Moderne Geschichtsschreibung lässt die «grossen Erzählungen» hinter sich. Zudem hat die herkömmliche Epocheneinteilung jede Plausibilität verloren. Nun führen neue wissenschaftliche Methoden zu überraschenden Bildern der Vergangenheit. Kurz: Geschichte ist im Wandel.
Geschichtsschreibung und historische Wissenschaften sind fortwährend damit beschäftigt, aus Vergangenem «Geschichte» zu machen. Dieser Verarbeitungsprozess bleibt prinzipiell unabgeschlossen, und so sind denn die Bilder und Begriffe von Geschichte nie in Stein gemeisselt. Diese Binsenwahrheit wird immer dann aufregend, wenn es darum geht, vernachlässigte Aspekte historisch zu untersuchen. So geschehen beim Fokussieren auf die Rolle von Frauen, bei der Erforschung des sozialen Alltags oder beim Ausleuchten Schweizerischer Verflechtungen mit dem Kolonialismus.
Derartige Erweiterungen des Blickfelds sind in der Fachwelt seit Längerem im Gang. Die spannendsten der neuen Ansätze aber betreffen nicht bestimmte Einzelthemen, sondern den Denkrahmen der historischen Wissenschaft an sich und damit das allgemeine Bild der Geschichte. Der Frankfurter Mediävist Bernhard Jussen führt genau diese Art von Debatte, die sein eigenes Fach revolutioniert. Unter dem belletristisch anmutenden Titel «Das Geschenk des Orest» hat er ein Buch vorgelegt, das die herkömmliche Epochenstruktur – Antike, Mittelalter, Neuzeit – aus den Angeln hebt.
Zwar ist in Fachkreisen immer klar gewesen, dass die Einteilung der Geschichte in Epochen zwangsläufig vieles vergröbert hat. Sie konnte deshalb nie völlig plausibel sein. Doch Jussen geht nun aufs Ganze: Er als Mediävist will nicht mehr von «Mittelalter» reden. Die abwertende Charakterisierung der tausendjährigen Periode zwischen 500 und 1500 als blosses Intermezzo entspricht nach seiner Erkenntnis in keiner Weise den aktuellen historischen Befunden. Zu Unrecht gilt das sogenannte Mittelalter als finstere Zeit zwischen dem Untergang Roms und dem Wiedererwachen der Vernunft mit Reformation und Renaissance.
Rom: nicht untergegangen, sondern transformiert
Bernhard Jussens Buch ist eine Indiziensammlung. Der Autor geht bei seiner Darlegung von über vierzig Bildern aus, die er nicht kunsthistorisch untersucht, sondern auf ihren einstigen Gebrauch, ihre mediale Funktion hin befragt. Minutiös arbeitet er etwa aus der Betrachtung des Grabmals einer reichen Römerin (Bild oben) und aus dem Geschenkrelief eines römischen Senators (dies das titelgebende «Geschenk des Orest») die revolutionäre Umwälzung heraus, mit der das Christentum das späte Westrom kulturell und sozial transformiert hat. Jussen macht plausibel, dass hier kein «Untergang» stattfindet, wie es die Geschichtsschreibung herkömmlicherweise dargestellt hat, sondern eine tiefgreifende Veränderung der römischen Welt unter dem wachsenden Einfluss der lateinischen Kirche.
Der kirchliche Siegeszug im lateinischen Europa ist dabei nicht isoliert zu sehen. Die lateinische (Rom) und die griechische Kirche (Byzanz) sowie der Islam stehen für das Aufkommen monotheistischer Kulte im ganzen Mittelmeerraum, die durch ihren gemeinsamen Bezug zu Abraham überdies mit dem Judentum verbunden sind. Im lateinischen Europa – dies ist Jussens Beobachtungsraum – hat die Kirche eine Transformation in Gang gesetzt, deren Pfade bis in die Moderne führen. Jussen ist deshalb der Meinung, das im 20. Jahrhundert in der Wissenschaft vorherrschende Säkularisationsnarrativ sei angesichts dieser kirchlich geprägten Langzeitperspektive nicht zu halten.
Pfade und offene Entwicklungen statt Kausalitäten
Historische Wissenschaft, so Jussen, kennt keine Kausalitäten, keine logischen Entwicklungen, sondern nur «Ermöglichungsbedingungen», die entlang bestimmter «Pfade» gewisse geschichtliche Phänomene als zusammenhängend erscheinen lassen. Jeder historische Zustand ist grundsätzlich entwicklungsoffen. In solchen Pfaden historischer Entwicklungen – etwa beim Langzeit-Phänomen der gesellschaftlichen Modernisierung – bestimmte Zwangläufigkeiten sehen oder diese gar spekulativ in die Zukunft extrapolieren zu wollen, wäre daher nicht sachgemäss.
Immer wieder sind historische Momente zu herausragenden «Geschichtszeichen» erklärt worden. Im 19. Jahrhundert galten etwa der Investiturstreit und die Reformation als epochemachende, für das Selbstverständnis der Betrachter entscheidende historische Ereignisse. Gottfried Wilhelm Friedrich Hegel war ein Champion solcher philosophischer Geschichtsdeutungen; doch solche Markierungen sind historisch nicht erkenntnisfördernd; vielmehr nutzen sie die Geschichte für anderweitige «grosse Erzählungen».
Unter dem Einfluss postmoderner Theoriebildungen hat die Geschichtswissenschaft nun aber gelernt, sich immer konsequenter von den «grossen Erzählungen», die der Geschichte mit vorgeprägten Sinnerwartungen begegnen, zu lösen. Mit dem Einbezug ethnologischer und kulturanthropologischer Forschungen sind seit den 1980er-Jahren Werkzeuge hinzugekommen, die der historischen Wissenschaft Einblicke in soziokulturelle Substrukturen der Ereignisgeschichte ermöglichen.
Innovationen dank verändertem Verwandtensystem
Eine dieser neuen Perspektiven ist der Blick auf Verwandtschaftssysteme. Jussen, ein Spezialist dieser Disziplin, kann zeigen, dass in Lateineuropa unter kirchlichem Einfluss um 500 ein Umsturz des römischen Systems von Ehe, Familie und Verwandtschaft einsetzt. Dessen männliche Ahnenstruktur mit der Schlüsselfigur des Pater Familias verschwindet. An die Stelle dieser zeitlich «vertikalen» Ordnung tritt ein «horizontales» trilaterales System von Blutsverwandten, Heiratsverwandten und geistlichen Verwandten (z.B. Paten).
Das Grabmal der Römerin Turtura ist das erste Zeugnis für das kirchliche Ideal der lebenslangen Unauflöslichkeit der Ehe. Turtura wird von ihrem Sohn dafür gepriesen, dass sie nach ihrer Verwitwung dem verstorbenen Gatten lebenslang treu geblieben war und enthaltsam gelebt hatte. Diese zwar nicht allgemein befolgte kirchliche Norm ist vor allem wegen der darin ausgedrückten Hochschätzung der Enthaltsamkeit eben doch gesellschaftlich höchst relevant. Letzteres ist auch der Grund dafür, dass die Kirche trotz erheblicher Widerstände nach und nach die Ehelosigkeit für Priester und Ordensleute hat durchsetzen können.
Durch die kirchliche Aufwertung der Witwen- und Witwerschaft wird diese erst zu einem relevanten sozialen Status (die römische Welt kannte hierfür nicht einmal ein Wort). Die Option eines ehelosen Lebens wird – ganz anders als zuvor in der römischen Welt – zum Massenphänomen. Vertikale Verwandtschaftsstrukturen treten gegenüber horizontalen Bindungen in den Hintergrund.
Man könnte dies als sozialhistorisches Randphänomen betrachten. Doch Jussen hält dagegen, indem er in eben dieser «vertikalen Strukturschwäche» der kirchlich transformierten lateinischen Welt einen Auslöser sieht, der für starke Impulse zur Bildung neuer politischer und sozialer Formationen sorgt. Sie sind es, die in Lateineuropa die Genese und den Erhalt von Macht gewährleisten.
Diese Disposition zu gesellschaftlichen Innovationen trägt wesentlich dazu bei, dass so geschichtsmächtige Institutionen entstehen wie Gilden, Stadtrepubliken und Universitäten. Diese teilautonomen Formationen entwickeln enorme Potentiale. Sie haben wesentlich geholfen, Pfade zur Modernisierung zu eröffnen, die bis in die Gegenwart reichen.
Lateinische Kirche im Zentrum des Machtgefüges
Für die Praxis der Machtstabilisierung, die weitgehend ohne vertikale Verwandtschaftsstrukturen funktioniert, spielen die Kirche und insbesondere die Klöster eine entscheidende Rolle. Letztere bieten vielfältige Möglichkeiten für ein gesichertes Leben ohne Ehe und sind Zentralen der Toten- und Jenseitssorge: Hier kann man für das eigene Seelenheil oder das von Verstorbenen Messen lesen lassen. Zur Abtragung von Sündenlasten existieren sogar feste Tarife.
Mit dieser Monetarisierung von Busse und Messfeier, aber auch durch Schenkungen ganzer Ländereien werden die Klöster reich. Dies und die politische Attraktivität der Bischofsämter – sie werden nicht zuletzt von funktionslos gewordenen Würdenträgern des römischen Staats angestrebt – verschaffen der lateinischen Kirche einen einzigartigen Einfluss.
In der Spätphase des Beobachtungszeitraums, um 1200, beginnt mit der Praxis der Indulgentia (Nachsicht, Ablass) das Ende der Sündenstrafen. Reue genügt jetzt zur Vergebung. Anders als im herrschenden reformatorischen Narrativ ist der Ablass also kein Exzess der geistlichen Monetarisierung, sondern mehr und mehr deren Überwindung. Die Sünden werden nicht mehr gezählt und einzeln mit (u. a. finanziellen) Bussleistungen abgegolten, sondern in einem spirituellen Vorgang als Geschenk der Vergebung in ihrer Gesamtheit erlassen. Jussen schildert diese vorreformatorische Wandlung als Hinweis darauf, dass auch die Reformation mit ihrem sola gratia (Vergebung allein aus Gnade) keinen Epochenbruch darstellt, sondern eine Transformation, die durch etliche Vorläuferentwicklungen schon vorbereitet ist.
Aus Sicht einer kulturanthropologisch unterfütterten Geschichtswissenschaft hat die lateinische Kirche Europa entscheidend geprägt. Der ethnologische Blick zeigt Pfadabhängigkeiten, die grössere Zeiträume durchmessen als die herkömmlichen «Epochen». Von der Transformation der römischen Welt im 4. bis 6. Jahrhundert her ziehen sich langfristige Prozesse bis in die europäische Moderne. In dem, was man «Mittelalter» nannte, sahen Historiker und Philosophen lange ein «Jahrtausend der Alterität», eine Zeit der Abweichung vom dominanten Prozess der fortschreitenden Vernunftorientierung. Nach dieser Vorstellung galt die «Antike» (auch ein Begriff, den Jussen aussortiert hat) als «Wiege des Abendlandes», und die Neuzeit als ein Wiedererwachen, das nach dem tausendjährigen Intermezzo wieder an diese vergessene Hochkultur anschloss. – Ein solches Geschichtsbild hat in einer durch die Postmoderne hindurchgegangenen historischen Wissenschaft schlicht keinen Platz mehr.
Zivilgesellschaft als neuer Schlüsselbegriff
Im klassischen Epochendenken ist das Mittelalter die Zeit der Verwandtschaftsgeschlechter und ihrer «gewachsenen Ordnungen», während die Neuzeit mit der Genese des Staats als übergeordneter Struktur diese autochthonen Ordnungen zurückgedrängt habe. Jussen macht sich anheischig, mit der kulturanthropologisch-ethnologischen Schule die Gegenthese zu plausibilisieren: Verwandtschaft ist ein Treiber der gesellschaftlichen Innovation, ein Ferment der Transformation entlang dem Pfad der Modernisierung. Sie steht mit der staatlichen Ordnung der Neuzeit nicht in Konkurrenz, sondern hat diese mit befördert. Geschehen ist dies mittelbar durch das Management von Macht mittels Bindungen an die lateinische Kirche und durch die Begünstigung der Herausbildung innovativer teilautonomer Institutionen – die erwähnten Gilden, Stadtrepubliken und Universitäten.
Bei der Abwendung vom Epochendenken geht es auch um die Dekonstruktion nationalistischer Altlasten, die der Geschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert anhängen. Der einstige Leitbegriff der Nation hat neuen Schlüsselwörtern Platz gemacht: Demokratie, Moderne, multiple Modernities, Zivilgesellschaft. Vor allem die Letztere hat in der Geschichtswissenschaft (und nicht nur dort) massiv an Bedeutung gewonnen.
Jede Geschichtsschreibung muss irgendwo anfangen. Früher setzte die Historiographie Europas meist bei einer (idealisierten) Antike ein. Für Bernhard Jussen ist das nicht mehr möglich. Er sieht den Ausgangspunkt für ein Verständnis des Westens oder des lateinischen Europa vielmehr bei der Durchsetzung monotheistischer Kultgemeinschaften im Mittelmeerraum. Im Schlusskapitel schreibt er: «Was für den völkischen Blick die Germanen waren und für den säkularisierungshistorischen Blick die Reformation, ist für den Blick aus den pluralistischen multikulturellen Zivilgesellschaften die Genese der Monotheismen.»
Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest. Eine Geschichte des nachrömischen Europa 526–1535, C. H. Beck 2023, 480 S.