Im Februar 1963 fror der Zürichsee letztmals vollständig zu. Die mehrwöchige „Seegfrörni” ist als riesiges Volksfest in Erinnerung geblieben. Daneben gab es Menschen, die unter dem harten Winter litten. Der reformierte Zürcher Pfarrer Ernst Sieber hatte Kontakt zu den Obdachlosen der Stadt. Um sie nicht der lebensbedrohenden Kälte auszuliefern, liess er einen Zivilschutzbunker unter dem Helvetiaplatz für sie öffnen. Mit freiwilligen Helferinnen und Helfern betrieb er dort sein erstes improvisiertes Obdachlosenheim.
Versierter Kommunikator
Bereits bei diesem Anfang bewies Ernst Sieber seine Doppelbegabung: Er war und ist nicht nur der zupackende Macher zugunsten der Hilfsbedürftigen, sondern gleichzeitig auch der versierte Kommunikator seiner sozialen Anliegen. So holte er denn Politiker und Medien in den Bunker und sorgte dafür, dass trotz des Jahrhundertspektakels des vereisten Zürichsees auch über die Lage der Menschen am Rand der Gesellschaft berichtet wurde. Und natürlich über ihn, den Obdachlosenpfarrer.
Seit jenen Tagen schneidert Sieber sich in konsequenter Selbststilisierung die Rolle des ausgeflippten Verkündigers, des Narren Gottes auf den Leib. Er, der einst Schauspieler hat werden wollen und mit vielen kreativen Begabungen gesegnet ist – er malt, bildhauert, singt, musiziert, tanzt und ist die geborene „Rampensau“ – weiss genau, was es braucht, um einen Platz als öffentliche Figur zu erobern und zu behaupten. So hat er denn seine äusserlichen Kennzeichen der Knechtsgestalt und seine auf’s Elementare zielenden Kernbotschaften nie verändert. Die „Marke Sieber“ kennen alle.
Mit dem Esel zwischen den Fronten
Zu Beginn der achtziger Jahre geriet Pfarrer Sieber erneut in den Brennpunkt von Ereignissen, die das Land bewegten. Wie aus heiterem Himmel wurde die etwas verschlafene Stadt von gewaltsamen Jugendunruhen erschüttert. Pflastersteine, Tränengas und Gummischrot verwandelten Zürich mehrfach in ein Schlachtfeld.
Auf der Quaibrücke am See droht eine Demonstration gefährlich zu eskalieren. Sieber ist zur Stelle und geht mit seinem Esel zwischen die Fronten. Die überraschende Anwesenheit des bekannten Pfarrers und seines friedlichen Grautiers verhindert einen Zusammenprall an gefahrenträchtiger Stelle. Im „Wort zum Sonntag” tritt Sieber am folgenden Samstag mit einem Haufen Pflastersteinen auf, die er vor der Kamera zu einer Brücke zusammenfügt. – Er ist zur national bekannten Gestalt geworden.
Unternehmer in Sachen Nächstenliebe
Als unkonventioneller Pfarrer der wohlbestallten reformierten Landeskirche schafft er es, eine ganze Reihe von sozialtherapeutischen Einrichtungen – namentlich für sozial Desintegrierte und Suchtkranke – aufzubauen. Die „Sozialwerke Pfarrer Sieber” mit inzwischen 180 Angestellten und einer grossen Zahl von Freiwilligen sind ein Unternehmen, das professionelle Soziale Arbeit leistet und den Grundgedanken von christlicher Nächstenliebe und Seelsorge verpflichtet ist.
Die christliche Basis seines Tuns hat Ernst Sieber in zahllosen Auftritten vor Mikrophonen und Kameras sowie auf allen möglichen Bühnen und Kanzeln bildhaft vorgeführt. Dabei scheut er weder das Klischee noch den Kalauer oder das ermüdende Selbstzitat. In seinen professionell präparierten Statements erscheint Sieber häufig überengagiert, zu laut und gleichzeitig ein bisschen ungelenk, mit schiefen Vergleichen und knirschenden Wortspielen. Und vermutlich ist genau dies sein Erfolgsrezept: Sosehr seine Medienauftritte auf Wirkung hin kalkuliert sind, machen sie doch stets einen rauen, „authentischen” Eindruck.
An Deutlichkeit hat Sieber es nie fehlen lassen: Vergessene Bedürftige gehören in den Mittelpunkt gestellt, und sie müssen sich Zuwendung nicht erst verdienen – so sein unermüdlich wiederholtes Credo. Und weiter: Wo Hilfe nötig ist, soll sie geleistet werden, doch das Materielle allein genügt nicht. Nur echte Mitmenschlichkeit lindert die Nöte der Abgehängten und Vereinsamten. – Diese christlichen Kernaussagen hat Sieber unablässig wiederholt, abgewandelt und medientauglich präsentiert.
Anführer und Galionsfigur
Ernst Sieber lebt das vor, und er inszeniert es auch. Bei ihm ist alles immer „gespielt”, aber er ist in seiner Rolle ganz echt. Vieles deutet darauf hin, dass er gerade auf diese Weise seinen Schützlingen eine Möglichkeit gibt, auch für sich selbst Rollen zu finden, in denen sie sich akzeptieren und an ihre Chancen glauben können. Sieber ist für sie schlicht „der Pfarrer” – und eben nicht der Fürsorger oder der Bewährungshelfer oder gar der Chef. Wenn er seine Schutzbefohlenen (vor der Kamera) in die Arme nimmt, so zeigt er, dass er an ihre Chancen glaubt: bei der einen an einen Weg zu selbstbestimmtem Leben, beim anderen an die Gnade eines versöhnten getrösteten Sterbens.
Als Gründer und Leiter seines Sozialunternehmens war Ernst Sieber eher ein Anführer denn ein Manager. Er verkörperte glaubwürdig und wirkungsvoll die Idee seiner Projekte, zog Mitarbeitende an, prägte den Geist seiner Häuser und Einrichtungen. Im Management unterliefen ihm jedoch happige Fehler. Seine Sozialwerke wurden Opfer einer Veruntreuung und standen vor dem Konkurs. Eine anonyme Grossspende rettete sein Lebenswerk, allerdings um den Preis seiner Entmachtung. Ihm bleibt nur die Rolle der Galionsfigur – eine tiefe Kränkung, die er nach aussen so gut als möglich verbirgt.
Der Beinahe-Crash der „Sozialwerke Pfarrer Sieber” ist nicht der einzige Schatten auf seiner Laufbahn. 1991 wurde er als EVP-Vertreter in den Nationalrat gewählt, wo er genauso auftrat wie immer: als Narr. Die Rolle passte auf dem Parkett des Bundeshauses, vorsichtig ausgedrückt, nicht optimal; jedenfalls blieb es bei der einen Legislatur.
Auch ein Versuch, die Hilfstätigkeit seiner Sozialwerke in die Dritte Welt auszudehnen, endete rasch. Der Ausflug nach Afghanistan, wo Sieber sich – wie immer unter starker Medienbeachtung – „mit den Taliban treffen” wollte, lieferte einige skurrile Bilder. Hier gab die Narrenrolle ihm immerhin die Möglichkeit, die ans Peinliche grenzende Geschichte einigermassen unbeschadet zu überstehen.
Zwinglianischer Franziskaner
Nationale Politik und die weite Welt geben keine Kulissen für ein Heimspiel ab. Ernst Sieber hat lernen müssen, dass seine Wirkungsfelder immer in überschaubaren Verhältnissen zu finden sind. Wo er umstandslos als „der Pfarrer” auftreten kann und so meistens offene Türen findet, setzt er Erstaunliches in Bewegung.
Wie vielen Zürcher Polizeibeamten, die mal wieder nicht wussten, wo sie mit einem abgestürzten schrägen Vogel hin sollten, ist nicht in all den Jahren „der Pfarrer Sieber” eingefallen! Dafür haben sie gelegentlich Fünfe gerade sein lassen, wenn dieser mit dem Auto mal wieder etwas anders als erlaubt unterwegs war. Trotz polizeilichen Wohlwollens bekam er etliche Ausweisentzüge aufgebrummt. Nach einem schlimmen Unfall verzichtete er schliesslich aufs Autofahren.
Siebers geistliches Leitbild ist Franz von Assisi. Tatsächlich versteht man ihn am ehesten, wenn man ihn als einen reformierten, gut zwinglianischen Franziskaner betrachtet. Er sieht sich in den Fussstapfen des Rebellen, Mystikers und Ordensgründers aus Assisi. In der Tat: Für seine bescheidene Lebensweise, seine Nähe zu den Hilflosen und Abgeschobenen, sein keckes Selbstbewusstsein gegenüber Mächtigen und seine heitere Frömmigkeit kann Ernst Sieber sich sehr wohl auf den Heiligen Franziskus berufen.
Ist das franziskanische Ideal der inhaltliche Leitstern für Siebers Pfarrerleben, so ist dessen Ausdrucksform die Figur des Knechts. In keiner seiner Reden vergisst er zu erzählen, dass er vor seinem Studium einmal als Bauernknecht gearbeitet hat. Sieber spiritualisiert diese Erfahrung, indem er sie auflädt mit dem biblischen Motiv des Gottesknechts. Und da bei ihm das Spirituelle stets sinnlich ist, „spielt” er die Rolle des Bauern- und Gottesknechts mit Haut und Haar und von früh bis spät. In ihr findet er seine ideale Identität. Indem er sich so inszeniert, ist er – Theatermensch, der er ist – ganz echt und ganz bei sich.
Mann der Kirche
Ernst Sieber ist der reformierten Landeskirche, obwohl er ihre Strukturen gesprengt hat, loyal und dankbar verbunden. Die Zürcher Kantonalkirche habe ihn „zwar nicht gefördert, aber immerhin auch nicht verhindert”. Die Formulierung stammt von einem einstigen Repräsentanten der Kirchenbehörde. Sieber zitiert sie genüsslich, ist aber fair genug, sie umgehend zu relativieren. Immerhin habe diese Kirche ihn zur Zeit der Zürcher Jugendunruhen von 1980 für ein Jahr frei gestellt, damit er sich voll in dem turbulenten Geschehen rund um das legendäre AJZ (Autonomes Jugend-Zentrum) einsetzen konnte. Auch bei der Rettung seines Sozialwerks hielt die Kirche ihre schützende Hand über ihn.
Mit Enthusiasmus spricht Sieber von seinen einstigen Gemeinden. Als Pfarrer zuerst von Uitikon-Waldegg und dann von Zürich-Altstetten habe er Rückhalt und Unterstützung genossen. Die Kirche, das ist Siebers feste Meinung, nütze allgemein ihre Möglichkeiten zu wenig aus. Für ihn ist klar: Wenn Kirchenleute sich kompromisslos für Schwächere einsetzen, geniessen sie Respekt und gewinnen den für ihren Dienst an der Gesellschaft nötigen Einfluss.
Seelsorger der Armen
Sieber braucht das Wort „Gesellschaft” häufig und prangert wortgewaltig deren Defizite an. Doch im Grunde ist er kein politischer Mensch. Er geht soziale Probleme nicht politisch an, sondern wendet sich direkt den Menschen zu, für deren Probleme und Leiden er „die Gesellschaft” mitverantwortlich sieht.
Sieber ist mit allem, was er tut, ein Seelsorger. Er hat ein breites und differenziertes Verständnis von Seelsorge. Es umfasst einerseits handfeste soziale Hilfe und fachkundige Therapie, andererseits menschliche Wärme, Verständnis und geistliche Begleitung. Siebers liebevolle Nähe zu bedürftigen Menschen ist so „echt gespielt” wie seine gesamte Existenz.
Einer seiner Schützlinge habe zu ihm gesagt: „Ernst, wir mögen dich, weil du uns glaubst.” Es überzeugt, wenn er beteuert, die Armen hätten ihm viel gegeben. Wie immer illustriert Sieber dies mit einer Geschichte: Als er einmal mit den Nerven völlig am Ende gewesen sei, habe ihm ein Schwerbehinderter die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt: „Pfarrer, muesch nöd truurig sii.”