Die neue Voltaire-Biographie von Volker Reinhardt führt hinein ins bewegte 18. Jahrhundert. Sie lässt die Kämpfe des radikalsten unter den Aufklärern miterleben und zeichnet das packende Lebensbild des ungeheuer produktiven Literaten und streitbaren Philosophen.
Nach dem Mordanschlag von Islamisten auf die Redaktion von «Charly hébdo» vor sieben Jahren stand auf manchen Protestbannern in Paris einfach nur ein Name: Voltaire. Dessen 1763 erschienener «Traité sur la tolérance» zählte nach dem Attentat während Wochen in Frankreich zu den meistverkauften Büchern.
Schreiben als Existenzform
Marie-François Arouet (1694–1778), bekannt unter dem selbstgewählten Namen Voltaire, ist unter den zahlreichen herausragenden Denkern und Genies seiner Zeit ein flamboyantes und irritierendes Phänomen. Als Sohn eines königlichen Finanzbeamten bekommt er im Jesuitenkolleg Louis-le-Grand eine solide humanistische Bildung und entdeckt seine Sprach- und Theaterleidenschaft. Das Schreiben wird zu seiner eigentlichen Existenzform.
Voltaire will Einfluss nehmen auf den Gang der Dinge, er ist ein Kämpfer mit der Feder, wie es vor ihm keinen gab.
Voltaire ist ein Intellektueller avant la lettre (der Begriff taucht erst nach seiner Zeit auf). Er will Einfluss nehmen auf den Gang der Dinge, er ist ein Kämpfer mit der Feder, wie es vor ihm keinen gab. Dabei ist er zugleich ein Realist, der in der Wahl der Mittel wenig Hemmungen kennt. Er weiss genau, dass er gegen Monarchen und Kirchenfürsten sowie deren Günstlinge nur ankommt, wenn er seine Beziehungen europaweit klug und berechnend spielen lässt und sich immer einen Fluchtweg offenhält.
Aus dem gleichen Grund sorgt der mit allen Wassern gewaschene Geschäftsmann für reichlich bemessene finanzielle Ressourcen. Voltaires Reichtum verschafft ihm bei den Mächtigen eine gewisse Respektabilität und ersetzt ihm so den Adelsstatus. Vor allem aber sorgt sein Geld für publizistische Schlagkraft, die im Kampf mit der Zensur dauernd gefordert ist.
Voltaires Vielseitigkeit und Rührigkeit sind stupend. Er hinterlässt Bühnenstücke, Poeme, Erzählungen, Abhandlungen, umfangreiche historiografische Werke, philosophische Lehrtexte, journalistische Recherchen, Pamphlete und Essays, deren Titel in die Hunderte gehen. Vielfach füllen einzelne Schriften gleich mehrere Bände. Hinzu kommen 20’000 überlieferte Briefe.
Seine geistige Produktion ist durchwegs mit den Problemen und Debatten sowie politischen Machtkämpfen des 18. Jahrhunderts verflochten und ruft heftige Reaktionen hervor. Mal bringt er die Kirchenoberen und andere Moralhüter gegen sich auf, dann wieder verliert er die Gunst eines Königs. Zweimal wird er in die Bastille geworfen, einmal flieht er ins Exil nach England.
Die englischen Jahre (1726–1729)
Dieser Aufenthalt auf der britischen Insel wird für Voltaire zur wegweisenden Erfahrung. Vorbereitet durch Selbststudium mit Wörterbuch und Grammatik, lernt er in England in ganz kurzer Zeit die Sprache so gründlich, dass er nicht nur philosophische, wissenschaftliche und politische Gespräche führen, sondern auch in Englisch publizieren kann. Mit Locke, Shakespeare und Newton hat er sich bereits zuvor beschäftigt.
Nun lernt er in England eine Gesellschaft kennen, in der im Unterschied zu Kontinentaleuropa das meritokratische Element eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Zunächst beeindruckt ihn, dass auf der Insel die Oberschicht – anders als zuhause in Frankreich – es nicht für mit ihrer Würde unvereinbar hält, geschäftlich tätig zu sein. Vor allem aber findet er im Gastland eine neue soziale Schicht vor, die dynamischen Wirtschaftsgeist mit einer aufgeklärten Kultur verbindet.
«Der Handel, der die Bürger in England reich gemacht hat, hat dazu beigetragen, sie frei zu machen, und diese Freiheit hat ihrerseits dem Handel Auftrieb verliehen.»
«Der Handel, der die Bürger in England reich gemacht hat, hat dazu beigetragen, sie frei zu machen, und diese Freiheit hat ihrerseits dem Handel Auftrieb verliehen; und dadurch hat sich die Grösse des Staates entwickelt.» So schreibt Voltaire in den «Lettres philosophiques» (ursprünglich: «Letters concerning the English Nation»), die im verknöcherten Frankreich begreiflicherweise wie eine Bombe einschlagen.
Diese Lektion lernt Voltaire in England für sein ganzes Leben: Geschäftlicher Erfolg ist die beste Grundlage, ja eigentlich sogar die Bedingung für geistige Unabhängigkeit. Voltaire ist deshalb nie zimperlich, wenn es darum geht, sein Vermögen zu mehren. Einen Grundstock beschafft er sich, indem er mit einem Kumpel die Pariser Lotterie knackt und mehrmals sämtliche Gewinne abkassiert – was wegen einer von ihm durchschauten Fehlkonstruktion möglich ist. Auch wenn es im Verlauf seines Lebens etliche finanzielle Abstürze gibt, schafft es Voltaire als gewiefter Spekulant und findiger Investor immer wieder, beträchtliche Vermögen anzuhäufen.
Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit einer genialen Frau
Der Bombeneinschlag der «Lettres philosophiques», die dem rückständigen Frankreich den Spiegel vorhalten und eine Entmachtung der Kirche fordern, zwingt Voltaire, sich vom Machtzentrum Paris, wo dauernd das Damoklesschwert einer Haft in der Bastille droht, fernzuhalten. Sein Refugium findet er in Schloss Cirey in der Champagne, das dem Ehemann seiner neuen Geliebten, Émilie du Châtelet (1706–1749), gehört. Dort, in sicherer Nähe der Grenze des deutschen Lothringens, verbringt er mit Émilie fünfzehn glückliche und produktive Jahre. Das Paar profitiert nicht nur von der Generosität eines abwesenden Ehemanns, sondern pflegt auch unter sich eine offene Beziehung.
Émilie du Châtelet ist eine bedeutende Mathematikerin und Physikerin. Sie studiert und kommentiert die Werke Newtons und korrespondiert mit Wissenschaftlern ihrer Zeit. Voltaires Horizont erweitert sich durch die Zusammenarbeit mit ihr. Er, dem das etwas heruntergekommene Schloss nicht gehört, renoviert und erweitert es auf eigene Kosten – offenbar in der Annahme, dort eine dauerhafte Bleibe zu haben.
Doch die Brüchigkeit dieser Idylle zeigt sich ihm in brutaler Deutlichkeit, als Émilie nach der Liaison mit einem Offizier schwanger wird und nach der Geburt einer Tochter im Kindbett stirbt. Das Kind, das ebenfalls nicht überlebt, ist vorher noch einvernehmlich dem Gatten untergeschoben worden. Man weiss im Adel die sonst so unbarmherzige Moral elastisch zu handhaben.
Voltaire und Friedrich II.
Immer wieder wirbt Friedrich II. von Preussen – erst als Kronprinz, dann als König – um Voltaire, er möchte ihn an seinen Hof nach Potsdam locken. Doch nachdem die preussische Option lange nicht in Voltaires Bemühungen um die Gunst des französischen Hofes gepasst hat, sieht Friedrich II. nach einer Reihe literarischer Fehlschläge Voltaires im Jahr 1750 seine Chance, den berühmten Homme de lettres endlich als Trophäe nach Preussen zu holen.
Voltaire wird sich rasch klar, dass er in Friedrichs europäischen Ambitionen nur eine kleine Nummer ist. Der Monarch sucht seinen Ruhm in siegreichen Kriegen; Flötenkonzerte und gelehrte Gespräche sind bloss Teil einer imperialen Inszenierung. Um bloss den intellektuellen Hofnarren zu spielen, ist Voltaire allerdings nicht geschaffen. Vielmehr stehen sich in diesen beiden Exponenten in geradezu exemplarischer Weise Geist und Macht gegenüber. Beide sind sich über den schwelenden Konflikt im Klaren.
In Voltaire und Friedrich II. stehen sich Exponenten von Geist und Macht gegenüber.
Voltaire transformiert seine Konfrontation mit dem Preussenkönig gewissermassen in sein grossangelegtes Werk «Das Zeitalter Ludwigs XIV.», das einerseits eine detailreiche Historiografie ist, andererseits eine Reflexion über Staat und Macht, die Rolle des Regenten sowie die Grundsätze und Praktiken des Regierens. Voltaire hat hier die Geschichtsschreibung mit Geschichtsphilosophie und Staatstheorie amalgamiert und auf ein neues Niveau gebracht.
Voltaire und Rousseau
Nach schweren Zerwürfnissen mit Friedrich II., der sich inzwischen «der Grosse» nennen lässt, verlässt Voltaire fluchtartig das ungeliebte Deutschland. Er, der neben Latein ausgezeichnet Englisch und Italienisch spricht, verschmäht zeitlebens das Deutsche.
Am 1. November 1755 wird Lissabon von einem Erdbeben zerstört. Das Ereignis stürzt die aufgeklärte Gelehrtenwelt, die sich in einem optimistischen Weltbild eingerichtet hat, in eine tiefe Krise. Voltaire antwortet mit dem «Poème sur le désastre de Lisbonne» mit dem Untertitel «Oder Überprüfung des Axioms: Alles ist gut». Es ist ein eindringlicher, in seiner Emotionalität für Voltaire ungewöhnlicher Text. Jede schlüssige Erklärung des Geschehens, jede Rechtfertigung philosophischer oder theologischer Theorien wird zurückgewiesen. Von der Theodizee, also der Gerechtsprechung Gottes angesichts des Elends in der angeblich von ihm geschaffenen Welt, will Voltaire nichts wissen. Klerikale Deutungen, das Unglück sei die Strafe für menschliche Sünden, lässt er erst recht nicht gelten.
Hier kommt der Aufklärer an seine Grenzen. Im «Poème» bleibt am Ende nur das stumme Dulden, das höchstens noch auf eine vorläufig nicht mögliche Einsicht zu hoffen wagt. Doch Voltaire hält diese intellektuell demütigende Position selbst nicht durch. In späteren Schriften legt er sich immer wieder fest auf den Glaubenssatz eines gütigen Schöpfers, der allerdings für die Menschen weder erkennbar noch ansprechbar ist. Diesen ausgedünnten Deismus hält er für notwendig, um die Möglichkeit des Denkens, des Erkennens und der Moral aufrechterhalten zu können.
1756 erlebt Voltaire ein weiteres Erdbeben: Jean-Jaques Rousseau (1712–1778) erhebt in einem langen Schreiben Einspruch gegen Voltaires «Poème» und eröffnet damit einen Schlagabtausch, der einen Höhepunkt der Aufklärungszeit markiert. Voltaire ist eine derart vehemente Auseinandersetzung auf Augenhöhe nicht gewohnt. Es ist neu für ihn, es mit einem intellektuell und sprachlich ebenbürtigen Gegner zu tun zu bekommen.
Rousseau kritisiert, Voltaires Lissabon-Poem tröste die Menschen nicht, sondern stosse sie nur tiefer ins Unglück. Dabei versucht Rousseau gar nicht, des Gegners Argumente zu widerlegen; er meint einfach, es sei nicht förderlich, auf diese Weise zu argumentieren: «In diesem Wechselspiel zwischen dem, was Sie belegen, und dem, was ich fühle: Beheben Sie die Unruhe, die mich verstört, und sagen Sie mir, wer sich irrt, ich mit der Empfindung oder Sie mit dem Verstand.»
Mit Rousseau meldet sich die grosse Gegenbewegung zur Ratio der Aufklärung. Sie setzt auf Empfindsamkeit. Die Zeit der Romantik beginnt.
Voltaire, der selbst immer schonungslos austeilt, ist fassungslos. Gegen den frechen Kritiker ist er sofort im Kriegszustand. Dass die geistige Entwicklung in eine andere Richtung als die der radikalen Aufklärung, wie er sie vertritt, gehen könnte, liegt ausserhalb seines Horizonts. Hier meldet sich die grosse Gegenbewegung zur Ratio der Aufklärung. Sie setzt auf Empfindsamkeit. Die Zeit der Romantik kündet sich an. Voltaire verliert die intellektuelle Dominanz im europäischen Diskurs.
Altwerden auf Schloss Ferney
Sich so einrichten, dass man jederzeit einen Fluchtweg hat: Dieser Lebensdevise ist Voltaire immer wieder gefolgt, und sie hat ihn wohl mehrmals vor dem Zugriff der Mächtigen gerettet. Nach der Potsdam-Episode hält er Distanz zu den Machtzentren. Er weiss, dass er es notorisch mit allen Obrigkeiten verdirbt. Nach der Rückkehr aus Deutschland versucht er es mit Genf, dort geht es eine Weile gut, doch seine Kritik- und Spottlust verträgt sich nicht lange mit dem spröden Calvinismus, der dort herrscht.
1758 schreibt er den philosophischen Kurzroman «Candide ou l’optimisme», ein ebenso sarkastisches wie unterhaltendes, für alle Rechtgläubigen unverdauliches Buch, das sämtliche unumstösslichen Wahrheiten fröhlich in der Luft zerreisst. Auch einige der von Voltaire selbst lange hochgehaltenen Gewissheiten werden im «Candide» zu Kleinholz verarbeitet, so insbesondere seine Option für eine aufgeklärte Monarchie als beste Staatsform. Der Held der Geschichte, von seinem Kumpan auf die Haltlosigkeit des aufklärerischen Optimismus und die völlige Hoffnungslosigkeit des Lebens angesprochen, setzt den berühmten Schlusspunkt des Buches: «Das ist gut gesagt, antwortete Candide, aber wir müssen unseren Garten bestellen.»
Dieser Devise folgt auch der alternde Voltaire. 1758, mit 64 Jahren, kauft er ein Schlösschen, das in Ferney bei Genf auf französischem Territorium liegt – weit weg von Paris, aber auch dank der Staatsgrenze vor dem Zugriff durch die Genfer Behörden geschützt. Voltaire wird durch den Kauf zum Gutsherrn – eine Rolle, die er zugunsten seiner Dorfbewohner gewissenhaft und fürsorglich ausübt. Hier hat er nochmals zwanzig enorm produktive Jahre. Er arbeitet fünfzehn Stunden am Tag, diktiert schon am frühen Morgen seine Schriften und Briefe, und er empfängt viele (für seinen Geschmack bald zu viele) Besucher, die den mittlerweile berühmtesten Mann Europas sehen wollen.
Als er die baufällige Kirche des Dörfchens restauriert, lässt er über dem Eingang eine Tafel anbringen: DEO EREXIT VOLTAIRE – für Gott hat Voltaire (diese Kirche) errichtet. Hat der alte Lästerer etwa mit der Religion seinen Frieden gemacht? Das ist kaum zu befürchten. Schon die Tafel zeigt, wie es gemeint ist: Das Wort VOLTAIRE ist deutlich grösser als die übrigen.
Als es dann ans Sterben geht (da ist er wieder in Paris), lässt er die zudringlichen Bemühungen des Priesters, der den Triumph einer Bekehrung des Religionsverächters ins Trockene bringen und dem Sterbenden die Kommunion aufnötigen will, mit einer letzten eleganten Volte ins Leere laufen: «Herr Abbé, beachten Sie, dass ich andauernd Blut spucke, wir sollten also verhindern, dass sich mein Blut mit dem des lieben Gottes vermengt.»
Volker Reinhardts Biographie erzählt das Leben Voltaires faktenreich und anschaulich. Seine wichtigsten Schriften sind resümiert, im Kontext des Gesamtwerks verortet und kritisch gewürdigt. Dabei nähert sich Reinhardt seinem Protagonisten an mit einer eleganten, oft witzigen, von Voltaire’schem Geist inspirierten Diktion. Das Buch ist ein Genuss sondergleichen.
Volker Reinhardt: Voltaire. Die Abenteuer der Freiheit. Eine Biographie, C. H. Beck 2022, 607 S.