prozent Zögerer und Verweigerer, die wahrscheinlich keine doktrinären Impfgegner sind, aber sich dennoch bislang nicht gegen Corona haben impfen lassen. Sie sind es, die den Rückstand der Schweiz gegenüber Portugal bewirken. Warum weichen sie der Impfung aus?
Die zahlreichen Befragungen unter Impfunwilligen ergeben ein komplexes Bild. Es zeigt eine gehörige Portion Skepsis gegen den Staat, der angeblich aus Machtgier über Menschen und deren Daten verfügen wolle. Ebenfalls eine grosse Rolle spielt das Misstrauen gegen Big Pharma, der man reines Profitstreben unterstellt und keinerlei andere Motive zutraut. Doch die wichtigste Komponente ist eine diffuse Furcht vor neuartigen und angeblich nicht ausreichend getesteten Impfstoffen. Da ist dann die Rede von Langzeit-Impffolgen, die man noch nicht kenne. Und natürlich findet sich für jede derartige Befürchtung ein Experte, eine Studie oder wenigstens ein «Fall», der sie angeblich bestätigt.
Fakten und Verschwörungsgeschichten
Inzwischen aber sind die Vakzine milliardenfach verimpft. Weltweit stehen die Impfkampagnen unter scharfer fachlicher Beobachtung. Unerwünschte Nebenfolgen sind – wie nicht anders zu erwarten – zwar vereinzelt aufgetreten. Sie wurden und werden aber von Fachleuten peinlich genau untersucht, und die Resultate gelangen jeweils rasch an die Öffentlichkeit. Anderslautende Behauptungen gehören ins Feld der Verschwörungsmythen, an denen seit Ausbruch der Pandemie kein Mangel herrscht.
Dass es so schnell ging mit der Entwicklung der Impfstoffe, befeuert immer wieder Befürchtungen, diese seien nicht ausreichend überprüft worden. Offensichtlich ist das Verfahren schwierig zu verstehen, mit dem die Entwicklung «beschleunigt» wurde. Der Zeitgewinn resultierte daraus, dass einige der normalerweise nacheinander durchlaufenen Phasen einer Medikamentenentwicklung parallel durchgeführt wurden. Das macht man im Normalfall nicht, weil es extrem teuer ist. Die Entwickler riskieren bei dem «beschleunigten» Verfahren, dass sie weit zurückgeworfen werden, wenn eine Phase scheitert, auf der andere parallellaufende bereits wieder aufgebaut haben. So vorzugehen ist nur dann möglich, wenn viel Risikokapital eingesetzt wird. Das ist zum Glück machbar in einer Ausnahmesituation wie der Corona-Pandemie.
Ausser der Furcht vor unbekannten Langzeitfolgen, etwa einer Unfruchtbarkeit aufgrund der Corona-Impfung, bleibt bei nüchterner Betrachtung nichts übrig. Nun ist aber von derartigen Langzeitwirkungen bei Impfungen generell nichts bekannt. Gerade bei der angeblich drohenden Unfruchtbarkeit handelt es sich um ein Gerücht, das seit Generationen immer wieder die Runde macht, wenn es ums Impfen geht. Es passt halt nur zu gut in die gängigen Verschwörungserzählungen, wonach mit Impfkampagnen stets sinistre Absichten von Obrigkeiten oder versteckten Drahtziehern verbunden sind. So schliesst die unter Impfgegnerinnen und -gegnern geschürte Angst vor einer mittels Impfung absichtlich herbeigeführten Unfruchtbarkeit perfekt an die von Neu-Rechten propagierten Wahn-Erzählungen vom «Grossen Austausch» und der «Umvolkung» an.
Müssen Ängste als Tatsachen gelten?
Bei den Begründungen, die gegen die Corona-Impfung angeführt werden, handelt es sich also weder um geprüfte Fakten noch um rational vertretbare Meinungen. Die Impfstoffe sind so sicher, wie Medikamente nur sein können. Ihre Wirkungen sind belegt, und sie sind – wenn auch im Einzelnen unterschiedlich und im Zeitverlauf abnehmend – so gross, dass sie bei genügend breiter Anwendung zu den wichtigsten Mitteln im Kampf gegen die Pandemie zählen.
Bei nüchterner Betrachtung kann es an diesem Befund keinen ernsthaften Zweifel geben. Dass Impfungen nicht hundertprozentig schützen, dass Geimpfte immer noch ansteckend sein können, dass es Impfdurchbrüche gibt: das alles sind keine Argumente gegen das Impfen. Pandemiebekämpfung heisst Arbeiten mit grossen Zahlen, heisst in Statistiken und in Wahrscheinlichkeiten denken. Schon ein fünfzigprozentiger Schutz vor Ansteckung macht für die Entwicklung der Pandemie einen gewaltigen Unterschied, gar nicht zu reden von einem neunzigprozentigen Schutz vor schwerem Krankheitsverlauf.
Ideal wäre auf jeden Fall eine möglichst rasche und möglichst vollständige Durchimpfung der Bevölkerung. Die wenigen Totalverweigerer und die kleine Zahl der aus medizinischen Gründen nicht Impfbaren könnten dann gut verkraftet werden. Warum also tut man sich so schwer mit der Anordnung einer Impfpflicht?
Die Zögerer und Verweigerer sind, wie es scheint, nicht nur impfunwillig, sondern auch diskussionsunwillig, zumindest wenn man unter Diskussion einen Gedankenaustausch versteht, bei dem am Ende die rational stärker begründeten Argumente ein gemeinsam anerkanntes Ergebnis hervorbringen. Impfunwillige ticken anders. Sie fordern, dass man ihre Befürchtungen respektiert, dass man quasi ihre Ängste als unverrückbare Gegebenheiten anerkennt, auf die bei der Corona-Bekämpfung Rücksicht zu nehmen sei.
Der Grundsatz, Ängste seien ernst zu nehmen, gehört in die Psychotherapie und verwandte Bereiche. Mitten in einer Katastrophe eignet sich er sich nicht als Leitlinie politischen Handelns. Hier muss auf der Grundlage von Fakten gearbeitet und entschieden werden. Das heisst nicht, man brauche sich um die Geängstigten gar nicht zu bemühen. Man soll ihnen geduldig zuhören, mit ihnen das Gespräch suchen (bei nicht-sektiererischen Impfgegnern sollte dies möglich sein) und sie über die Fakten aufklären. Letztere können nicht zur Disposition stehen. Fakten nicht anzuerkennen, rächt sich über kurz oder lang für die ganze Gesellschaft.
Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit
Doch das Zurückweichen vor harten Forderungen in Sachen Impfen kann sich auf stärkere Argumente als nur die verbreiteten Befürchtungen stützen. Sowohl die Impfunwilligen wie auch zahlreiche politisch Verantwortliche spielen diese Karte: Es gibt ein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit.
Aus dem englischen Habeas Corpus von 1679, einem Rechtsinstitut, das jedem Inhaftierten die gerichtliche Überprüfung der Haftgründe zugestand, entwickelte sich die Vorstellung des Rechtsstaats, dessen Verfügungsgewalt über das Individuum beschränkt ist. Sowohl in Deutschland (wo die Diskussion aus historischen Gründen besonders engagiert verläuft) wie in der Schweiz garantiert die Verfassung das Recht auf körperliche (Schweiz: und geistige) Unversehrtheit. Steht dieses als Grundrecht bezeichnete Prinzip einer allgemeinen Impfpflicht im Weg?
Die Pflicht, sich mit einem nach allen Regeln der pharmazeutischen und ärztlichen Wissenschaft getesteten Wirkstoff gegen eine potenziell lebensbedrohende pandemisch verlaufende Infektionskrankheit immunisieren zu lassen, ist kein Verstoss gegen das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Die Impfung «versehrt» nicht, und die blosse Angst, durch sie «versehrt» zu werden, kann, da sie keine Faktengrundlage hat, kein Grund zur Ablehnung einer epidemiologisch begründeten Impfpflicht sein.
Impfpflicht oder Impfzwang?
Impfgegner sprechen in diesem Zusammenhang immer von «Impfzwang». Sie suggerieren, eine Impfpflicht würde mit einem Zwangsregime durchgesetzt – mit Fahndungstrupps, die Ungeimpfte aus ihren Wohnungen abführen und zu Impfkerkern schleppen, wo den verzweifelt Widerstrebenden gewaltsam die Injektionen verpasst würden. Eine groteske Überzeichnung? Kaum, denn die dystopischen Schreckens-Szenarien der Warner vor dem Impfzwang entwerfen genau solche Phantasien. Keine Frage, dass hier das Recht auf körperliche Unversehrtheit grob verletzt wäre.
Die Horrorbilder vom Impfzwang haben den Zweck, die ruhige Diskussion über eine Impfpflicht, die etwas ganz anderes ist als ein Impfzwang, zu verunmöglichen.
Unter rechtsstaatlichen Bedingungen ist eine Impfpflicht nur möglich in Form eines demokratisch legitimierten Gesetzes, dessen Anwendung gerichtlich überprüft werden kann. Die Einhaltung von Gesetzen wird nicht mit Zwang, wie ihn die Impfzwang-Dystopie schildert, durchgesetzt, sondern mit Sanktionen, in diesem Fall vermutlich mit Bussen und gewissen Restriktionen. Die Bewegungsfreiheit könnte eingeschränkt und die Ausübung bestimmter Berufe suspendiert werden, soweit dies epidemiologisch angezeigt ist. Ein solches Gesetz würde auch die Ausnahmen regeln, die Verfahren bestimmen und die Gültigkeitsdauer verhängter Impfpflichten begrenzen.
Langer Weg zu einer gesetzlichen Impfpflicht
Der Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht stehen hohe Hürden im Weg. Ein solches Gesetz wäre in der Schweiz kaum in der laufenden Pandemie realisierbar. Die Prozeduren der Legiferierung dauern zu lang und mit dem fakultativen Referendum kann eine Inkraftsetzung zusätzlich hinausgezögert und im Erfolgsfall verhindert werden.
Denkbar ist allenfalls die Schaffung der entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen im Zuge der rückblickenden Aufarbeitung, wenn dann die Corona-Pandemie einmal ausgestanden sein wird. Und selbst wenn dereinst die gesetzliche Impfpflicht als Instrument der Pandemiebekämpfung installiert sein sollte, wird deren Ausrufung immer die Ultima Ratio bleiben: das Mittel, zu dem der Staat greift, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind und nicht ausgereicht haben.
2G als praktikable Zwischenlösung
Heisst das, man lässt die Zögerer und Verweigerer mangels aktuell einführbarer Impfpflicht einfach gewähren und redet allenfalls gut zu? Eine solche Kapitulation vor der Ablehnungsfront wäre als Staatsversagen zu werten: ein Versagen vor der Aufgabe, die Bevölkerung mit allen wirkungsvollen Mitteln, die zur Verfügung stehen, vor der Pandemie zu schützen.
Mit dem Zertifikat und der 2G-Regel (nur Geimpfte und Genesene haben Zugang zu bestimmten Bereichen) kann der Staat einen partiellen Lockdown über Ungeimpfte verhängen. Der Bundesrat hat sich mit seinen jüngsten Massnahmen noch sehr zögerlich in dieser Richtung bewegt, indem er zunächst privaten Veranstaltern eine 2G-Policy erlaubt. Der Druck der öffentlichen Meinung und der Druck der Pandemiedynamik wird über kurz oder lang dazu führen, dass auch in der Schweiz grossflächig 2G gilt.
Kritiker monieren, damit werde erstens die Gesellschaft gespalten und zweitens auf die Ungeimpften ein faktischer Impfzwang ausgeübt. Dazu ist zu sagen: Gespalten ist die Gesellschaft bereits, und zwar durch die Verweigerungshaltung der dreissig Prozent Unsolidarischen. Diese Gruppierung beklagt schon lange, sie fühle sich unter Druck gesetzt. Das ist sicherlich so, doch der Druck kommt primär von der Pandemie, welche die Gesellschaft zum Handeln zwingt. Mit einer breit angewandten 2G-Regel kann der Druck gewissermassen richtig adressiert werden. Statt diesen gleichmässig auf alle zu verteilen, ungeachtet ihres individuellen Verhaltens, ist es besser, dort mehr Druck zu machen, wo das Verhalten bisher inadäquat ist.
Die oft beklagte Zweiklassen-Gesellschaft, die dadurch angeblich droht, hat immerhin den historisch einmaligen Vorteil, dass sich deren Mitglieder ihre «Klasse» frei wählen können.