
Mindestens 20'000 junge Menschen wurden 2022 bei der revolutionären Bewegung „Frau, Leben, Freiheit“ im Iran verhaftet. Eine Zahl, die uns zwar erschreckend erscheint, doch nichts über die einzelnen Protestierenden aussagt. Nasrin Bassiri hat für das Iran Journal mit einem von ihnen gesprochen.
Keyvan Samadi ist 24 Jahre alt, in einer kurdischen Familie geboren und hat sich schon mit 17 in der Stadt Oshnanviyeh im Nordwesten des Iran für Menschenrechte sowie Tier- und Umweltschutz eingesetzt. Seit 2016 ist er im Vorstand der «Kurdischen Presse Agentur für Menschenrechte» (Kurdpa).
Mitte September 2022 begannen im Iran die landesweiten Proteste unter dem Motto «Frau-Leben-Freiheit“, die bis heute in unterschiedlichen Formen andauern. Der Auslöser der Proteste war der gewaltsame Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa (Jina) Amini, die von der Teheraner Sittenpolizei verhaftet wurde und später im Krankenhaus starb. Augenzeugen berichten von Schlägen, die sie im Polizeiauto auf den Kopf bekam. Keyvan Samadi wurde während der Proteste verhaftet, gefoltert und auf Kaution freigelassen. Doch statt auf seine Gerichtsverhandlung zu warten, flüchtete er nach Deutschland. Keyvan war an den landesweiten Protesten im Herbst 2022 in Oshnaviyeh federführend beteiligt.
Iran Journal: Herr Samadi, Sie sind bereits 2020 einmal verhaftet worden. Warum?
Ich habe bis 2020 an der medizinischen Fakultät der Universität Täbris drei Semester Medizin studiert. Dort brachen dann Proteste gegen die Leitung der Fakultät aus. Ich habe mich aktiv daran beteiligt, was dann zu meinem Ausschluss führte. Danach durfte ich im Iran an keiner staatlichen Hochschule mehr immatrikuliert werden. Nach dem Ausschluss wurden die Sicherheitsbehörden auf mich aufmerksam. Eines Tages kamen sie zu mir nach Hause und beschlagnahmten mein Handy und meinen Laptop. So fanden sie sensible Informationen über mich heraus. Ich wurde zu 100 Tagen Haftstrafe verurteilt, kam aber nach 13 Tagen gegen Kaution frei.
Nach diesem Vorfall arbeitete ich vorsichtiger und verdeckter. Ich hörte auf, für meine politischen Schriften Pseudonyme zu verwenden und habe sie anonym veröffentlicht. Bis die Jina-Mahsa-Revolution ausbrach.
Welche Rolle haben Sie dabei gespielt?
Am 23. September, eine Woche nach Mahsas Tod und dem Beginn der Proteste, wurde in Oshnaviyeh ein Aufruf mit dem Titel: «Heute Abend protestieren wir!» veröffentlicht. Bereits um vier Uhr nachmittags waren die Polizeikräfte in der Stadt einsatzbereit und postierten sich sichtbar. Auch in den angrenzenden Dörfern wurden die Sicherheitskräfte mobilisiert. Am Abend kamen Protestierende heraus und riefen: „Die Märtyrerin stirbt nicht!“ (gemeint war Jina-Mahsa Amini). Die Einsatzkräfte begannen zu schießen. Es wurde mit Schrotflinten auf die protestierende Menge geschossen. Zahlreiche Menschen wurden verletzt. Kurz darauf griffen wütende Menschen eine Polizeistation an. Aus einem halbfertigen Gebäude in der Nähe wurde auf die Demonstranten geschossen.
Eine Hebamme, ein Arzt, ein Mann, der wusste, wie man Medikamente besorgen kann, und ich bildeten spontan eine Gruppe.
Noch in der Nacht, in der alles begann, brachten wir die Verwundeten in die umliegenden Dörfer, weil es dort sicherer war als in der Stadt. In dieser Nacht starben drei Menschen sofort; Sadr al-Din, Amin Marefat oder «Maroufi“ und Milan Haghigi. Abdul Salam Qadir-Galvan konnten wir ins Krankenhaus bringen, aber auch er starb dort. Am nächsten Tag strömten mehrere tausend Menschen auf die Straßen und eroberten großen Teile der Stadt; man kann sogar sagen, sie eroberten beinahe die Stadt vollständig! Die Polizeikräfte sind geflohen.
Dieses Ereignis brachte den Bewohnerinnen die frohe Botschaft: Es ist möglich, gegen die Mullahs zu kämpfen und sie zu vertreiben! So etwas war nun nicht mehr außerhalb der Vorstellungskraft. Das Unmögliche schien wahr zu werden.
Am nächsten Tag war weit und breit kein Polizist zu sehen. Eineinhalb Tage lang war die Stadt voll in unserer Hand, bis Verstärkung aus anderen Städten heranrückte, was zu Massenverhaftungen führte. Insgesamt wurden innerhalb von drei Tagen 1.008 Menschen in Oshnaviyeh festgenommen. Es fanden keine Proteste mehr statt. Die Stadt wurde aber durch einen 45-tägigen Streik vollkommen lahmgelegt.
Wurde aus Ihrer Gruppe jemand verhaftet?
Ja, wenige Tage, nachdem wir neue Mitglieder aufgenommen hatten und uns neu formierten. Am 29. September 2022 wurde ich vom Geheimdienst von Oshnaviyeh verhaftet. Sie brachten mich in eine geheime Haftanstalt, von der die Einwohnerinnen und Einwohner nichts wussten. Sie war ein Gebäude hinter einer Sekundar-Schule für Mädchen. Sie wendeten dort alle Arten von Folter an. Die Verhöre fanden zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten und in unterschiedlichen Zellen statt. Ich war sehr gestresst. Nach einer Weile wusste ich in der halbdunklen Zelle nicht mehr, wann Tag und wann Nacht ist.
Hatte Ihre Zelle nicht zumindest ein kleines Fenster?
Es gab nur das Licht einer Neon-Lampe, die Tag und Nacht in dem Gang brannte und durch eine kleine Öffnung der Zellentür den Raum dürftig erhellte. Ich bekam eine dünne, alte stinkende Armee-Decke, die zugleich als Matratze und Decke diente.
In den Zellen gab es keinerlei Hygieneartikel, nur eine Toilette und ein kleines Waschbecken, so klein, dass, wenn man Hände und Gesicht waschen wollte, das Wasser herunterfloss und die Decke nass machte. In den ganzen 21 Tagen, die ich in dieser Zelle verbrachte, hatte ich keine Gelegenheit, mich zu waschen.
Wurden Sie auch physisch gefoltert?
Am dritten Tag der Verhaftung hat mich der Mann, der mich verhörte, heftig zusammengeschlagen. Am vierten Tag wurde ich von dem Justizbeamten, der ins Gefängnis gekommen war, befragt. Ich habe ihm berichtet, dass ich beim Verhör durch Gefängnisbedienstete schwer verprügelt wurde. Er sagte: «Geschieht dir recht!»
Beim Verhör haben sie häufig „Schocker“ eingesetzt. Sie haben damit auf meinen Hinterkopf geschlagen, auf den Hals, den Bauch, auf das Geschlechtsorgan, auf die Beine, und auf den Rücken. Sie haben meine Körperhaare mit einem Feuerzeug verbrannt. Einmal haben sie mir heftig ins Gesicht geschlagen und meinen Mund getroffen. Während Blut aus meinem Mund floss, zeigte ich aus Wut meinen Mittelfinger. Einer der Verhörer nahm einen Cutter und wollte mir den Finger abschneiden. Der zweite hinderte ihn daran. Er hat schließlich meinen Finger verletzt, aber nicht abgeschnitten.
Sie haben mich tagelang von der Decke gehängt, so dass nur meine Zehenspitzen den Boden berührten, und in diesem Zustand haben sie mich mit ihren Fragen gequält.
Haben Sie bleibende Schäden davongetragen?
Ja! Meine Handgelenke und Arme sind nachhaltig beschädigt. Wenn ich die Arme bewege, machen sie merkwürdige Geräusche. Denn manchmal haben sie mich festgebunden, so dass ich weder stehen noch sitzen könnte. Meine Kniegelenke schmerzten dabei heftig.
Beim Vernehmen haben sie wiederholt exakt die gleichen Fragen gestellt. Meine Antworten haben sie aufgeschrieben. Bei nur geringfügiger Abweichung haben sie mich mit dem Schlagstock geschlagen, die Schocker eingesetzt oder meine Körperhaare mit dem Feuerzeug verbrannt. Meine Brusthaare wurden öfter angezündet, und weil sie mir kein Heilmittel gaben, sind die Spuren noch deutlich zu sehen.
Einige Tage bevor ich freigelassen wurde, haben sie meine Hose heruntergezogen. Auch davor hatten sie einige Male meine Hose heruntergezogen und Schocker eingesetzt. Ich dachte, auch dieses Mal werden sie Schocker einsetzen. Aber derjenige, der mich folterte, hat an meinem Hals geleckt, mit dem Schlagstock meine empfindlichen Körperteile berührt und mir dabei sexualisierte Anmerkungen zugeflüstert. Ich war wie gelähmt, brachte kein Wort heraus. Ich konnte nicht einmal schreien! Habe lediglich lautlos geweint.
Wurden Sie vergewaltigt?
Ja. Sie haben einmal den Schlagstock in mich eingeführt.
Wann wurden Sie gegen Kaution freigelassen?
Nach tagelangem Verhör wussten sie, dass sie aus mir kein Wort herausbekommen werden. Sie wollten mich nun zerbrechen, damit ich mundtot gemacht werde und mich nicht traue, mich weiterhin für Menschenrechte einzusetzen.
Nach der Freilassung haben meine Wunden am Rücken eine Woche gebraucht, um einigermaßen zu heilen. Nach der Woche habe ich unsere Gruppe wieder zusammengetrommelt und sie neu formiert. Ich habe den Kameraden zugesichert, dass ich keinem Namen genannt und keine Information preisgegeben habe. Wir haben Geld gesammelt, Medikamente für die Verletzten gekauft und sie an die Verletzen in den Städten Javanroud und Divandarreh geschickt, damit Studenten dort sie heilen können.
35 Tage nach meiner Freilassung haben wir die Tätigkeit weitergeführt. Eines Tages hatten wir ein Treffen. Wir hatten nicht genug Geld zusammenbekommen können und wollten das, was noch fehlte, von im Ausland lebenden Freunden besorgen. Ich bin mit dem Taxi bis zu der Gasse gefahren, in der unser Treffen stattfinden sollte. Ich sah, dass die Gasse gesperrt war. Ich sagte zum Fahrer, er solle wenden. In der Stadtmitte bin ich ausgestiegen und habe einen meiner Angehörigen angerufen, er solle mir den Ordner mit meinen Dokumenten bringen. Ich bin mit den Dokumenten nach Maku an der türkischen Grenze geflohen. Ich wollte die Grenze überqueren und in der Türkei Schutz suchen. Das war aber nicht möglich. Aufgrund besonderer Umstände im Iran wurde die Grenze sehr streng bewacht. So bin ich zurück in die Stadt Piranshahr gefahren und habe ohne große Hindernisse die irakische Grenze überquert. Dort wurde ich von Freunden unterstützt, mit denen ich einst in der «Kurdischen Presse Agentur für die Menschenrechte» zusammengearbeitet habe. Sie und weitere Freunde, die nicht erwähnt werden möchten, haben mich dort aufgenommen und mir geholfen.
Sind Sie in den kurdischen Gebieten außer politischen Aktivitäten weiteren Aktivitäten bzw. Beschäftigungen nachgegangen?
Mein erstes soziales Engagement war bei der «K»urdischen Presse Agentur für Menschenrechte» (Kurdpa). Diese Tätigkeit habe ich verdeckt gehalten. Ich habe zusammen mit einigen Freunden und Weggefährten aus Oshnaviyeh «Jinko» gegründet; einen Verein für Umwelt- und Tierschutz in der kurdischen Region.«
Oshnaviyeh ist eine kleine Stadt, wo jede/r jede/n kennt. Die Menschen stehen leicht im Visier der Öffentlichkeit. Mir und Fardin Elyasi wurde von den Kollegen empfohlen, uns für eine Weile zurückzuziehen, als unsere Initiative mehr an Bedeutung gewann und Ansehen erlangte. Die zuständige Behörde hatte gedroht, die Lizenz für die Tätigkeit nicht zu verlängern, wenn wir nicht ausgeschlossen werden.
Wir sind aus Jinko ausgetreten und haben einen Tierschutzverein registriert, den «Verein für die Rettung der Tiere». Wir haben diejenigen angezeigt, die Tierrechte nicht respektierten. Als ein Hirte einen Wolf tötete, verklagte ich ihn. Er wurde schuldig gesprochen.
Ein Mann hatte einen Fuchs gefangen, ihm den Schwanz abgeschnitten und die Zähne ausgerissen. Wir haben Klage gegen ihn erhoben. Er wurde zu drei Monaten «freiwilligem Dienst verurteilt. In dieser Zeit musste er für wilden Tieren Futter bereitstellen. Ich habe den Slogan «Kashtan statt Koshtan!» (anpflanzen statt töten) verbreitet und selbst Eichen angepflanzt.
Im Irak sind die Kurden aus dem Iran oft gefährdet. Wie sind Sie mit der Situation umgegangen?
Tatsächlich! Auch ich war dort gefährdet. Mir wurde gedroht, dass man mich töten würde. Meine Freunde brachten mich spät in der Nacht zu diversen Dörfern in der Umgebung von Suleymaniyya. Die Nachricht von meiner Flucht breitete sich allmählich aus. Zahlreiche Journalist*innen von CNN, Le Monde, Al Monitor und Volkskrant interviewten mich*.
Meine Anwesenheit im Irak wurde immer problematischer. Die Regionalregierung Kurdistans drohte mir mit der Ausweisung, weil ich keine Aufenthaltserlaubnis hatte. Im Irak gibt es zwei Arten von Aufenthaltserlaubnissen: eine politische und eine für Arbeitsaufnahme. Politische Aufenthaltserlaubnisse werden nur an Parteimitglieder vergeben und da ich keiner Partei angehörte, hatte ich keinen Wohnsitz und mir wurde mit der Abschiebung gedroht. Aus diesem Grund wurde gegen mich ein Bußgeld über umgerechnet 870 Euro verhängt. Aber ich war aus dem Iran geflüchtet und hatte bei dem kalten Wetter nicht einmal genügend warme Kleidung dabei, geschweige denn Bargeld! Ich habe das Geld von Freunden geliehen, die ich im Irak hatte.
Schließlich bin ich nach Deutschland gekommen, weil mein Bruder hier lebt.
Wohnen Sie nun in einer Gemeinschaftsunterkunft?
Ja. Ich habe am 20. März 2023 meine Dokumente abgegeben und wurde als Flüchtling registriert, bin aber noch nicht angehört worden.♦
*Um Keyvan Samadi zu diskreditieren, schrieb Tasnim, eine der islamischen Revolutionsgarde nahestehende Presseagentur, am 22. Februar 2023 über ihn: «Lügenserie der amerikanischen Nachrichtenagentur über Folter und Vergewaltigung im Iranischen Gefängnisse. Eine völlig erfundene Behauptung! …wer ist die Person namens Keyvan Samadi überhaupt? Warum ist er von dem amerikanischen Nachrichtensender CNN thematisiert worden? Die Gründe sollten hinter den Kulissen des großen Propagandaprojekts gegen Iran gesucht werden.»
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal