Als Vermächtnisse des Kunstsammlers Oskar Reinhart (1998-1965) bestehen in Winterthur zwei bedeutende Museen. Das eine, die Sammlung Oskar Reinhart „Am Römerholz“, ist eine erlesene Kollektion hauptsächlich von Spitzenwerken der französischen Malerei des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, ergänzt mit Skulpturen sowie mit Meisterwerken früherer Epochen. In der einstigen Privatvilla hoch über der Stadt gibt es nur das Beste vom Besten. Die von Reinhart als Erbe eingesetzte Eidgenossenschaft hütet und pflegt diesen Schatz.
Beim anderen Reinhart-Haus, dem Museum Oskar Reinhart, ist es mit dem Hüten und Pflegen allein nicht getan. Dieses älteste Sammlermuseum der Schweiz wurde von seinem Stifter schon 1940 dazu bestimmt, den nicht im Römerholz untergebrachten Teil seiner Sammlung ebenfalls gesamthaft in Winterthur zu behalten und dem Publikum zugänglich zu machen. Im Unterschied zur modern-französisch und alteuropäisch orientierten Römerholz-Sammlung beherbergt das Haus am Winterthurer Stadtgarten vorwiegend deutsche und schweizerische Malerei des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.
Aus dem Problem eine Chance machen
Nun gibt es in der Stadt – zum Entzücken von Kunstfreunden und zum Kummer städtischer Kassenwarte – ein drittes Bilderhaus mit internationaler Ausstrahlung: das Kunstmuseum Winterthur. Es positioniert sich seit längerem erfolgreich als Haus der Moderne und der Gegenwartskunst und spielt mit dieser Ausrichtung eine in der Schweiz einzigartige Rolle. Zusätzlich verfügt es aber aufgrund seiner Geschichte über Sammlungsbestände aus den gleichen Bereichen wie die anderen Winterthurer Museen. Das galt bisher als schwelendes Problem. Nun machen die Winterthurer endlich eine Chance daraus.
Bis die kulturellen Reichtümer nun genutzt werden können, hat es gedauert. In den letzten Jahren rang Winterthur um ein neues Konzept für seine ursprünglich fünf Kunstmuseen. Neben den bereits erwähnten gab es ja noch die Villa Flora mit ihren Van Goghs, Cézannes, Bonnards, Rouaults, Vallottons und weiteren Preziosen (in jeder anderen mittelgrossen Stadt hätte das gereicht, um als weit ausstrahlendes Kulturinstitut gehätschelt zu werden) sowie die Sammlung Briner und Kern. In der Villa Flora ist der Ausstellungsbetrieb, wie es heisst, „vorübergehend geschlossen“; die Sammlung Briner und Kern mit ihren Niederländern aus dem 17. Jahrhundert wird hingegen im Museum Oskar Reinhart Aufnahme finden. Ein trauriges Ende auf Raten im ersten, ein geradezu glückhafter Ausweg im zweiten Fall.
Längst fälliger Befreiungsschlag
Damit sind noch immer drei Schwergewichte auf dem Platz. Die Museen – Sammlung Am Römerholz, Kunstmuseum Winterthur, Museum Oskar Reinhart – sind je unterschiedlich positioniert. Kulturpolitisch unumstritten waren die beiden ersten. Das Haus am Stadtgarten jedoch hatte zu kämpfen. Zwar errang es in den letzten Jahren mit einer Reihe von temporären Ausstellungen wieder viel Aufmerksamkeit. Zudem brilliert Reinharts Sammlung mit dem berühmtesten und genialsten Bild der deutschen Romantik – Caspar David Friedrichs „Kreidefelsen auf Rügen“ – sowie einigen kapitalen Ankers und Hodlers. Trotzdem lag der hier gezeigte Teil der Reinhart-Sammlung halt unterhalb der Spitzenränge des Kunstbetriebs. Kurz, die Sammlung wirkte in Teilen verstaubt und war neben der starken lokalen Konkurrenz nicht attraktiv genug.
Hier greift nun das neue Museumskonzept der Stadt Winterthur. Es rückt die beiden benachbarten Häuser Kunstmuseum und Museum Oskar Reinhart institutionell zusammen. Das hört sich bürokratisch an, ist aber in Wirklichkeit der längst fällige Befreiungsschlag, der vor allem dem Museum Oskar Reinhart neue Möglichkeiten erschliesst.
Bis vor kurzem war die Präsentation der Reinhart-Sammlung an unglückliche Kautelen gebunden, die Veränderungen praktisch ausschlossen. Nachdem diese Blockierung stiftungsrechtlich gelöst werden konnte, ist das Haus fit für frischen Wind. Kunstmuseum und Museum Oskar Reinhart haben ihre Kompetenz kumuliert und die zum Teil im Depot schlummernden Werke mobilisiert und damit begonnen, die Sammlungspräsentation im Haus am Stadtgarten kräftig aufzufrischen. Die erste Etappe dieses Grossprojekts wurde eben abgeschlossen: Das zweite Stockwerk des Hauses präsentiert sich ganz neu. Im Februar 2017 wird dies auch im ersten Obergeschoss der Fall sein, und im Parterre bekommt die neu übernommene Niederländer-Sammlung eine würdige Heimstatt.
Was hat man gemacht mit der Sammlung? Die Räume wurden von Zwischenwänden, die eine kleinteilige Kojenstruktur bildeten, befreit. Die Wände bekamen unterschiedliche, farblich auf die Bilder abgestimmte Anstriche. Vor allem aber: Die Reinhart-Sammlung wurde mit Bildern aus dem Kunstmuseum sinnreich ergänzt. Bei diesem entscheidenden Schritt war man mutig. So zog man die Linie der Schweizer Kunst entschieden über das Sammelgebiet und den Geschmackskanon des Stifters hinaus – ein Entscheid, der Reinharts konsolidierte, in sich ruhende Bilderwelt dynamisiert und als so noch nicht gesehenes historisches Konvolut in die Gegenwart bringt. Streift man durch die neu gestalteten Säle, so erlebt man ein grosses klassisches Museum, das den Bildern eine Bühne für ihren Auftritt bietet. Grosse Formate kommen nun genauso zur Geltung wie kleine Stücke. Jede Wand versammelt sprechende Gruppen von Bildern, jeder Raum ist eine Ausstellung für sich, die eingehendes Betrachten lohnt.
Was hier mit den grossenteils bekannten, teilweise aber auch neu aus den Depots ans Licht geholten Werken aufgebaut wurde, ist ein Ereignis. Es bereitet vielleicht einigen wenigen Anhängern des „alten“ Reinhart-Museums, die dieses als Mausoleum des Stifters missverstanden haben, ein paar letzte, allmählich abklingende Bauchschmerzen. Die erste Etappe der Neupräsentation zeigt nicht nur, welche Reichtümer die Sammlungen beider Häuser bergen. Sie beweist auch die Richtigkeit eines Museumskonzepts, das grösser denkt als in den Gehegen der jetzt zusammengefügten Institute. Eins plus eins ist hier entschieden mehr als zwei.