
Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag (ICC) erlässt gegen den russischen Präsidenten einen Haftbefehl. Putin wird bezichtigt, die Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland angeordnet zu haben. Es gebe «hinreichende Gründe» anzunehmen, erklärt der ICC, dass Putin für die Deportation «persönlich verantwortlich» ist. Dies sei als «Kriegsverbrechen» einzustufen.
Laut amerikanischen Angaben hat Russland mindestens 6000 ukrainische Kinder aus den besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland deportiert. Dort werden sie zum Teil zur Adoption freigegeben, obwohl viele ihrer ukrainischen Eltern nach ihnen suchen. Die ukrainische Regierung spricht sogar von 16’000 verschleppten Kindern.
Zusammen mit Putin wird auch die 38-jährige Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa angeklagt.
Dmitri Peskow, der Sprecher von Putin, erklärte in einer ersten Reaktion: «Wir erkennen den Internationalen Strafgerichtshof nicht an.»
Keine Prozesse in Abwesenheit des Angeklagten
Der ICC (International Criminal Court), ein ständiges internationales Strafgericht, ist unter anderem zuständig für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.
123 Länder erkennen zur Zeit den Strafgerichtshof an, nicht jedoch China, Äthiopien, Indien, Indonesien, Irak, Nordkorea, Saudi-Arabien, die Türkei, Russland, der Sudan und die USA.
Der Strafgerichtshof führt keine Prozesse in Abwesenheit der Angeklagten. Damit Putin in Den Haag der Prozess gemacht werden kann, müsste er also ausserhalb Russlands verhaftet oder von russischen Kreisen ausgeliefert werden.
Beides wird wohl nicht so schnell geschehen. Putin hat seit Beginn des Krieges Moskau nur selten verlassen und nie ein westliches Land besucht.
Freude in der Ukraine
Die Anklage des Strafgerichtshofs hat vor allem eine hohe symbolische Bedeutung. In der Ukraine ist die Meldung mit viel Freude aufgenommen worden.
«Dies ist ein klares Signal und zeigt den russischen Eliten, was mit ihnen geschehen wird», erklärte Mykhailo Podolyak, ein Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Er fügte bei: «Dies ist der Anfang vom Ende Russlands in der jetzigen Form auf der Weltbühne.»
Der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba kommentierte: «Die Räder der Gerechtigkeit drehen sich.»
«Niemand soll glauben, dass er einen Freipass hat.»
«Es liegt nicht ausserhalb des Bereichs des Möglichen, dass der russische Präsident irgendwann vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt wird», sagt der ICC-Chef-Ankläger Karim Khan am Freitag in einem Interview mit CNN. «Niemand soll glauben, dass er einen Freipass hat.»
«Ich denke», erklärt Khan weiter, «dass diejenigen, die es für unmöglich halten, dass Putin in Den Haag erscheint, die Geschichte nicht verstehen. Die grossen Nazi-Kriegsverbrecher, der ehemalige jugoslawische Präsident Slobodan Milošević, der ehemalige bosnisch-serbische Politiker Radovan Karadžić, der ehemalige bosnisch-serbische Militäroffizier Ratko Mladić, der ehemalige liberianische Präsident Charles Taylor, der ehemalige Premierminister Jean Kambanda aus Ruanda, Hissène Habré, der ehemalige Präsident des Tschad – sie alle waren einst mächtige Persönlichkeiten, und doch fanden sie sich in Gerichtssälen wieder. ... Das gibt Anlass zur Hoffnung, dass auch in diesem Fall, so schwierig es auch sein mag, das Recht durchgesetzt werden kann.»
Carla Del Ponte: «Ein erster Meilenstein»
Putin wolle die Identität eines Volkes auslöschen und müsse deshalb strafrechtlich verfolgt werden, erklärt die Schweizerin Carla Del Ponte in einem Interview mit der Römer Zeitung «La Repubblica». Del Ponte war von 1999 bis 2007 Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag und parallel von 1999 bis 2003 Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes für Ruanda in Arusha.
Bereits vor einem Jahr hatte Del Ponte die kriminelle Verantwortung Putins angeprangert. Jetzt sagt sie: «Endlich ist ein sehr wichtiger erster Meilenstein erreicht, ein erster Schritt zur Aburteilung der anderen unzähligen Verbrechen, für die Putin angeklagt werden muss.»
«Das Kriegsverbrechen, dessen er beschuldigt wird, die Deportation von Kindern, ist sehr schwerwiegend und wurde bisher noch nie auf der Ebene der strafrechtlichen Verantwortung behandelt. Aber es wird noch viele andere Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geben, die in diesem Kriegsjahr in der Ukraine begangen wurden, die sehr schwerwiegend erscheinen und für die sich Putin verantworten muss.»
Dazu gehören laut Del Ponte «sicherlich die systematischen Angriffe auf die gesamte Zivilbevölkerung, die wiederholten Folterungen der Bevölkerung, die Gewalttaten gegen Frauen und Kinder, alle Verstösse, die von der russischen Armee auf seinen Befehl hin begangen wurden, da er der einzige oberste Führer ist.»
Russland sagt, es anerkenne den Strafgerichtshof nicht an. Dazu Carla Del Ponte: «Es ist sicher nicht das erste Mal, dass ein autoritäres Regime mit der Aussage reagiert, es erkenne die internationale Justiz nicht an. Das war schon bei Belgrad der Fall. Damals hatte sich Milošević selbst zu Wort gemeldet. Putins Reaktion ist unzulässig, weil unter strafrechtlicher Verantwortung nicht die russische Regierung steht, sondern eine bestimmte Person, nämlich Putin. Denn die strafrechtliche Verantwortung betrifft nur eine Person, und das ist er.»