Der Angriff des russischen Potentaten hat die Ukraine mitten in ihrer postsowjetischen Transformation getroffen, attackierte also ein Staatswesen mit vielen Mängeln. Umso erstaunlicher der entschlossene Widerstand. Doch die Aussichten sind trüb.
Putin – sein Name muss hier am Anfang stehen – hat nicht nur viele Menschenleben auf dem Gewissen, er hat auch die Hoffnungen zahlloser Menschen zerschlagen. So hat sein Überfall die Ukraine mitten im mühsamen Prozess der postsowjetischen Transformation getroffen und das Land in eine völlig veränderte Wirklichkeit katapultiert. Aussichten auf ein allmähliches Voranschreiten hin zu einer von Regeln und Zusammenarbeit geprägten Staatenwelt haben sich in Luft aufgelöst. Noch bereitet es vor allem den entgeisterten Zuschauern im Westen Mühe, die Tragweite dieses unprovoziert vom Zaun gebrochenen Kriegs zu erfassen. Die Angegriffenen in der Ukraine hingegen verstehen nur zu gut, was gerade auf dem Spiel steht.
Wir haben darüber mit einem Gewährsmann gesprochen, der beide Perspektiven, die der Menschen in der Ukraine und jene der aussenstehenden Betroffenen, persönlich erfährt. Er ist Inhaber eines kleinen Schweizer Unternehmens, verheiratet mit einer ukrainischen Ärztin russischer Abstammung und eng verbunden mit deren Familie, die im Kriegsgebiet ausharrt. Mit Rücksicht auf diesen gefährdeten Personenkreis berichten wir über das Gespräch anonymisiert und ohne präzise Ortsangaben.
Unser Gewährsmann – wir nennen ihn in der Folge einfach G. – bezeichnet sich als einstigen Nachkriegs-Pazifisten, der den Kalten Krieg mit einer gewissen Gelassenheit erlebt hatte in der festen Überzeugung, nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs könne «so etwas» nie mehr geschehen. Für eine Dämonisierung der Sowjetunion, wie sie damals im Westen vielfach im Schwang war, hatte er nichts übrig. Zu sehr faszinierte ihn die russische Kultur. Für ihn kamen als Feindbild schon eher die USA in Frage, vor allem wegen ihres Kriegs in Vietnam.
1977 reiste G. als junger Mann mit seiner damaligen Frau für zwei Monate in die Sowjetunion und begann Russisch zu lernen. Er kehrte mit einem positiven Russlandbild zurück und beschäftigte sich in der Folge lebenslang mit der geistigen Welt der Orthodoxie, die ihn bis heute stark fasziniert. G. war sich sicher, dass von der Sowjetunion keine Gefahr ausgehe, denn die Russen seien in Bezug auf den Westen historisch von einer «tiefen Defensivangst» geprägt.
G., inzwischen mit dem bedrohten Land familiär verbunden, pflegt jährlich vier bis fünf Monate dort zu leben. Seit Beginn von Putins Powerplay gegen die Ukraine mit der Annexion der Krim 2014 hat er die Ereignisse rund um seine zweite Heimat mit Argusaugen beobachtet, ist aber vorerst zuversichtlich geblieben. Einen Krieg hat er bis zum 24. Februar dieses Jahres allen Alarmzeichen zum Trotz für unmöglich gehalten.
Doch dann ist das Undenkbare doch geschehen. Putins Angriff hat bei G. ein Weltbild über den Haufen geworfen. «Der Krieg hat alles erschüttert», konstatiert er. «Ich muss sozusagen hinter meine Pubertät, in der sich meine Weltsicht zu festigen begann, zurückgehen.» G. hätte es sich nie träumen lassen, die USA jemals in der Rolle eines «Schutzengels» sehen zu können. Doch genau das sei jetzt passiert. Unter den Nationen, die sich schnell und entschieden an die Seite der Ukraine gestellt haben, sind die USA der wichtigste Player.
Land der Oligarchen und der Korruption
Präsident Selenskyj, trotz seiner Oligarchen-Connections und seiner mangelnden politischen Erfahrung heute Stimme und Gesicht des Widerstands, hat G. positiv überrascht. Im Westen erscheint die Ukraine seit Kriegsbeginn nicht zuletzt dank dieses Anführers in heroischem Licht. Wieweit die heimischen Oligarchen, von denen sich die meisten ins Ausland abgesetzt haben, heute noch auf die ukrainische Regierung Einfluss nehmen, vermag G. nicht zu beurteilen. Was im Lande hingegen virulent geblieben ist, das ist die Basis des Oligarchenunwesens: die Korruption. G. möchte auch darüber reden – im Wissen darum, dass jede Kritik an der Ukraine einerseits von der russischen Propaganda gerne ausgeschlachtet, andererseits im Westen vorschnell als «Putinismus» denunziert wird.
G. macht ein fiktives Beispiel: Bleibt jemandem in der Ukraine nach Abzug aller erforderlichen Schmiergelder ein «Nettoverdienst» von monatlich 1’000 Franken, so hat er zuvor schon 8’000 Franken unter der Hand abgeliefert. «Das Geld geht von unten nach oben und landet am Ende in den Kassen der Oligarchen», so die ernüchternde Erfahrung. G. sieht allerdings keinen Grund, das Verhalten der Einzelnen, welches das Korruptionssystem am Laufen hält, moralisch zu verurteilen.
Die ukrainische Krankenpflegerin verdiene mit ihrem Gehalt vielleicht zehn Prozent von dem, was sie zum Leben brauche. Um wenigstens halbwegs über die Runden zu kommen, müsse sie den Lohn aufbessern und eben das Angewiesensein der Patienten auf ihre Dienste zu Geld machen – ein im Grunde klassisch marktwirtschaftliches Verfahren. G. sieht weitere Parallelen zu wirtschaftlichen Praktiken im Westen: Konkurrenzkampf und Lobbyismus greifen in seinen Augen auch hierzulande des öftern zu Mitteln der Beeinflussung, die den fairen Wettbewerb unterlaufen. Kein Grund also, mit Fingern auf die Korruption im Osten zu zeigen.
Die Ukraine, so beobachtet es G., ist im Transformationsprozess bisher so weit vorangekommen, dass es immerhin faire Wahlen und ein funktionierendes Parlament gibt. Noch fehlen aber eine unabhängige Justiz, ein tragfähiges Sozialsystem sowie eine Verwaltung, die alle Menschen gleichbehandelt und ihre Monopolmacht nicht für eigene Interessen ausnützt. Die Gewaltenteilung, wesentliches Kennzeichen eines aufgeklärten Staatswesens, ist noch nicht im notwendigen Umfang verwirklicht.
Archaischer Alltag und verklärte Sowjetzeit
Ein Grossteil der Bevölkerung ist gemäss G.s Schilderung für westliche Begriffe sehr arm. Ihr Alltag funktioniert archaisch. Auf dem Land und selbst in kleineren Städten haben fast alle einen Garten oder ein Stück Land, um eigenes Gemüse zu ziehen. Man sorgt für den Winter vor, indem man den Keller mit Eingemachtem füllt. Gekauft werden ab und zu ein paar Eier oder ein Huhn. Wohnen kostet wenig, Steuern zahlt man kaum, Versicherungen hat man nicht. An deren Stelle tritt die Solidarität der Familie, in kleinerem Umfang auch die von Freunden. Diese Beistandserwartung wiederum ist der Grund, weshalb man die Intensität von Beziehungen dosiert: Zu viele engere Freundschaften kann man sich nicht leisten, weil sie das Risiko mit sich bringen, im Notfall mit einspringen zu müssen.
Das entscheidende Lebensrisiko sind schwere Krankheiten und Unfälle. Ohne Schmiergelder, das erwähnte Beispiel der Krankenpflegerin hat es gezeigt, ist keinerlei medizinische Betreuung zu bekommen. Im nahen Umfeld der Familie von G. verunfallte ein junger Mann schwer. Um seine dringende Spitalbehandlung zu ermöglichen, starteten seine Freunde ein Crowdfunding.
Angesichts solcher Lücken der staatlichen Organisation ist es nicht verwunderlich, dass viele ältere russischstämmige Ukrainerinnen und Ukrainer einer Sowjetnostalgie gefrönt haben – zumindest bis vor dem jetzigen Krieg war das so. G. hat es in seiner Verwandtschaft beobachtet. Die Schwiegermutter glaubte, selbst als sie unter Bombardierungen und Artilleriebeschuss wochenlang im Luftschutzkeller ausharren musste, anfänglich felsenfest dem russischen Fernsehen. Sie liess sich von der Propaganda überzeugen, es seien Ukrainer, welche ihr Haus beschössen. Erst nach Fortdauer des Kriegs und insistierendem Widerspruch ihrer Familie änderte sie allmählich ihre Meinung.
G. hat Verständnis für die Verklärung der Sowjetzeit und die damit verbundene Anhänglichkeit an Russland, die er in seiner Familie angetroffen hat. Wer kein Dissident war, konnte im sozialistischen Staat durchaus gut leben: Die Grundbedürfnisse waren gesichert, es herrschte eine stabile Ordnung. Ausserdem fühlte die russischstämmige Minderheit sich in ihrem Kulturstolz durch die ukrainische Sprach- und Kulturpolitik zurückgesetzt und beleidigt. Noch 2014, so meint G.s Frau, wäre ein Einmarsch Putins von einem grossen Teil der russischen Ukrainer sogar begrüsst worden. Sie wären nicht ungern unter eine «Rule Russia» zurückgekehrt, um den ukrainischen Schikanen gegen die russische Kultur zu entgehen.
Seit 2014 aber, so erzählt G. weiter, sind vielen Ukrainerussen die Augen aufgegangen. Sie haben Putins Russland immer mehr als ein Gefängnis wahrgenommen, da ihnen die dortige Unterdrückung der Opposition, die zunehmende Macht der Oligarchen, Putins absurder Reichtum und seine Brutalität etwa in Syrien natürlich nicht entgangen waren. Zur Abwendung von Russland hat sicherlich auch die seit dem Euromaidan laufende westliche Aufbauhilfe an die ukrainische Verwaltungsinfrastruktur und anderes beigetragen.
Und vielleicht noch wichtiger: Mit der Radikalisierung des russischen Narrativs über die angebliche Naziherrschaft der ukrainischen Regierung hat die auf die Ukraine einprasselnde Propaganda definitiv den Rahmen dessen überschritten, was die Menschen als Realität des eigenen Landes erleben. Auch hat Russland nach dem Überfall durch das Wüten seiner Soldateska jegliche Glaubwürdigkeit als Friedensbringer verloren. Niemand, so berichtet G., auch nicht in den Russenhochburgen im Nordosten des Landes, möchte heute noch zu Russland – die radikalen Separatisten im Donbass natürlich ausgenommen.
Kirche als Sozialinstitution
G.s Schwiegermutter, die in Partei und Wirtschaft der Sowjetunion Karriere gemacht hatte, ist inzwischen von ihrer politischen Nostalgie abgekommen. Deren Platz in ihrem Leben füllt jetzt die Kirche aus. Sie geht auf im orthodoxen Ritus und Glauben sowie im karitativen Dienst der Gemeinde. An Letzterem beteiligen sich übrigens auch sehr viele, die keine so innige Beziehung zur Orthodoxie pflegen. Die Kirche, so stellt G. fest, ist weithin die einzige funktionierende Sozialinstitution und der vielleicht wichtigste Ersatz für die unterentwickelten zivilgesellschaftlichen Kräfte im Land.
Es ist die Kirche, die sich um die zahlreichen Alten kümmert, welche durch den Krieg die traditionelle familiäre Unterstützung verloren haben. Von der jüngeren Generation sind ja die Männer in der Armee, die Frauen und Kinder geflohen. So sammelt denn die Kirche erfolgreich Spenden, backt Brot, kocht Suppe und lässt die Mahlzeiten von Freiwilligen verteilen. Von der sonst allgegenwärtigen Korruption blieben diese Tätigkeiten (zumindest weitgehend) verschont, so glaubt G.; dies nicht zuletzt, weil durch den Einbezug der vielen Freiwilligen und von der Kirche im Übrigen Distanzierten eine gewisse Kontrolle besteht.
Jenseits dieses kirchlichen Engagements jedoch fehle es an zivilgesellschaftlichen Initiativen, meint G. und sieht dafür mehrere Gründe. Einer davon liege in der Konzentration auf die familiäre Solidarität, die wegen des Fehlens sozialer Stützen einer schlichten Notwendigkeit entspricht. Diese Rückbindung sozialer Energien an den engsten Kreis habe dazu geführt, dass Menschen im gesellschaftlichen Kontext kaum die Erfahrung der «Selbstwirksamkeit» machen können – ein Begriff, in dem G. einen Schlüssel zum Verständnis eines wesentlichen Mankos der ukrainischen Gesellschaft sieht.
Verstärkte Westbindung
Wir fragen G., ob nicht die erstaunliche Widerstandskraft des ukrainischen Volks gegen Putins Aggression darauf hindeute, dass dieses Manko derzeit überwunden werde und so etwas wie eine Zivilgesellschaft im Entstehen sei. G. antwortet vorsichtig abwägend, er vermute hinter solcher Resilienz vor allem die Mobilisierungskraft des in jüngster Zeit stark gewachsenen ukrainischen Nationalgefühls. Zwar seien durch den Widerstand gegen Russland fast zwangsläufig auch die als westlich geltenden Werte wie Freiheit und individuelle Selbstbestimmung gestärkt worden. Die Westorientierung der Ukraine habe sich dadurch nicht nur auf der Ebene der Politik, sondern auch auf jener der Gesellschaft massiv verstärkt.
G., der sich zurzeit ausserhalb der Ukraine aufhält, fiebert jeden Tag mit dem Land. Er bleibt mit der Familie in Verbindung und konsultiert laufend Dutzende von Quellen zum Kriegsgeschehen, die er als zuverlässig kennt. Es kostet ihn wachsende Anstrengung, nicht zu verzweifeln. Illusionslos beschreibt er die Stimmung im Land, die auch seine eigene ist: «Wir müssen uns selber helfen, können es auf Dauer aber nicht. Die Hilfe, die wir bekommen, reicht nicht aus. Und die Russen geben keine Ruhe, bis die Ukraine zerstört ist.»