Der Jahresübergang ist eine Zeit des Wünschens. Nach dem «guten Rutsch» (abgeleitet von Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahrsfest) ist «E guets Nöis» oder ähnliches dran, je nach Adressaten und Gelegenheit ausgemalt mit Wünschen für Gesundheit, Erfolg, Glück oder was auch immer.
Zum reinen Nennwert genommen, sind die guten Wünsche bedeutungslos – zumindest unter der von den meisten Heutigen geteilten Voraussetzung, dass Worte in der realen Welt keine magischen Wirkungen haben. Jemandem Glück zu wünschen, wird dessen Ergehen im kommenden Jahr nicht beeinflussen. Dies ist zumindest für jene klar, die sich an einem modernen Weltbild orientieren.
Trotzdem halten alle am Brauch des Austauschs guter Wünsche fest. Weshalb? Ist es der irrationale Rest einer längst überholten Weltsicht? Zeigt sich so die Anhänglichkeit an Konventionen des gesellschaftlichen Umgangs? Oder äussert sich darin etwa eine Vorsicht angesichts von etwas für unerklärbar Gehaltenem nach dem Motto «Nützt es nichts, so schadet es nichts»?
Das alles könnte eventuell mitspielen. Doch es gibt auch eine gänzlich rationale Begründung für das Austauschen von Wünschen. Sie nennt sich Sprechakttheorie. Der britische Philosoph John Langshaw Austin (1911–1960) hat sie 1955 mit einer Vorlesung begründet. 1962 erst erschien auf deren Basis eine einflussreiche sprachphilosophische Schrift. Das Buch hat einen hinreissend einfachen und das Wesentliche benennenden Titel: «How to Do Things with Words».
Austin hat in diesem Buch seine Philosophenzunft darauf aufmerksam gemacht, dass Sprache nicht bloss Bedeutungen und Aussagen transportiert, also nicht allein nach Logik und Wahrheitspostulaten zu beurteilen ist. Sprache ist nach Austin vielmehr immer auch soziales Handeln. Wenn das heute als Selbstverständlichkeit erscheint, so nicht zuletzt wegen des Erfolgs von Austins Theorie. Sie ist zu einer der Grundlagen von Psychotherapie, Kommunikationsforschung und Marketing geworden.
Gemäss Sprechakttheorie ist Sprache nicht Abbild von etwas. Sie ist nichts, was «über» den Dingen angesiedelt ist, sondern ist selber real. Der gute Wunsch zum Neuen Jahr ist Teil der sozialen Wirklichkeit. Wer ihn zugesprochen bekommt, für den ist das Gewünschte eine Realität – nicht in dem Sinn, dass nun mit einer Materialisierung des Wunsches fest zu rechnen wäre. Vielmehr ist der jemandem zugesprochene gute Wunsch die verbale Manifestation eines Beziehungsgeschehens. Das Wünschen ist, mit Austin zu reden, ein Akt, bei dem man mit Worten Dinge tut.
Souveräne Menschen wissen, ohne dazu theoretische Erklärungen zu benötigen, welche konkreten Sprechakte wie zu entschlüsseln sind. Sie können intuitiv unterscheiden zwischen einer einzig durch Konvention begründeten Floskel und einem von persönlicher Zuneigung kündenden guten Wunsch. Und die Menschen werden je nachdem unterschiedlich reagieren: mit formeller Höflichkeit im einen, voller echter Freude im anderen Fall – und mit allen Abstufungen dazwischen.
Nachbemerkung mit Blick auf den Hype um Künstliche Intelligenz: Bis «intelligente» Sprachprogramme solche Feinheiten raushaben, wird es noch eine Weile dauern.