Alexander Dugin, dessen 29-jährige Tochter und Mitkämpferin vor einer Woche in Moskau durch eine Autobombe getötet wurde, ist Propagandist eines rabiat antiwestlichen russischen National-Imperialismus. Er kämpft für eine wirre Idee von einem eurasischen Imperium, das von Russland dominiert werden und sich grundlegend von der atlantischen Welt unterscheiden soll. Im weitesten Sinne ist diese Ideologie in die Denktradition der Slawophilen eingebettet.
Die Slawophilen setzen sich mindestens seit dem 18. Jahrhundert für einen eigenen russischen Entwicklungsweg ein und kämpfen für eine entschiedene Abgrenzung gegenüber den sogenannten Westlern. Doch bei weitem nicht alle russischen Slawophilen schwärmen wie Dugin für eine imperialistische Expansionsstrategie – so wie sie Putin heute praktiziert.
Ob Putin mit dem ultranationalistischen Trommler Dugin je persönlichen Kontakt unterhalten hat, scheint niemand zu wissen. Jedenfalls gibt es keine Informationen über gemeinsame Auftritte dieses Gesinnungspaares. Putin hat aber nach dem Attentat auf Darja Dugina in einer Stellungnahme von der Verstorbenen erklärt: «Sie weiss, was es heisst, eine russische Patriotin zu sein», und verlieh ihr posthum einen Orden. Die Tochter Alexander Dugins hatte sich als Journalistin vehement für das national-imperialistische Ideen-Gebräu ihres Vaters engagiert. Für staatstreue Kanäle berichtete sie begeistert über die Kämpfe und russische Erfolge im Donbass. Wenn Putin früher offenbar auf Distanz zu den krud nationalistischen Theorien und eurasischen Visionen Dugins bedacht war, so ist heute klar erkennbar, dass sich der Kremlchef in seinem praktischen Handeln der Geisteswelt dieses ultranationalen Extremisten sehr weit angenähert hat.
Von Zollikon nach Moskau umgebettet
Putins ideologischer Hauptinspirator indessen hat einen anderen Namen. Er heisst Iwan Iljin, ein russischer Emigrant und Philosoph, der 1954 verstarb und bis 2005 in Zollikon begraben lag. Iljin entstammte einer aristokratischen Familie in Moskau, lehrte dort eine Zeitlang als Professor und Hegel-Spezialist an der Universität, war aber gegen das neue bolschewistische Regime und lebte seit den 1920er Jahren in Berlin. Obwohl er anfänglich gewisse Sympathien für das Hitler-Regime und dessen faschistische Herrschaftspraxis empfand, geriet er in Berlin in politische Schwierigkeiten und emigrierte in die Schweiz. Über Iljin, dessen Staatsphilosophie und dessen posthume Auferstehung zu Putins «Hausphilosophen» erfährt man Detaillierteres in dem sehr lesenswerten Buch «In Putins Kopf»* des französischen Philosophen Michel Eltchaninoff, Spross einer russischen Emigrantenfamlie.
Gemäss Eltchaninoff war es der russische Filmemacher und Nationalromantiker Nikita Michalkow, der Putin auf die ideologischen Schriften von Iwan Iljin aufmerksam machte. Er ist der Sohn von Sergei Michalkow, der die Texte sowohl für die Stalinische Nationalhymne als auch später für die russische Nationalhymne schrieb. Der Regisseur Michalkow hielt eine schwärmerische Rede, als Iljins sterbliche Überreste zusammen mit den aus New York herbeitransportierten Gebeinen des «weissen» Bürgerkrieg-Generals Anton Denikin auf dem Friedhof des orthodoxen Donskoi-Klosters in Moskau in russischer Erde beigesetzt wurden. Auf dem gleichen Friedhof befindet sich übrigens auch das Grab des 2008 verstorbenen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Alexander Solschenizyn.
Laut der Darstellung von Eltchaninoff soll diese aufwendige Umbettungsaktion auf ausdrückliche Bitte Putins von kremlnahen Oligarchen organisiert und finanziert worden sein, zu denen auch der in der Schweiz gut bekannte Viktor Wechselberg gehören soll. Putin hat später die Gräber dieser und anderer «heimgekehrten» Emigranten selber besucht und dort Blumen niedergelegt. Zweck der Operation war die Demonstration einer symbolischen «Versöhnung» mit Repräsentanten des konservativen «weissen» Russlands, die den Bürgerkrieg gegen die roten Revolutionäre verloren hatten und in die Emigration vertrieben wurden.
Die Theorien von Putins «Hausphilosoph»
Anfang 2014 liess Putin als Neujahrspräsent an hohe Funktionäre und Kader seines Machtapparates das Werk Iljins «Unsere Aufgabe» zur Lektüre verteilen, zusammen mit weiteren Schriften der konservativen russischen Autoren Nikolai Berdjajew und Wladimir Solowjow. Der Kremlchef hat in einem Gespräch mit Journalisten betont, dass Iljins Bücher in seiner Bibliothek immer in Griffnähe platziert seien. Dieser Autor ist einerseits ein vehementer Gegner des Kommunismus (zu dem sich Putin als KGB-Agent einst selber bekannt hatte), gleichzeitig aber auch ein überzeugter Verfechter von Russlands welthistorischer Mission und Anhänger der orthodoxen Kirche. Die «imperialistischen Nachbarn» dagegen, so zitiert Eltchaninoff aus Iljins Werken, seien nicht bereit, «die russische Eigenständigkeit zu ertragen» und verfolgten deshalb stets das Ziel, «Russland zu zerstückeln und es unter westliche Kontrolle zu bringen».
Man glaubt bei der Lektüre solcher Zitate O-Töne aus Putins wütenden Reden unmittelbar vor und nach Beginn des militärischen Überfalls auf die Ukraine zu hören. Eltchaninoff erwähnt auch, dass der russisch-nationale Philosoph Iljin die vom späten Lew Tolstoi popularisierte Theorie der Gewaltlosigkeit entschieden zurückgewiesen habe. Wenn man gegenüber einer Aggression alle friedlichen Mittel ausgeschöpft habe, müsse man zum Schwert greifen. Auch dieses Argument lässt sich unschwer in Putins demagogische Begründung für den Angriff auf die Ukraine einbauen.
Den «Hausphilosophen» des Kremlchefs deswegen aber als herausragenden Repräsentanten der slawophilen Denktradition zu stilisieren, wie das Putin und seine Propagandisten wohl gerne suggerieren, wäre zu viel der Ehre. Erstens bezeichnet das Adjektiv «slawophil» ein sehr weites Feld, in dem sich höchst unterschiedliche politisch-kulturelle Vorstellungen und Persönlichkeiten versammeln lassen. Ausserdem wäre es ungerecht, wenn man so bedeutende Vertreter einer slawophil geprägten Weltanschauung wie Solschenizyn oder Dostojewski in eine ähnliche Kategorie einreihen würde wie der eher obskure Philosoph und Hegel-Verehrer Iljin.
Slawophile Denker ohne imperialistischen Drang
Mit ziemlicher Sicherheit kann man heute behaupten, dass diese beiden berühmten russischen Schriftsteller nicht bereit gewesen wären, Putins mörderischem Angriffskrieg gegen die Ukraine ihren Segen zu erteilen. Solschenizyn, der als unfreiwilliger Emigrant fast zwei Jahrzehnte lang zuerst in der Schweiz und dann in den USA gelebt hatte, hat aus seiner fundamental kritischen Haltung gegenüber dem Westen und dessen Lebensweise nie ein Hehl gemacht. Er liess sich nach seiner Rückkehr nach Russland von Putin auch einen nationalen Orden überreichen, was er gegenüber dessen Vorgänger Jelzin noch zurückgewiesen hatte. Doch in einigen seiner Schriften – am deutlichsten im «Archipel Gulag» – zeigte er unumwunden ein gewisses Verständnis für die Möglichkeit, dass die Ukraine sich eines Tages von Russland lossagen könnte, wenn das seiner Ansicht nach auch zutiefst zu bedauern wäre. Falls es soweit kommen sollte, schrieb Solschenizyn damals, so müsse Russland eine solche Entwicklung auch auf eigene Vergehen und Versäumnisse zurückführen. Von imperialen russischen Expansions-Visionen wie bei Iljins eurasischen Träumen ist jedenfalls in Solschenizyns Werk nirgends die Rede.
Ähnliches gilt für Dostojewski, den Putin auch gelegentlich zitiert. Dostojewskis dichterische Autorität und seine teilweise scharfen antiwestlichen Ausfälle werden vom Kremlchef und seinen Nachbetern zumindest unterschwellig gerne in ihre neuerdings radikale Dämonisierung westlicher Politikkonzepte vereinnahmt. Doch überzeugend ist eine solche Instrumentalisierung eines so weiten Geistes wie Dostojewski zur Rechtfertigung eines skrupellosen Krieges gegen ein Nachbarvolk nicht. Das wird zumindest den literarisch Gebildeten unter Russlands Bürgern durchaus bewusst sein. In seiner berühmten Rede zur Einweihung des Moskauer Puschkin-Denkmals im Jahre 1890 hatte Dostjewski, wenige Monate vor seinem Tod, in bewegenden Worten zu einer Versöhnung zwischen West und Ost aufgerufen.
Von solchen humanen Tönen und Hoffnungen ist heute weder vom Kriegstreiber Putin noch von dessen Möchtegern-Vordenker Dugin etwas zu hören.
* Michel Eltchaninoff: In Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten, Stuttgart 2022