Das Kunstmuseum Winterthur untersucht das Verhältnis der Kunst zum Krieg von der Renaissance bis zur Gegenwart. Die Ausstellung wurde vor dem Ausbruch des Ukrainekriegs konzipiert. Sie setzt einen sinnvollen Kontrapunkt zur Aktualität.
Spätestens seit Francis Ford Coppolas Vietnam-Kriegsfilm «Apocalypse Now» von 1979 sind Begriff und Bildwelten der Apokalypse in Populärkultur und Medien zu gängigen Metaphern des Krieges geworden. Doch diese Verbindung ist viel älter; sie geht auf vor- und ausserchristliche Kulturen zurück. Krieg und Apokalypse haben beide mit Untergang zu tun. Vorstellungen eines katastrophischen Weltendes kennen verschiedene Religionen, vielfach in Form eines zyklischen Werdens und Vergehens des Kosmos. Solche mythischen Narrative bieten sich seit jeher an, um die unfassbare Zerstörungsmacht von Kriegen anschaulich zu machen. Umgekehrt konnte der Krieg als Vorgeschmack der Apokalypse gesehen werden.
Im jüdisch-christlichen Kulturraum bezeichnet Apokalypse ursprünglich jenen Umschlagpunkt der Heilsgeschichte, an dem die unerfreuliche Wahrheit der Welt ans Licht kommt. Gott zieht gewissermassen Bilanz, lässt die vom Bösen korrumpierte Schöpfung fallen und rettet die kleine Minderheit der Gerechten hinüber in eine neue Welt, in der Frieden herrschen wird.
Apokalypse meint jenen Umschlagpunkt der Heilsgeschichte, an dem die unerfreuliche Wahrheit der Welt ans Licht kommt.
Acht Blätter Albrecht Dürers aus dessen fünfzehnteiliger «Apokalypse» eröffnen die historisch aufgebaute Schau im grossen Dachgeschossraum des Reinhart-Museums am Winterthurer Stadtgarten. Dürers Holzschnittserie aus vierzehn Illustrationen zum Text des biblischen Buchs Apokalypse (Offenbarung) und einem vorangestellten Blatt mit dem Martyrium des Johannes zählt zu den wichtigsten Werken dieses deutschen Renaissance-Künstlers. Die gezeigten acht Blätter sind allein schon die Reise nach Winterthur wert.
Dürers Holzschnitte illustrierten ursprünglich eine deutsche, dann eine lateinische Ausgabe der Johannes-Apokalypse. Der von ihm erstmals 1498 herausgegebene Druck machte Dürer europaweit bekannt und wurde zu einem grossen kommerziellen Erfolg. Bildserie und Buch waren dadurch ein historischer Schritt zu einem Künstler-Unternehmertum, das sich von höfischen und klerikalen Auftraggebern zu emanzipieren begann.
Das Thema lag in der Luft. Viele ahnten, dass ihrer Welt ein Umbruch bevorstand.
Das Thema der Apokalypse lag damals, kurz vor der Reformation, wieder einmal in der Luft. Viele ahnten, dass ihrer Welt ein Umbruch bevorstand. Soziale, politische, geistige, religiöse Missstände riefen nach tiefgreifender Veränderung. Der einst so geordnete Kosmos des Mittelalters wies Brüche auf und trieb seiner völligen Auflösung entgegen.
Genau dieses halb ersehnte, halb befürchtete Umschlagen der Verhältnisse vermochte die biblische Apokalypse zu artikulieren. Mit ihren bildstarken Visionen erfüllte sie die Funktion einer kritischen Zeitansage. Indem sie die Krisenahnung der Menschen in einen heilsgeschichtlichen Rahmen stellte, machte sie den in der biblischen Erzählung ausgemalten Untergang aber auch zum Durchgang zu einer Erneuerung, die nicht weniger als eine völlige Neuschöpfung sein würde: Nach dem Ende dieser Welt werde die Auferstehung der Toten, das Jüngste Gericht und der Anbruch jener neuen Welt folgen, die als tausendjähriges Friedensreich von Christus regiert werde, so die zugleich aufwühlende und besänftigende Botschaft der Johannes-Apokalypse.
Ein solches Denken in heilsgeschichtlichen Dimensionen war wohl immer schon eher die Sache einer gebildeten Schicht, die einen Sinn für philosophisch-theologische Spekulation hatte. Einfacher und handfester Denkende hingegen verstanden unter Apokalypse nicht die Enthüllung (dies die Wortbedeutung des griechischen Begriffs) der heilsgeschichtlichen Zukunft, sondern die als terminaler Untergang ausgemalten Schrecken von Kriegen, Katastrophen, Hungersnöten und Seuchen.
Apokalypse stand in einem populären Verständnis ganz einfach für die Angst vor einem grauenhaften Weltuntergang. Apokalyptische Bilder enthüllten nach dieser populären Lesart nicht die lichte Zukunft nach der Katastrophe, sondern in erster Linie die verdeckte Realität der Welt, die in Wahrheit eben der Sünde verfallen und den damit verbundenen Schrecknissen ausgeliefert war.
Mit dem Medium des Buchdrucks wechselt Dürer in den privat-intimen Raum. Die Betrachtenden treten in einen persönlichen Austausch mit den Bildtafeln.
Indem Dürer sich für seine Apokalypse-Serie des Mediums des gedruckten Buches bediente, verschaffte er seiner Kunst nicht nur neuartige Verbreitungskanäle, sondern gleichzeitig auch den Wechsel vom öffentlich-repräsentativen in den privat-intimen Raum. Gemälde waren als aufwändig herzustellende, meist grossformatige Artefakte bei Produktion und Rezeption auf vermögende Auftraggeber angewiesen, die wiederum mit solchen Bildwerken ihren Bedarf an Repräsentation deckten. Das illustrierte Buch oder der einzelne Abzug eines Holzschnitts funktionieren demgegenüber ganz anders: Sie liegen in der Hand der Betrachterin, auf dem Pult des Lesers, und sie treten in einen intimen Austausch mit diesen Individuen, die sich den Bildern ganz privat und zeitlich autonom zuwenden.
Der am Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert noch junge Buchdruck bedeutete auch für die Kunst eine Revolution. Dürer hat sie sich zunutze gemacht. Seine Werke erfuhren eine nie gekannte Verbreitung, und sie konnten unmittelbar ins Leben der Betrachtenden eingehen. Wer Dürers Buch oder eines der auch einzeln vertriebenen Blätter besass oder auch nur zu sehen bekam, war nicht wie die heutigen Bilderkonsumenten permanent von einem visuellen Overkill benebelt, sondern nahm das Bildwerk wie ein Wunder entgegen und saugte dessen Gehalt als geistig-emotionale Nahrung in sich auf.
Leichte Kost war die Apokalypse-Serie allerdings nicht. Was teilte sie denn mit? Im Beispiel der apokalyptischen Reiter etwa dies: Hinter allem schönen Schein warten Tod und Verderben. Die bildliche Erzählung hob diese menschliche Erfahrung auf den Level einer Prophezeiung für die Welt, machte sie transparent für die untergründige Wahrheit allen menschlichen Daseins. Der letzte der vier Reiter, der Tod auf seinem fahlen Pferd, schiebt mit seinem Dreizack alle – Bischof, Bürgersfrau, Bauer, Landsknecht – in den Rachen der Unterwelt (Bilddetail ganz oben). Eine Mahnung für alle Betrachtenden!
Dürer fasst den zugleich rebellischen und beruhigenden Bildgehalt in ein ästhetisches Gegenüber von Expressivität und Beherrschtheit.
Der Tod als der grosse Gleichmacher war in der ständischen Gesellschaft des Mittelalters eine zugleich rebellische und beruhigende Vision. Der Renaissance-Mensch Dürer hat diesen spannungsvollen Bildgehalt übertragen in ein ästhetisches Prinzip, das die ganze Apokalypse-Serie prägt, nämlich ein der inhaltlichen Spannung entsprechendes konträres Gegenüber von explosiver Expressivität und äusserster formaler Beherrschtheit. Die Holzschnitte sind darauf angelegt, ein intimes Betrachten dahin zu führen, dass die Blickrichtung auf das Ende sowohl der Auflehnung gegen das Schicksal wie der Versöhnung mit ihm Kraft gibt.
So grossartig Dürers Holzschnitte sind, der eigentliche Dreh- und Angelpunkt der Ausstellung «Kunst und Krieg» sind die achtzehn Radierungen, die Jacques Callot (1592–1635) 1633 unter dem Titel «Les misères et les malheurs de la guerre» veröffentlicht hat. Unter dem Eindruck des Dreissigjährigen Kriegs (1618–48) hat Callot Abstand genommen von den in künstlerischen Kriegsdarstellungen seit jeher üblichen propagandistischen, verherrlichenden oder mythisierenden Bildstrategien. Wie Dürer arbeitete auch Callot ohne Auftrag auf eigenes Risiko. Dadurch war er frei, die fürchterliche Wirklichkeit dieser kontinentalen Katastrophe zu zeigen.
Mit stupender Kunstfertigkeit stach der Lothringer Künstler seine figurenreichen Motive in Miniaturformaten auf Platten von lediglich etwa acht auf neunzehn Centimeter Grösse. Man muss die Blätter ganz aus der Nähe oder eigentlich sogar mit der Lupe betrachten; erst dann zeigen sich die unglaublichen Feinheiten in der Zeichnung der Figuren. Die Radierungen sind auf das Sorgfältigste komponiert und zeigen grosse Meisterschaft in der räumlichen Tiefenstaffelung sowie der Hell-Dunkel-Dramaturgie.
Selbst in ihrem winzigen Format sind manche der Darstellungen Callots schwer erträglich.
Callot zeigt den Krieg aus der Sicht der Opfer. Dabei lässt er nichts aus. Selbst in ihrem winzigen Format sind manche der Darstellungen schwer erträglich. Da und dort glaubt man eine sarkastische Note zu erkennen, wie beispielsweise in Details des Blattes Nr. 11: Dutzende Gehenkte baumeln an breit ausladenden mächtigen Ästen. Zwei von ihnen haben ein Holzbein. Auf die Leiter, die an den Galgenbaum gelegt ist und auf der zuoberst der Henker gerade einem weiteren Todgeweihten die Schlinge um den Hals legt, steigt ein Priester, der dem Todeskandidaten sein Kreuz entgegenstreckt und ihm wohl die letzte Beichte abnimmt. Ein weiterer Geistlicher unter dem Baum redet auf einen vor ihm Knienden ein. Rechts vom Stamm würfeln zwei Landsknechte auf einer Trommel. Eine Gruppe von Kriegern schaut ihnen interessiert zu. Niemand achtet auf die Erhängten.
Der Titel der Serie «Les misères et les malheurs de la guerre» ist Programm: Sie zeigt Grausamkeit, Verbrechen, Elend, Horror, Abstumpfung. Callots enorme Kunstfertigkeit hierbei ist geradezu irritierend. Anders als bei Dürers mythischen Bildthemen mit ihrer ausdrucksstarken Gestaltung scheint in den Radierungen des Lothringers eine coole Distanz zu herrschen. Callot rapportiert aufs genaueste, was er, der den grässlichen europäischen Religionskrieg im Dienst verschiedener Feldherren selber erlebte, mit eigenen Augen gesehen hat. Seine scheinbar unberührte Position wirft Fragen auf.
Callots Kunstfertigkeit ist geradezu irritierend. Anders als bei Dürer scheint in den Radierungen des Lothringers eine coole Distanz zu herrschen.
Versteht Callot sich als Chronist, der Fakten schildert, ohne sie zu werten? Oder will er den Krieg lediglich als etwas zeigen, das zur Natur des Menschen gehört, als Phänomen, das kommt und geht wie Sturm, Dürre und Hagel? Oder hat er eine subversive Absicht, indem er gegen die herrschende Indienstnahme der Kunst durch die jeweiligen Machthaber bewusst seine nicht-propagandistische Sicht stellt und den rohen, unheroischen Kriegsalltag entlarvt?
Callot hält sich bedeckt, was wohl bei dem Thema zu seiner Zeit ein Gebot der Klugheit war. Hätte er identifizierbare Untaten bestimmter Truppen angeprangert, so wäre er, da der Krieg ja noch im Gang war, dem Zwang zur Parteinahme nicht entkommen. Mit seiner Verbindung von Genauigkeit und Unbestimmtheit verhindert er jede propagandistische Verwertbarkeit der Serie, gibt ihr aber durch den aufs Allgemeine zielenden Charakter der Bilder zugleich eine moralische Dringlichkeit.
Callots Blätter sind so kleinformatig und seine Radierungen so figurenreich, dass man ihren explosiven Gehalt leicht übersehen kann.
Mit dem winzigen Format seiner Radierungen bewegt sich Callot zudem unter dem Radar der grossen Öffentlichkeit. Miniaturisierung gehört ja bis heute zum Arsenal der Geheimhaltung. Callots Blätter sind so kleinformatig und seine Radierungen so figurenreich, dass man ihren explosiven Gehalt leicht übersehen kann. Man muss sie dicht vor Augen haben und sich zum Lesen der Bilder die nötige Zeit nehmen, damit sie sich erschliessen. Die Wirkung ist umso stärker, da sie gewissermassen erst entdeckt werden muss. Beim Betrachten von Callots Serie wird man hereingenommen in dessen Auseinandersetzung mit dem Thema. Mit dem Künstler erfasst man die unfassbare Realität des Kriegs aus der Perspektive der Opfer.
Eine weitere berühmte Serie im historischen Panorama der Ausstellung ist «Desastres de la guerra» von Francisco de Goya. Von 1810–1814 schuf er 82 Aquatinta-Radierungen, die mit radikaler Schonungslosigkeit auf die zeitgleich stattfindenden Napoleonischen Kriege auf der iberischen Halbinsel reagieren. Das Kunstmuseum Winterthur zeigt eine Auswahl von 21 Blättern.
Goya dürfte Callots berühmte Serie gekannt haben und seine «Desastres» in bewusster Fortführung von dessen «Misères et Malheurs» geschaffen haben. Druckgraphisch geht Goya neue Wege, indem er die Aquatinta-Technik – die Ergänzung der schwarzen Stichel-Linien durch flächige, mitunter strukturierte Grauwerte – zu höchster Vollendung führt.
Goya ergreift Partei, klagt an, demaskiert alles Heroische, bei der Soldateska wie bei ihren Opfern.
Wo Callot cool bleibt und grosse Szenen aus der Distanz schildert, da geht Goya nahe heran und zeigt das Leiden der Kriegsopfer und die Ruchlosigkeit der Schlächter mit äusserster Expressivität. Goya ergreift Partei, klagt an, demaskiert alles Heroische, bei der Soldateska wie bei ihren Opfern. Dem Erhängten im Zentrum des obigen Blattes sind beim elenden Sterben die Hosen heruntergefallen. Der Soldat, der neben ihm in lässiger Pose auf einem Felsblock sitzt, betrachtet den würdelosen Tod mit hämischem Grinsen.
«Desastres de la guerra» wurde erst 35 Jahre nach Goyas Tod erstmals veröffentlicht. Weder in Frankreich, wo Goya starb, noch in Spanien, das diesen Krieg als «Spanischen Unabhängigkeitskrieg» heroisierte, war diese radikale künstlerische Abrechnung mit dem kriegerischen Geschehen und dessen moralischen Verheerungen tolerierbar. Die Verdrängung der Kriegsrealität war hier wie dort lange Zeit unnachgiebig durchgesetzte Staatsräson.
Eine Verdrängung schreckensvoller Kriegserfahrungen hat auch Gerhard Richter thematisiert mit seinem Bild «Bomber» von 1963, das zurückschaut in die Endphase des Zweiten Weltkriegs, als – neben den anderen Alliierten – die amerikanische Luftwaffe deutsche Städte in Schutt und Asche legte.
Richter war in der DDR unter dem von Staat und Partei verordneten «Sozialistischen Realismus» seinen Weg zum Künstler gegangen. Zusammen mit seiner Frau floh er 1961 über Westberlin in die BRD. Wenig später riegelte sich die DDR mit Mauerbau und Todesstreifen nach Westen ab. «Bomber» ist also nicht lange nach Richters Ankunft im Westen entstanden. Es war für ihn eine Zeit des Suchens nach einer persönlichen Existenz und der radikalen künstlerischen Neuorientierung. Dem in der westlichen Avantgarde fast zur Normalität gewordenen Weg in die Abstraktion wollte er damals nicht folgen, aber gleichzeitig war die ungebrochene Gegenständlichkeit durch ihren propagandistischen Missbrauch in der DDR für ihn obsolet geworden.
Da entdeckte Richter als Ausweg aus dem Dilemma das Malen nach Fotografien. Diese stellten sich als Medium mit ganz eigener Gesetzmässigkeit zwischen den Maler und das Sujet. Richter zeigte das Abmalen demonstrativ, indem er den weissen Rand um die Fotos gleich mit malte.
Das Malen nach Fotografien schiebt für Richter eine Ebene zwischen ihn und die Gegenstände – ein Ausweg aus seinem Dilemma.
So genutzt, vermittelt die Fotografie einen Bezug zum Gegenstand, bricht diesen Bezug aber auch. Diese Doppelfunktion des Mediums kam Richter gerade recht: Sie erlaubte ihm zwar, wie bisher im Sozialistischen Realismus, figurativ zu arbeiten, aber sie schob eine Ebene zwischen ihn und die Gegenstände. Auf diese Zwischenebene der Vermittlung und der Wahrnehmung richtete sich jetzt der Fokus seiner künstlerischen Arbeit. Damit war Richter auf eigenständige Weise in der Moderne der Malerei angekommen.
Das Sujet der amerikanischen Weltkriegsflugzeuge, die über Nazi-Deutschland ihre Bombenlast abwerfen, war 1963 ein schmerzhafter Tabubruch. Zwei Jahre nach dem Jerusalemer Eichmann-Prozess und dem Berliner Mauerbau war sich die BRD ihrer Überwindung des NS-Traumas und ihrer Westbindung sicher und wollte nicht daran erinnert werden, wie die Alliierten – und insbesondere die zum Leitbild gewordenen USA – in der Endphase des Kriegs die Deutschen zu Boden gebombt hatten.
Wie hartnäckig sich die Verdrängung der Zerstörung deutscher Städte in Deutschland gehalten hatte, zeigt ein Literaturstreit, der 1999 um das Buch «Luftkrieg und Literatur» des deutschen Romanciers und Germanisten W. G. Sebald entbrannte. Die literarhistorische Studie basierte auf einer Vortragsreihe, die Sebald 1997 in Zürich gehalten hatte. Sie vertritt die in der Folge stark diskutierte These, die deutsche Literatur habe das Thema des Luftkriegs geflissentlich umgangen, um sich nicht dem Verdacht des Revisionismus auszusetzen.
Im Nachhinein lässt sich dazu feststellen, dass die Befürchtung, als Literat mit einer Thematisierung des zum Teil überaus grausamen Luftkriegs in die revisionistische Ecke gestellt zu werden, nicht ganz von der Hand zu weisen war. Das zeigen etwa die Neonazi-Aufmärsche an Gedenktagen der Bombardierung Dresdens deutlich. Die verschiedentlich gegenüber Sebald geäusserten Verdächtigungen, er könnte mit seiner Studie solche Tendenzen gefördert haben wollen (er starb 2001), erweisen sich jedoch angesichts seines Werks als völlig unsinnig.
Bilder des Bombenkriegs zeigen immer nur begrenzte Aspekte und «framen» die Debatten. – Damit ist Richter diskursiv auf der Höhe der Zeit.
Von solchen Debatten wusste Gerhard Richter 1963 noch nichts. Doch mit seinem «Bomber»-Bild hat er treffsicher auf einen blinden Fleck der deutschen Öffentlichkeit gezielt. Indem er das Thema mit einem Fotobild aufgriff – es ist das zweite einer im Jahr zuvor angefangenen längeren Reihe –, sprach er nicht in erster Linie das Thema direkt an, sondern die Frage seiner Präsenz und Verhandlung: Die Bilder des Bombenkriegs zeigen nicht diesen selbst, sondern immer nur begrenzte Aspekte, und letztere wiederum «framen» die durch sie ermöglichten Debatten.
Mit dieser Behandlung des Themas war Richter 1963 nicht nur künstlerisch modern, sondern auch diskursiv auf der Höhe der Zeit. Der französische Strukturalismus schickte sich soeben an, die Aufmerksamkeit weg von den Dingen auf die sie markierenden Zeichen und die (begrifflich sehr weit gefassten) Medien zu verlagern, welche diese Zeichen zu Bildern der Wirklichkeit aggregieren. Es war auch die Anfangszeit einer postmodernen Medientheorie, wie sie etwa der Kanadier Marshall McLuhan entwickelte. «Medium» ist zu einem Container-Begriff geworden, der nicht zuletzt für Theorien der Kunst unentbehrlich geworden ist, um die komplexen Bildstrategien etwa eines Gerhard Richter reflexiv fassen zu können.
Auch das Museum ist ein Medium, es weist deren klassische Merkmale auf: Hardware (Gebäude, Einrichtungen, finanzielle Ausstattung), Software (Artefakte, Sammlungen, Ausstellungen), Verbreitungskanäle und -mittel (Marketing, Medienarbeit, Websites, Social Media, Kataloge, Merchandising), Sender (Museumsleitung, Kuratoren, Berichterstatter), Empfänger (Museumsbesucher, Leserinnen von Ausstellungsberichten). Als Gesamtheit generiert dieses spezielle Medium Relevanz von und Zugang zu Kunst.
Das Kunstmuseum Winterthur hat mit «Kunst und Krieg» seine medialen Ressourcen in Richtung Online-Vermittlung weiterentwickelt. Wie andere Häuser es schon mit Erfolg praktizieren, führen in der Ausstellung bei ausgewählten Exponaten QR-Codes zu Hintergrundinformationen auf dem Smartphone. Die gleichen Quellen können bequem zuhause mit Computer oder Tablet abgerufen werden. Das Material ist reichhaltig, instruktiv und sehr schön präsentiert – eine ausgezeichnete Möglichkeit, den Museumsbesuch vorzubereiten. Dieser bleibt allerdings unverzichtbar. Nichts ersetzt die Originale!
Kunst Museum Winterthur | Reinhart am Stadtgarten
Kunst und Krieg. Von Goya bis Richter
bis 12.2.2023
kuratiert von David Schmidhauser