Zeitgleich mit den Impressionisten geht Redon einen eigenen Weg: vom gedankenschweren Schwarzweiss seiner ersten Jahrzehnte zur strahlenden Farbigkeit des Alters. Schwarze Romantik, Naturwissenschaften und Traumwelten prägen sein Werk gleichermassen.
Bei manchen Meistern der darstellenden Kunst gibt es Werkperioden, die sich lebensgeschichtlich eindeutig zuordnen lassen, die Blaue und die Rosa Periode Picassos etwa. Seltener sind extreme stilistische Zweiteilungen von Œuvres in ein Früh- und ein Spätwerk. Odilon Redon (1840–1916) ist ein solcher Fall. Mit 25 Jahren erlernt er bei Rodolphe Bresdin in seiner Geburtsstadt Bordeaux die druckgraphischen Techniken der Radierung und der Lithographie. Letztere wird bis zu seinem 60. Lebensjahr zu seinem exklusiven Ausdrucksmittel.
Lithographie oder Steindruck ist ein im 19. Jahrhundert aufgekommenes Flachdruck-Verfahren, bei dem mit Fettkreiden direkt auf den Stein gezeichnet wird. Es ermöglicht tiefe Schwärze und differenzierte Tonwerte auch in sehr dunklen Bildpartien. Redon hat diese Technik verfeinert und zu einem Höhepunkt geführt, ähnlich wie es der von ihm verehrte Goya hundert Jahre zuvor mit derjenigen der Aquatinta-Radierung geschafft hat.
Die Faszination des Schwarzen mit seinen elementaren Wirkungen und subtilen Differenzierungen geht bei Odilon Redon entschieden über das Ästhetische hinaus. Er ist ein Anhänger der Schwarzen Romantik, welche als Reaktion auf den Erkenntnis- und Fortschrittsoptimismus der Aufklärung deren Nachtseiten in den Blick nimmt. Goya hat mit der berühmten Radierung «Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer» – sie gehört als Blatt Nr. 43 zu der Ende des 18. Jahrhunderts entstandenen Druckgraphik-Serie Caprichos – diese dunklen Abgründe von Vernunft und Zivilisation ikonisch zur Darstellung gebracht.
So wundert es nicht, dass Redon seinem Vorbild ein Album mit sechs Lithographien unter dem Titel «Hommage à Goya» (1885) widmet. Seit 1879 gestaltet er immer wieder solche Alben. Sie kommen bei Kritik und Publikum gut an und bringen Redon den späten Durchbruch als Künstler. Die überwiegend düsteren Blätter fangen eine Zeitstimmung ein, die als Reaktion auf Verwissenschaftlichung, Technisierung und urbane Beschleunigung der Lebenswelt sich dem Irrationalen, Mystischen und Okkulten zuwendet.
Was habe ich in mein Werk gelegt, um ihnen so viele Subtilitäten zu suggerieren? Ich habe dem Mysterium eine kleine Tür geöffnet. Ich habe Fiktionen geschaffen. Es ist an ihnen, den Weg weiterzugehen.
Wie frei Redon in seinen Druckgraphik-Serien mit Themen und literarischen Vorlagen umgeht, zeigt das Album «A Edgar Poe» (1882). Der Amerikaner Edgar Allan Poe (1809–1849) hat in der Tradition der Schwarzen Romantik etwa eines E. T. A. Hoffmann mit seinen Erzählungen ähnlich Untergründiges ans Licht gebracht, wie es ein halbes Jahrhundert später Sigmund Freud mit seinen Arbeiten zur Psychoanalyse getan hat. Poe schreibt nicht einfach Schauergeschichten, vielmehr gewinnen die essentielle Verunsicherung der menschlichen Position und die Verunklärung ihres Weltbezugs bei ihm in visionärer Weise Gestalt.
Poe hat ein Tor zur literarischen Moderne aufgestossen, durch das der Weg beispielsweise zu Franz Kafka weiterführt. Seine Erzählungen und Romane haben besonders in Frankreich im späten 19. Jahrhundert enorme Wirkungen entfaltet. Baudelaire, Mallarmé und viele andere haben Poe verehrt, Baudelaire hat ihn auch übersetzt.
Das berühmte erste Blatt des Poe-Zyklus (Bild ganz oben), das für die Ausstellung zu Recht als Schlüsselbild figuriert, vibriert geradezu in dieser Poe’schen Verunsicherung und Verunklärung: Ein weit aufgerissenes riesiges Auge starrt nach oben ins Leere. Es sitzt auf der Kugel eines Ballons, der, über karger Landschaft schwebend, einen flachen Korb trägt, in dem ein kleiner Kopf liegt.
Als heutiger Betrachter ist man versucht, diese Bild-Erfindung sogleich als Surrealismus zu kategorisieren. Bloss, den gibt es 1882 noch gar nicht; es dauert noch fast vierzig Jahre, bis André Breton ihn propagieren wird. Was Baudelaire und andere Poe-Adepten in Paris in den Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende treiben, das nennen sie Symbolismus. Redon fühlt sich diesem Kreis zugehörig, und er wird denn auch oft als Maler des Symbolismus bezeichnet.
Meine Zeichnungnen inspirieren, aber sie legen nicht fest, sie bestimmen nichts. Wie die Musik versetzen sie uns in die vieldeutige Welt des Unbestimmten.
Doch von den vielen kulturgeschichtlichen und kunsthistorischen Etiketten ist leider gerade diese wenig aussagekräftig. Schliesslich gehört das Symbol generell zur grundlegenden Grammatik kultureller Äusserungen: Als Zeichen, das «für etwas» ausserhalb seiner selbst steht, kann das Symbol nicht von einer einzelnen Kunstrichtung in Beschlag genommen werden. Jedes Artefakt, das «bedeutet», deutet über sich hinaus und hat dadurch den Zeigecharakter des Symbolischen.
Der Augenballon fällt schon deshalb auf, weil das Element des riesigen Auges bei Redon wiederholt erscheint; allein in der Winterthurer Ausstellung viermal. Zudem gibt es da menschliche Figuren mit übergrossen Augen zu sehen, ferner traumartige Gebilde, die fast nur aus Augen bestehen. Kein Zweifel: Redon macht das Sehen zu einem zentralen Thema seiner Bilder. Im Album «Les origines» (1883) zeigen gleich zwei von sechs Blättern das zyklopische Auge.
Die beiden obigen Blätter gehören zu dem Zyklus, der sich mit der Evolution der Lebensformen befasst. Seit seinem zwanzigsten Altersjahr ist Redon befreundet mit dem Botaniker Armand Clavaud, der ihn mit Darwin und seinem evolutionstheoretischen Hauptwerk «On the Origin of Species» (1859) vertraut macht und sein Interesse an den naturwissenschaftlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts weckt. Das Album «Les origines» ist Ausdruck davon. Besonders fasziniert den Maler Redon die Entwicklung des Sehens als einer essentiellen Besonderheit höherer Lebewesen.
Sehfähigkeit ist ein Schlüssel zur Entwicklung einer Vorstellung von Welt als einer Gegebenheit ausserhalb des Subjekts. Erst das Sehen ermöglicht schliesslich die Vorstellung eines Raums, der sich weit, fast unendlich weit über den Aktionsradius des sehenden Organismus hinaus erstreckt. Das Sehen ist eine evolutionäre Vorbedingung zur Entwicklung von Bewusstsein, Sprache, Denken, Vergesellschaftung, Weltbemächtigung, Kultur. Michel Foucault wird dann Mitte des 20. Jahrhunderts das Sehen als Machtausübung analysieren, und heute, in Zeiten elektronischer Überwachung und automatischer Personenerkennung hat diese Verbindung von Sehen und Kontrolle enorme gesellschaftliche Brisanz erlangt.
Redons Augenwesen blicken nach oben, ins Dunkel oder ins Leere des Unendlichen.
Automatisierte Überwachung ist ein Thema des 21. Jahrhunderts. In Redons Bildern spielt es keine Rolle. Seine Augenwesen blicken ja auch gar nicht auf ein gesellschaftliches Umfeld, sondern nach oben, ins Dunkel oder ins Leere des Unendlichen. Da geht es nicht um Konstituierung sozialer Macht, sondern um etwas, das gewissermassen «lange vorher» geschieht: Mit dem Bild des Augenballons hat Redon eine grossartige Bildmetapher für das Erwachen des Sehens als eines Schlüsselmoments der Evolution geschaffen. Der Bildtitel «L’œil, comme un ballon bizarre se dirige vers l’infini» verweist auf das Essentielle dieses Augenaufschlags. Er verortet den Menschen im Universum. Der Ballon trägt als Zeichen von Bewusstsein und Denken einen Menschenkopf, der nun erstmals die Welt zu sehen bekommt.
Redon verbindet das im Erwachen des Sehens kulminierende schöpferische Prinzip der naturgeschichtlichen Evolution mit der künstlerischen Kreation. Das erstmalige Sehen ist Ursprungsmoment aller modernen Bildkunst. Grosse Gemälde, auch wenn sie im Einzelfall lange bekannt sein mögen, zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihren Charakter der visuellen Offenbarung nicht verlieren und gewissermassen stets neu gesehen werden können. Ihre Ursprünglichkeit, die aus einem Erwachen hervorgegangen ist, schlägt sich in künstlerischer Qualität nieder, die sich nicht verbraucht.
Das erstmalige Sehen ist Ursprungsmoment aller modernen Bildkunst.
Bei Odilon Redon gibt es lebensgeschichtlich ein zweites Erwachen des Sehens. Es führt ihn zur Farbe. Vor seinem 60. Lebensjahr macht er fast ausschliesslich Lithographien und Kohlezeichnungen, die er selbst «Noirs» nennt. Ab 1900, in seinen letzten zwei Lebensjahrzehnten, tritt bei ihm eine völlig neue Kunst hervor. Er entwickelt eine breite Themenpalette von Mythologischem und Landschaftlichem bis zu Stillleben und Porträts. Als Technik des Übergangs dient ihm das Pastell. Dieses Zeichnen und Malen mit Farbkreiden auf Papier ist noch nicht allzu weit vom Lithographieren entfernt. Zunehmend wechselt er aber zu Ölfarben und Leinwand.
Die neuen Bildthemen eröffnen Redon die Ausdruckswelt der Farben, der seine Malerkollegen am Beginn des 20. Jahrhundert längst neue Freiheiten erschlossen haben. Redon ist hier ein Nachzügler, doch obschon der Kontinent Farbe inzwischen ausgemessen ist, macht er sich seinerseits an die Entdeckung koloristischer Möglichkeiten.
Beim «Wagen des Apollo» von 1910 führt Redon sein stilistisches Experimentieren in ein und demselben Bild zusammen: Da ist der in nervöser Pinselführung ausgeführte Wolkennebel, der sich lichtet und das Himmelsblau durchscheinen lässt. Die Konturen des Wagens wiederum lösen sich in einem fast pointillistisch anmutenden Wirbel auf. Schliesslich zeigen die Figuren der vier Pferde und des Wagenlenkers die Handschrift des Zeichners, der Redon ursprünglich ja ist. Zusammengehalten ist das Bild durch seine Atmosphäre der Leichtigkeit und den Eindruck des Fliegens in lichter Höhe.
Ein ganz zauberhaftes Kunststück hat Redon mit seinem undatierten, wohl etwa 1905 bis 1908 entstandenen Gemälde «Jeune fille aux pavots» geschaffen.
Dieses «Mädchen mit Mohnblumen» ist auf den ersten Blick nur als Umriss in der Bildmitte zu sehen in einer Sicht wie bei starkem Gegenlicht, das Personen vor dem gleissenden Hintergrund nur als Schemen erkennen lässt. Hier ist das blendende Licht in einen schillernden Bildgrund aus Grün-, Blau-, Gold- und Lilatönen aufgelöst. Im Vordergrund leuchtet der rote Klatschmohn vor dem schwarzen Kleid mit lilafarbenem Muster. Das Bild des wenige Jahre zuvor noch auf seine Noirs beschränkten Redon ist eine einzige Farborgie. Es ist, als hole er das während Jahrzenten Versäumte nun fast traumwandlerisch nach.
Die porträtierte Person aber bleibt eigentümlich ungreifbar. Während die Blüten am Rand in Klarheit erstrahlen, ist die junge Frau verschattet. Alles zwischen Haar und Hals hat die Farbe des im Bildgrund vorherrschenden Grün, leicht abgedunkelt ins Violett. Statt eines erkennbaren Gesichts ist da ein unlesbares Oval (in der fotografischen Reproduktion ist mehr zu erkennen als auf dem Original). Wer das Bild in der Ausstellung sieht, kann ein Wunder erleben: Die Betrachtung führt nach längerem Schauen zum allmählichen Erscheinen des Gesichts. Man erfährt das Erwachen des Sehens.
Odilon Redon ist auch in seinem zweiten künstlerischen Leben seinem Thema des Sehens treu geblieben. Doch statt es mit demonstrativen Zeichen aufs Tapet zu bringen, lässt er es die Betrachterinnen und Betrachter seiner Werke nun unmittelbar erleben, wie es zu einem wahren Sehen kommt und was dieses bei ihnen bewirkt.
Kunst Museum Winterthur, Reinhart am Stadtgarten:
Redon – Rêve et réalité, bis 30. Juli 2023, kuratiert von Andrea Lutz
Katalog hg. von Andrea Lutz, Kunst Museum Winterthur, 29 Franken