Der Friedhof sei ein wunderbarer Ort, um einen anderen Menschen kennenzulernen, sagt der Fotograf und Radiojournalist Tobias Wenzel. Darauf sei er zufällig gekommen, als er beim Interview mit dem isländischen Schriftsteller Sjón aus einem lärmigen Berliner Café fliehen und einen ruhigen Ort finden musste. Das Gespräch im nahen Dorotheenstädtischen Friedhof sei dann besonders schön geraten.
Tobias Wenzel machte aus der zufälligen Erfahrung ein Projekt: Friedhofsgänge mit Schriftstellern, festgehalten in Schwarzweiss-Fotos, Tondokumenten und Texten. Mit einer grossformatigen Plattenkamera reiste er während vier Jahren auf allen Kontinenten umher, um mit 72 Schriftstellerinnen und Schriftstellern Friedhöfe zu besuchen.
Das Ergebnis liegt in Buchform vor, ist aber auch als Ausstellung zu erleben. Das Friedhof Forum auf dem Stadtzürcher Friedhof Sihlfeld zeigt gegenwärtig den zweiten Teil der Ausstellung «Solange ich lebe, kriegt mich der Tod nicht», die eine kleine Auswahl von Wenzels Begegnungen mit grossformatigen Bildern und Hörtexten dokumentiert. Das gleichnamige Buch bietet in gepflegter Aufmachung 39 Friedhofsgänge in Text und Bild.
Die Fotos haben in der Präsentation im Friedhof Forum genauso wie in der Reproduktion des Buchs eine expressive Kraft. Stupender Detailreichtum und subtile Tonwerte resultieren aus der fotografischen Technik der Grossformatkamera mit Planfilm. Deren umständliche Handhabung prädestiniert sie für inszenierte Fotografie, bei der die Beteiligten vor und hinter der Kamera die Aufnahme bewusst gestalten. Die so entstehenden Bilder sind visuelle Gespräche.
Begegnungen auf allen Kontinenten
Die Präsentierten sind wohlbekannte Grössen der zeitgenössischen Literatur: Der Equadorianer Jorge Enrique Adoum, die Kanadierin Margaret Atwood, Nicholson Baker (USA), der seit dem Tjananmen-Masssaker in Deutschland lebende Chinese Bei Dao, der Marokkaner Tahar Ben Jelloun, der US-Amerikaner T. C. Boyle, Alfredo Bryce Echenique in Peru, Jonathan Franzen (USA), der Brite Neil Gaiman, der Bulgare Georgi Gospodinov, die Französin Benoîte Groult, der Kubaner Pedro Juan Gutiérrez, der Isländer Hallgrímur Helgason, der Schweizer Thomas Hürlimann, die Amerikanerin Siri Hustvedt, der Bosnier Dževad Karahasan, Ko Un in Südkorea, der Ire Colum McCann, Péter Nádas aus Ungarn, der Niederländer Cees Nooteboom, Sofi Oksanen in Estland, Joseph O’Neill aus Irland, die kanadisch-US-amerikanische Annie Proulx, João Ubaldo Ribeiro in Brasilien, die Deutschen Ingo Schulze und Uwe Timm, die Russin Ljudmila Ulitzkaja.
Damit ist erst ein kleiner Teil der Friedhofsgänger aufgezählt. Tobias Wenzel berichtet im Nachwort seines Buches auch von Prominenten, die sich verweigerten – und von den teils hoch interessanten Gründen, weshalb sie es taten.
Mahnmale auch des Unfriedens
Die Friedhofsgänge sind ein Projekt, bei dem die Umstände seiner Entstehung kaum weniger bemerkenswert sind als die dokumentierten Ergebnisse. So musste der deutsche Autor beim Brasilianer João Ubaldo Ribeiro erst die Kluft zwischen den kulturell unterschiedlichen Zeitauffassungen kennenlernen, bevor er von dem widerwillig erscheinenden Schriftsteller auf die Insel Itaparica zum Friedhof an der Kirchenruine von Baiacu geführt wurde, um dort eine Art Naturmonument der Überwindung einstiger Sklaverei zu sehen. Ein gigantischer Feigenbaum, den damaligen Sklavenvölkern heilig, hat die Ruine einer 1560 von Jesuiten erbauten Kirche – einer der ältesten Brasiliens – komplett überwuchert.
In Lima bei Alfredo Bryce Echenique machte Tobias Wenzel die verstörende Erfahrung, dass Friedhöfe lebensgefährlich sein können. Das Stadtzentrum, wo die Familie des Schriftstellers einst wohnte und deshalb ihr Familiengrab hat, ist völlig heruntergekommen und fest im Griff der Gesetzlosen. Wenzel plant den Friedhofsbesuch mit zwei Wagen und angeblich verlässlichem Personal (Fahrer und Bodyguard) und gerät mit seinem Schützling dennoch in eine heikle Situation. Dieser meint zum Schluss: «Sie haben das letzte Foto von mir auf diesem Friedhof gemacht. Ich komme nämlich nur noch ein einziges Mal hierher zurück. Dann allerdings im Sarg.»
Leben aufräumen, Kontrolle abgeben
Friedhöfe sind Orte des Erinnerns und deshalb des Erzählens. Etliche der Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Wenzels Projekt haben das erst aufgrund seiner Anfrage so richtig begriffen. Andere waren ihm in dieser Einsicht längst voraus. Margaret Atwood führte Tobias Wenzel auf den Mount Pleasant Cemetery bei Toronto. Sie hat dort die Asche ihrer Eltern im Wald zerstreut. Der Ort ist auch Schauplatz ihres Romans «Der blinde Mörder» sowie ihrer Kindheitsgeschichte «Katzenauge».
Kremation komme für sie selbst aus ökologischen Gründen nicht in Frage, erzählt sie. Sie will eine Bestattung, die kein Kohlendioxid freisetzt. Die kanadische Firma «Promessa» biete ein Verfahren der Gefriertrocknung an, die den Leichnam in kompostierbare Krümel verwandelt. Margaret Atwood hat anscheinend eine gänzlich sachliche Einstellung zu ihrem eigenen Tod. «Ich bin der Meinung, dass jeder von uns ein Testament verfassen sollte. Sonst hinterlassen wir den Hinterbliebenen ein grosses Durcheinander. Deshalb sollten wir auch regelmässsig unsere Wohnung aufräumen.»
Die junge Erfolgsautorin Sofi Oksanen führt Tobias Wenzel auf einen verwunschenen Friedhof im estnischen Dorf Kullamaa. Hier liegen ihre Grosseltern begraben. Zu Sowjetzeiten hat ihre in Finnland lebende Familie bei Reisen nach Estland diesen Ort verbotenerweise aufgesucht. Der Friedhof, auf dem deutsche und estnische Tote getrennt ruhen, ist Schauplatz einer Schlüsselszene von Sofi Oksanens Roman «Fegefeuer».
Zwischen den Gräbern steht sie nun in ihrem Gothic-Look, der nach ihrer Aussage nicht zwangsläufig mit dem Tod zu tun hat. Vielmehr verkörpere er «das nostalgische Gefühl gegenüber einer Welt, die nie existiert hat». Auf Wenzels Frage, ob wir die Toten bräuchten, antwortet sie: «Heute versuchen doch viele Menschen, alles unter Kontrolle zu haben. Ihnen ist die Vorstellung von etwas, das sich wie der Tod nicht kontrollieren lässt, das nicht in ihren Händen liegt, unerträglich. Aber genau deshalb wäre es gesund, Kontrolle abzugeben, wieder eine engere Beziehung zum Tod aufzubauen und die Angst vor ihm zu verlieren.»
Langsamkeit als Qualität
Die Friedhofsgänge in Ausstellung und Buch machen deutlich, dass die so unterschiedlichen Beziehungen zum Tod Spiegelungen der unendlich verschiedenen Lebensgeschichten und Individualitäten sind. Die von Tobias Wenzel gewählte Versuchsanordnung hat die Annäherung an das Thema verlangsamt. Es musste korrespondiert, organisiert, gereist, transportiert werden, Bedenken waren auszuräumen, Widerstände zu überwinden, vor Ort war jeweils erst die sperrige Fotoeinrichtung zu installieren. Eine lange Reihe retardierender Momente entzog diesen Begegnungen das Alltagstempo und liess Gedanken und Gespräche absinken in vergessene Schichten des Erinnerns und Fühlens.
Zum Setting gehört auch, dass alle Mitwirkenden Literaten sind, Menschen also, die mit Worten und Geschichten arbeiten. Da alle Geschichten ein Ende haben, ist es letztlich der Tod, der aus einem Leben eine Geschichte macht. Literatur ist von daher immer auch Umgang mit dem Tod. Es war nicht einfach nur eine gute Idee, Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu diesen Friedhofsgängen einzuladen. Die Konstellation hat vielmehr eine innere Logik, die sich an den Ergebnissen des Projekts ablesen lässt.