Die Bilder von Steve McCurry unter dem Titel «Devotion. Hingabe» zeigen Menschen in aller Welt in ihrer Hinwendung zur Religion, aber auch zu ihren Nächsten und zu ihren Aufgaben. Alle Bilder erzählen von der Innigkeit, zu der der Mensch fähig ist, wenn er sich ganz auf das fokussiert, was ihm wirklich wichtig ist.
Der Band ist mit seinen grossformatigen 150 Bildern umfangreich. Das ist aber nicht der Grund dafür, dass man ihn kaum kontinuierlich von vorn nach hinten betrachten wird. Denn jedes einzelne Bild steht für sich und übt einen eigenen Bann aus. Man ist gut beraten, sich die Zeit zu nehmen, um den Bann wirken zu lassen. Man wird dabei sehr Unterschiedliches erleben. Zum Beispiel die Nähe zu manchen Menschen, deren Hingabe etwas Anrührendes hat, das man sofort versteht. Oder man spürt die Kraft, die aus einer religiösen Zuwendung entstehen kann. Jedes einzelne Bild erzählt eine andere Geschichte, und man findet sich darin zurecht.
Das Verbindende der Religionen
Das ist weitaus erstaunlicher, als dem Betrachter zunächst bewusst wird. Denn andere Religionen mit ihren seltsamen Kulten bilden für uns eigentlich verschlossene Welten. Das gilt in Europa selbst für das Christentum, dessen Riten von kirchenfremden Menschen nicht verstanden werden. Aus den Bildern von Steve McCurry wiederum erwächst ein intuitives Verständnis, das dem Inneren gut tut. Denn McCurry konzentriert sich auf den Aspekt der «Hingabe». Man sieht Menschen, die in der Ausübung ihrer Religion ganz bei sich sind und spürt die dabei wirkende religiöse Kraft. Das ist das Verbindende der Religionen untereinander und – noch mehr – der Religionen mit der Menschheit.
Vergleicht man diesen Band mit den Bildern des 2015 erschienenen Bildbandes über Indien von Steve McCurry, so tritt diese Eigenart noch deutlicher zutage. Denn dort dominiert der Eindruck des Fremden, des Exotischen. Es ist der Blick des staunenden Reisenden, der Distanz wahrt. Jetzt aber will McCurry den Menschen unaufdringlich nahe kommen, um empathisch ihre innere Bewegung ins Bild zu setzen. Schon einmal ist ihm dies wunderbar gelungen: in seinem Band über das Lesen.
Trost in der Trostlosigkeit
Die Hingabe ist ein Schlüssel zum Verständnis fremder Kulturen mit ihren Religionen, aber auch mit ihren alltäglichen Begebenheiten und Verpflichtungen. Man sieht in dem Band von McCurry Ärzte, die geradezu andächtig Kinder behandeln, Krankenschwestern, die Trost spenden, Familien, die sich nahe sind und sich gegenseitig mit Hingabe stützen, Pilger, die in Lourdes um Heilung flehen, und einen Gefängnisprediger, der in einem kalifornischen Gefängnis vor Gitterstäben kniet, um mit den Gefangenen zu beten. Und ein Bild aus Beirut zeigt die überwältigende Dimension menschlicher Leidensfähigkeit im liebevoll trotzigen Dennoch: In Beirut sitzt im Jahr 1982 eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter auf dem Balkon eines Hochhauses und schält Früchte – im Hintergrund die im Bürgerkrieg zertrümmerten Wohnungen der Nachbarschaft. Trost in der Trostlosigkeit. Kein Bild lässt den Betrachter unberührt, und wie von selbst fängt er an, sich die Geschichten der Beziehungen und Lebensverhältnisse zu erzählen.
Wer die Bilder von Steve McCurry betrachtet, staunt nicht nur über ihre kompositorische Perfektion, sondern auch über ihre technische Brillanz. Die Farben und die Kontraste erscheinen geradezu unwirklich. Diese überragende Qualität hat ganz wesentlich zum Ruhm McCurrys beigetragen. Aber er hat sich seine Sporen in buchstäblich harter Arbeit verdient. Nach seinem Studium an der Pennsylvania State University mit dem Abschluss eines Bachelors of Arts ging er zunächst als freiberuflicher Fotograf nach Indien. Internationale Bekanntheit erlangte er durch seine Dokumentation der sowjetischen Intervention in Afghanistan. Für diese Reportage wurde er 1980 mit der Robert Capa Gold Medal ausgezeichnet. 1986 wurde er Mitglied der Fotografenagentur Magnum. McCurry berichtete aus zahlreichen Kriegen weltweit, unter anderem über den Iran-Irak-Krieg, den Zerfall des früheren Jugoslawiens, aus Beirut, Kambodscha, Tibet, dem Jemen, den Philippinen und dem Golfkrieg.
McCurry wurde vielfach ausgezeichnet. Bei der Wahl zum Pressefoto des Jahres gewann er 1985 vier erste Preise in vier Disziplinen und 1992 zwei erste Preise. Er wurde mehrmals zum Photographer of the Year gewählt und ist seit 2005 Ehrenmitglied der Royal Photographic Society of Great Britain.
Steve McCurry war berühmt für seine Vorliebe für den Kodachrome Film. Als Kodak im Jahr 2010 seine Filmproduktion einstellte, wurde ihm feierlich der letzte Kodachrome 64 übergeben. Diese Anekdote markiert auch die Tatsache, dass McCurry sich zunehmend der Techniken moderner Bildbearbeitung bediente. Und im Laufe der Zeit tauchten Vorwürfe auf, dass er in unzulässiger Weise einige Bilder inhaltlich manipuliert, also gegen die Ethik des professionellen Bildjournalismus verstossen habe. Daraufhin wurden einige der inkriminierten Fotos aus den einschlägigen Sammlungen entfernt. – Das sind ein paar Flecken auf seiner Weste, aber sie ändern nichts an der Überzeugungskraft seiner künstlerischen Arbeit.
Der Band ist mit kurzen meditativen Texten versehen. Sie haben ihren Platz und ihren Sinn. Aber je länger man die Bilder auf sich wirken lässt, desto mehr verblassen die an sich gehaltvollen Worte. Die Sprache der Bilder ist weitaus stärker.
Diese Komposition von Bildern aus verschiedenen Zeiten und Ländern wird man nicht einfach ins Regal stellen. Man wird diesen Band an einen bevorzugten Platz in der Wohnung legen und ihn an verschiedenen Tagen an beliebigen Stellen aufschlagen und die Bilder auf sich wirken lassen.
Steve McCurry: Devotion. Hingabe. Vorwort von Pico Iyer 208 Seiten, 150 Farbabbildungen, Prestel Verlag, München 2023, 49 Euro, 64 Franken