Der Mensch ist ein denkendes Wesen. Aber auch ein Denken vortäuschendes. Oft ergiessen sich Floskeln über unsere Lippen, bei denen wir uns kaum etwas denken, Floskeln, die dennoch den Eindruck erwecken, wir dächten. Ich nenne das Phänomen Cogitatio praecox: vorzeitiger Denkerguss. Es gibt zahlreiche Symptome. Nachfolgend ein halbes Dutzend.
«Ich denke …»
Die Floskel «Ich denke …» ist das offensichtlichste Symptom. Nein, nicht das berühmte Cogito von Descartes. Für den Philosophen bedeutete das «Ich denke» die Begründung seiner Existenz. Wer heute «Ich denke …» vor ein Statement setzt, trägt intellektuelle Glasur auf: «Ich denke, am Ende des Tunnels wird es immer wieder hell», «Ich denke, die Justiz ist doch irgendwie dem Recht verpflichtet», «Ich denke, um die Probleme in den Griff zu bekommen, müssen wir eine gemeinsame Perspektive finden». Das «Ich denke …» hebt das Ich hervor, nicht das Denken: ein verbales Selfie. Die Logiker haben dafür einen adretten Ausdruck: performativer Widerspuch. Man tut gerade das Gegenteil dessen, was man sagt, man tue es. Es gibt reizvolle Varianten, etwa wenn man Sonette in Sonnettform schmäht, wie Robert Gernhardt in «Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs». Meist aber verschafft man sich mit derlei Leerlauf eine Pole-Position im «Diskurs». Ein Klassiker ist etwa der Konjunktiv «Ich würde denken, dass …», nobler der Optativ: «Als erwägbare Option denkbar wäre …». Ein richtiger Hammer: «Erstmal ins Unreine gesprochen, möchte ich folgendes denken wollen.» Solche Eröffnungen lassen sofort erahnen, dass hier ein potentes denkerisches Arsenal im Hinterhalt lauert, und man sich nicht einfach auf plumpes Behaupten herablässt. Wie etwa dieser Politiker: «Ich denke, und das sage ich klipp und klar …»
«Für mich …»
Wahrscheinlich ist das deutsche «Ich denke …» eine allzu wörtliche Übersetzung des englischen «I think …», das einfach eine persönliche Stellungnahme – oft auch Betroffenheit – ausdrückt. Hier stossen wir auf eine zweite symptomatische Floskel: «Meiner persönlichen Meinung nach …» oder «Für mich ist das so». Eine Meinung ist immer persönlich, jemandes Meinung, «Meiner persönlichen Meinung nach …» also ein Pleonasmus, und «Für mich …» eine Immunisierung der Aussage. Denn wenn ich vor eine Behauptung «Für mich …» setze, mache ich sie unangreifbar, das heisst, entziehe ich sie dem Zugriff von wahr oder falsch. Alternative Fakten sind typische «Für-mich»-Fakten. Ein Wörterbuch für Neologismen bezeichnet alternative Fakten als falsche Information, die sich als andere Sichtweise geltend macht. «Die Erde ist flach»: falsch. «Für mich ist die Erde flach»: alternativ. Aber Vorsicht, die Floskel kann nach hinten ausschlagen. Dann lautet sie simpel: «Ich bin ein Flachkopf.»
«Sozusagen …»
Eine dritte Symptom-Floskel ist «sozusagen». Man sagt etwas so, meint aber, dass es eigentlich anders oder weiter oder genauer gedacht werden müsste. Nur tut man es nicht. Oder kann es nicht. «Sozusagen» suspendiert das Denken, wirft sich aber trotzdem in denkerische Pose. Es soll einen deutschen Sportmoderator geben, der in einer Sendung 164 Mal «sozusagen» gebraucht hat. Sozusagen ein Rekordhalter im Denkvermeiden.
Verwandt damit ist «Sag ich mal …». «Immigranten, sag ich mal einfach so, haben zuviele Kinder und zuwenig Bildung.» Man sagt mal etwas, und das Denken folgt – wenn überhaupt – später. Die Urform des vorzeitigen Ergusses, der libertäre Schlachtruf aufbegehrenden Querdenkens: Das wird man ja wohl noch sagen dürfen, selbst wenn es unbequem ist. Dahinter steckt ein Denkfehler: Das Unbequeme ist kein Garant für Wahrheit.
«Irgendwie …»
Viertes Symptom: «Irgend …» oder «unter Umständen …». Die Floskel neigt zur Tautologie. Irgendwie geschieht immer irgendetwas irgendwo irgendwann. Und unter Umständen sowieso. «Irgendwie» bedeutet Ich-weiss-nicht-wie, aber man gesteht nicht sein Nichtwissen ein, sondern lädt es mit ahnungsvoller Vagheit auf. Mit «irgendwie» schlingert man nichtwissend, problembeduselt und mächtig Eindruck schindend durch die Welt.
Unterschätzen wir im Übrigen nicht die Tautologie. Eine Tautologie sagt «unter Umständen» mehr als sie sagt. Sie hat «sozusagen» ein subkommunikatives Potenzial. Und es gibt wahre Meisterinnen der Tautologie. Als Angela Merkel in einem Vortrag an der Harvard University sagte «Lügen sind keine Wahrheiten», war die untergründige Botschaft – Trump sass noch im Oval Office – zweideutig eindeutig. Wer sie hören wollte, konnte sie hören. Die Tautologie traf ins Schwarze. Manchmal entpuppt sie sich allerdings als Bumerang. «Genug ist genug», sagte Österreichs Sebastian Kurz einmal. Bums!
«Im Grunde genommen …»
Fünftes Symptom: «Im Grunde genommen …» oder «im Prinzip …». Damit gibt man zu erkennen, dass man einen Tiefenblick hat, der alle anderen Argumente als oberflächlich erscheinen lässt. Wer «Im Grunde genommen …» sagt, bezichtigt die anderen implizite als Um-den-Brei-herum-Redner. Denn man vertritt ja «im Grunde genommen» die ultimative Erklärposition – «sozusagen» den Gottesgesichtspunkt. Zudem verschafft einem die Floskel einen Irritations-Vorteil im Gespräch: «Im Grunde genommen sind wir alle krank.» Natürlich kann das ein Schubser zum Weiterdenken sein, zur Herausforderung verhockter Denkmuster. Aber meist täuscht «Im Grunde genommen …» den Blick auf den Grund vor. Ähnlich sucht «aufs Ganze gesehen» das Ganze, findet es aber nicht.
Entfernt verwandt mit diesem Symptom ist der Jargon des «eigentlich». Eigentlich eine Denkfeigheit, Ausfluchtsmanöver vor der Klarheit. Man möchte Fraktur reden, kann es aber nicht oder wagt es nicht. «Eigentlich war die Rede unter aller Kanone»; «Eigentlich ist das Bullshit, was du da schreibst.» Letzteres kann auch an die eigene Adresse gerichtet sein. Ist es auch oft.
«Internet of Beefs»
Die neue Kommunikationstechnologie begünstigt Cogitationes praecoces. Das Smartphone ermuntert nachgerade zum vorzeitigen Erguss. Vor allem ein Symptom ist online endemisch: die Neigung, sich kenntlich zu machen durch – pardon – Inkontinenz pseudonymen Kommentierens. Häufig geht man dabei gar nicht auf den Inhalt ein, sondern markiert einfach: Ich bin dann mal da. Und nicht nur das. Aus einem argumentativen Defizit bastelt man einen Schlagstock, mit dem sich weidlich herumdreschen lässt: «Hey, das sagst du doch nur, weil du ein alter weisser frustrierter Seckel bist …» Das klassische Argumentum ad hominem. Es hat sich im Netz zu einer regelrechten Streitform entwickelt, zum «Beef» – ein Hip-Hop-Ausdruck für spielerischen agressiven Zoff zwischen Rappern. Das Risiko besteht durchaus, dass das Spiel eskaliert, vor allem wenn sich hormongesteuerte, geistig kleinformatige Aufmerksamkeitsjunkies beteiligen. Im Englischen spricht man vom «beef-only-thinker»: einer Person, die alles, was ihrem Weltbild widerspricht, zum Anlasss für Knatsch nimmt. Im Normalfall sind die «Beefs» im Netz ohne Bedeutung und Konsequenz. Aber die Social Media üben natürlich einen Verstärkereffekt aus, so dass im «Internet of Beefs» auch die trollige Null sich Gehör verschaffen kann. Bedenklich wird der «Beef», wenn er sich in der Realität fortsetzt. Bei manch einem «Beef», lese ich neulich, sprächen in den USA schliesslich die Waffen.
Lichtenberg zum Schluss
«Ich denke» war einmal eine stolze Kampfvokabel, eingesetzt zur Befreiung des Menschen aus der Gängelung durch fremde Autoritäten. Aber Befreiung ist ein steiler Hang, wir rutschen auf ihm immer wieder ab. «Es ist unglaublich, wie viel unsere besten Wörter verloren haben, das Wort ‹vernünftig› hat fast sein ganzes Gepräge verloren», schrieb der grosse Aphoristiker der Aufklärung, Georg Christoph Lichtenberg, «man weiss die Bedeutung, aber man fühlt sie nicht mehr wegen der Menge von vernünftigen Männern, die den Titel geführt haben.»
Ich pflichte Lichtenberg vollen Herzens bei. Ich denke, es ist unglaublich, wie viel heute «gedacht» wird und wie das Wort «Denken» im Grunde genommen und aufs Ganze gesehen, sag ich jetzt mal, eigentlich irgendwie sein ganzes Gepräge verloren hat.