Der Tscheche Miroslaw Tichý (1925–2011) ist als Outside-Fotograf eine Kultfigur. Die Tichý Ocean Foundation mit Sitz in Zürich vernetzt ihn auf ihre Weise in der Weltkunst.
Das Haus Lessingstrasse 9 bei der Sihlcity in Zürich ist der Sitz der Tichý Ocean Foundation: Im Erdgeschoss befindet sich ein kleiner Ausstellungsraum, und darüber finden sich Räume für Veranstaltungen und Diskussionen.
Gleich daneben haben der Psychiater Roman Buxbaum und seine Kolleginnen und Kollegen ihre Praxis. Buxbaum (*1956 in Prag), der 2005 die Stiftung gründete, wuchs in der tschechischen Kleinstadt Kyjow unweit von Brünn auf, emigrierte 1968 in die Schweiz, wurde Künstler, studierte Medizin und eröffnete in Zürich eine Praxis für Psychiatrie. In Kyjow begegnete er einem randständigen Sonderling, Miroslav Tichý, der manchen als Stadtoriginal galt – andere aber, darunter auch Buxbaum, mit seinem seltsamen Tun faszinierte.
Ausschliesslich Frauen
Miroslav Tichý absolvierte in den ersten Nachkriegsjahren eine Künstler-Ausbildung, malte und zeichnete, verliess aber bald das akademisch geprägte Arbeitsfeld und pflegte seine eigene Kunst: Er bastelte aus Karton und allem möglichen Abfallmaterial Fotokameras, ging mit ihnen in der Stadt auf Pirsch und fotografierte ausschliesslich Frauen.
Buxbaum wurde Tichýs Freund. Er besuchte ihn regelmässig von Zürich aus, betreute seinen umfangreichen Nachlass und gründete schliesslich die erwähnte Stiftung. Ihre Ziele sind das Sammeln der Werke Tichýs und deren Erschliessung, Betreuung und Präsentation. Das geschieht im kleinen Ausstellungsraum an der Zürcher Lessingstrasse und in Vorträgen und Diskussionen und zusätzlich in einem Schauraum in der Heimat Tichys.
«Schlechte» Bilder gehen um die Welt
Erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde Tichý 2004, als Harald Szeemann ihn an der Biennale Sevilla zeigte. 2006 folgte eine Ausstellung im Kunsthaus Zürich, die Tobia Bezzola betreute, und deren Katalog-Publikation immer noch ein Standardwerk über Tichý ist. Dann gingen die Bilder Tichýs um die Welt, begleitet von weiteren Publikationen. Ein eigentlicher Hype setzte ein, der rasch die Preise für die krude Fotoproduktion in die Höhe trieb. Dass sich Harald Szeemann, Spezialist für Absonderliches, Randständiges und für Kreativität ausserhalb des Gewohnten, der Werke annahm, beförderte zweifellos die Betriebsamkeit um Tichý, die bis heute anhält.
Absonderlich mögen Tichýs Bilder und seine Vorgehen tatsächlich erscheinen. Mit den selbst gebastelten Kameras liessen sich, aus der Sicht professioneller Massstäbe, nur laienhaft «schlechte», unscharfe, zerkratzte oder verschmierte Fotos bewerkstelligen, auf denen oft kaum ein klares Sujet erkennbar ist. Dieses Sujet blieb sich während Jahrzehnten gleich: Frauen, die er auf der Strasse, in Parkanlagen, in verborgenen Winkeln, in Strandbädern aufspürte und meist von hinten fotografierte.
Wir sehen Rücken, Unterschenkel und Füsse, Gesässe. Die Frauen sind halb nackt, tragen Unterwäsche, Bikinis, enge Röcke oder enge Hosen. Oft verweisen ihre Stellungen auf aus der Kunstgeschichte bekannte Muster (da zeigt sich seine «klassische» Ausbildung), doch oft ist auch Zufall im Spiel. Um ihr Einverständnis wurden die Fotografierten nicht gebeten; sie posieren also nicht. Tichý wahrte Distanz und soll seine Modelle nie in irgendeiner Form belästigt haben. Betrachten wir die Fotos Tichýs, der mit zunehmendem Alter kauziger und randständiger wurde und das Leben eines halbwegs verwahrlosten, allerdings von Nachbarn betreuten Messies führte, denken wir spontan an einen Voyeur der harmlosen Art, der aus der Deckung heraus einen Blick auf die Frauen seiner Stadt zu erhaschen suchte. Er tat das täglich 100 Mal. Das ergab über die Jahre Tausende von Fotos.
Protest gegen Ordnung
Hinter diesem allfälligen Voyeurismus liesse sich mehr entdecken. Tichý war sich zweifellos der Diskrepanz zwischen seinen Fotos und dem, was gemeinhin als Bildqualität und Professionalität gilt, bewusst. Seine Bilder können – von aussen gesehen und ohne Legitimation durch Tichý selber – gelesen werden als ein Ablehnen akademischer Standards, als anarchischer Protest gegen Ordnung, gegen Wohlgefallen und gesellschaftliche Zwänge und wohl auch gegen jene staatlichen Eingriffe weit in die privaten Sphären hinein, welche die politische Realität von Tichýs Welt in der kommunistischen Tschechoslowakei prägten. Er formulierte diesen Protest, ob gewollt oder nicht, aus einer Maskerade skurriler Unangepasstheit heraus. Das machte ihn unangreifbar.
Allerdings: Ihn als Antikommunisten zu vereinnahmen, schösse übers Ziel hinaus. Dazu gibt es keine Anhaltspunkte. Tichý liess sich offenbar überhaupt nicht vereinnahmen. Er ging, ohne jeden Rechtfertigungsversuch, seinen eigenen Weg. Vertraut man der Tichý-Literatur und den Zeugnissen von Zeitgenossen, so blieb er gegenüber den Ausstellungen seiner Fotografien gleichgültig. Er arbeitete jedenfalls nie auf Ausstellungen hin, oder er lehnte sie gar ab. Kommentarlos häufte er seine Fotos ungeordnet in seiner Behausung auf. Der später Ruhm, den er noch hätte erleben oder gar geniessen können, weckte sein Misstrauen. Den Umgang mit Galeristen und anderen Vermittlern soll er als bedrängend empfunden haben. Das geht aus Nataša von Kopps filmischem Porträt Tichýs mit dem Titel «Worldstar» (2007) hervor.
Also einmal mehr das Ausnützen eines armen Aussenseiters, der als Kuriosum in die Kanäle des kommerziellen Kunstbetriebs integriert werden soll? Die Sache liesse sich so sehen. Oder handelt sich doch eher um eine Persönlichkeit, die mit ihrer Existenz und ihrem Werk ein Zeichen setzt gegen Konvention und Langeweile und für die Freiheit seiner gegenüber niemandem verpflichteten künstlerischen Produktion?
«Artists for Tichý – Tichý for Artists»
Man könnte Tichý als Phänomen, als Zeugnis eigenwillig gewählter autonomer Lebensform zur Kenntnis nehmen und auf sich beruhen lassen. Nicht so die Tichý Ocean Foundation. Sie verfolgt neben dem Sammeln und Präsentieren der Werke Tichýs noch ein weiteres Ziel und sucht nach einem Umgang der etwas andern als üblichen Art mit dem Künstler, der längst zum Paradefall des Art-brut-Fotografen geworden ist: Der Stiftungsgründer Roman Buxbaum will Tichýs Bilder in der internationalen Gegenwartskunst situieren und so den Aussenseiter in der etablierten Kunstwelt vernetzen. Das bewerkstelligt die Aktion «Artists for Tichý – Tichý for Artists»: Künstlerinnen und Künstler erhalten eine Fotografie Tichýs und geben dafür eines ihrer Werke in die Sammlung der Tichý Ocean Foundation. Die Idee ergab sich im Jahr 1992, als der bekannte österreichische Künstler Arnulf Rainers Miroslav Tichý in Kyjow besuchte. Rainer wollte eine Fotografie kaufen. Tichý weigerte sich. Schliesslich einigten sich die beiden Künstler auf einen Werk-Tausch.
Bis heute gelangten durch solchen Austausch – eine kulturpolitisch spannende und vielschichtige Strategie – über 150 Werke in die Sammlung, und ebenso viele Fotografien Tichýs fanden den Weg in Ateliers in aller Welt. Die Liste der Namen ist prominent. Einige Namen: Nobuyoshi Araki, Christian Boltanski, Sophie Calle, Eva & Adele, Katharina Fritsch, Nan Goldin, Fischli/Weiss, Thomas Hischhorn, Alex Katz, Jürgen Klauke, Urs Lüthi, Ernesto Neto, Neo Rauch, Pamela Rosenkranz, Christoph Rütimann, Karin Sander, Rosemarie Trockel, Lawrence Weiner, Erwin Wurm. Viele Werke nehmen direkten Bezug auf Tichýs Schaffen. Die Homepage der Stiftung bildet sie alle ab.
Alfredo Jaars «Five Women»
Gegenwärtig ist in der Galerie eine Installation des chilenischen, politisch motivierten und international prominent tätigen Installations- und Konzeptkünstlers Alfredo Jaar (*1956) zu sehen. Sie entstand im Zusammenhang mit «Artists for Tichý – Tichý for Artists» und kann durchaus als Kritik am Werk Tichýs oder am Umgang mit diesem Werk verstanden werden. Im abgedunkelten Raum, in dem Tichý nur in ein paar aufliegenden Bildbänden, nicht aber mit Originalfotos zu begegnen ist, holen auf schwarzen Stativen montierte Scheinwerfer mit grellem Licht fünf kleine Frauenporträts aus dem Dunkel. Es handelt sich für jemanden, der mit der Geschichte und der politischen Gegenwart Tschechiens nicht vertraut ist, um wohl weitgehend unbekannte sozial engagierte Politikerinnen und Frauenrechtlerinnen, die in ihrer tschechischen Heimat Pionierarbeit leisteten oder noch leisten. Der aufliegende Saaltext gibt detailliert Auskunft.
Mit «Five Women», so der Titel der Installation, befreit Jaar die fünf Frauen aus dem Dunkel des Vergessens oder des Nicht-Wissens. Dass sich die Besucherinnen und Besucher, wollen sie die kleinen Fotografien aus der Nähe genau ansehen, mit Vorsicht durch den Wald der Scheinwerfer-Stative bewegen müssen, hat seinen Sinn: Fruchtbares Erinnern und die Auseinandersetzung mit politischer Geschichte sind beschwerlich und setzen den Willen zu Akribie voraus. Wer über das historische Bild hinaus Informationen will, der findet im Nebenraum Literatur – in tschechischer Sprache allerdings.
Der Umgang Jaars mit Frauenbildern ist völlig anderer Art als jener Tichýs. Der Art-brut-Fotograf gibt den Frauen weder einen Namen noch eine Identität. Wohl unbewusst schreibt er sich damit ein in eine über Jahrhunderte andauernde Tradition der Kunstgeschichte. «Seine» Frauen sind Objekt und bleiben im unbestimmten Bereich des Vorläufigen, Unscharfen und Unpräzisen. Alfredo Jaar hingegen zeigt präzis ausgeleuchtete Bilder handelnder Subjekte. Die fünf Frauen haben Namen und Identität. Jaar rückt ihre historische und politische Bedeutung ins Licht.
Alfredo Jaar schärft unsern Blick auf das Phänomen Miroslav Tichý.
Tichý Ocean Foundation, Lessingstrasse 9, Zürich. Bis 23. März 2023