Vor den Lifts in der Eingangshalle des massigen Gebäudes, einer von tropischem Regen und Abgasen malträtierten architektonischen Scheusslichkeit, bilden sich bereits eine Stunde vor den ersten Verhandlungsterminen lange Warteschlangen. In der 18. Sala de Audiências, einem mittelgrossen Büro mit einem Schreibtisch für die Richterin, einem kleinen Pult für die Gerichtsschreiberin und davor einem kleinen Tisch, an dem sich Kläger und Beklagter sowie deren Anwälte gegenübersitzen, warten kurz vor neun Uhr die ersten Streitparteien geduldig auf die Richterin Judith Galindo Sampaio Curdiatuz.
16 Fälle, so ist auf dem gedruckten Zettel an der Bürotür nachzulesen, sollte sie bis am Mittag erledigen. Zieht man die Pausen zwischen den einzelnen Sitzungen ab, bleiben theoretisch pro Fall etwa zehn Minuten.
Eile mit Weile
Doch kaum geht es richtig los, ist die Zeit dem Plan bereits davon geeilt. Zwar drückt Richterin Galindo gehörig aufs Tempo, stellt knappe, präzise Fragen und unterbricht unverzüglich, wenn ein Anwalt oder eine Zeugin allzu weit ausholt. Aber man spürt, dass sich die etwa 55-jährige Juristin für die Wahrheitssuche die nötige Zeit nehmen will. Und das sind fast immer mehr als zehn Minuten.
Als eine Hausangestellte sich auf eine frühere Arbeitgeberin beruft, die nicht als Zeugin geladen war, greift Galindo kurzerhand zum Handy und lässt sich die Aussage bestätigen. Der Vergleich, den sie anstrebt, kommt schliesslich nicht zustande. Und endgültige Klarheit, ob die Hausangestellte zu Recht oder nicht auf die geforderte Abgangsentschädigung pocht, hat auch die Zeugenbefragung nicht erbracht. Deshalb setzt die Richterin einen neuen Termin mit weiteren Zeugen an.
Dasselbe passiert in einem Streit um die Arbeitszeiten eines Lastwagenchauffeurs. Die Bemerkung des Rechtsvertreters der beklagten Firma, er nehme diesen Entscheid unter Protest zur Kenntnis, entlockt ihr zum ersten Mal an diesem Morgen ein Lächeln. Ins Protokoll, das sie der Gerichtsschreiberin routiniert in den Computer diktiert, lässt sie den Einwand aber nicht aufnehmen.
Zwei oder drei Tage - das ist die Frage
Die Sitzungen vor dem Arbeitsgericht sind öffentlich. Es können allerdings aus Platzmangel höchstens sieben oder acht Interessierte einer Verhandlung beiwohnen. In der Regel setzen sich vor allem Anwälte, deren Fall später dran ist, einen Augenblick dazu, um die Prozessführung zu beobachten und daraus allfällige Lehren für das eigene Vorgehen zu ziehen - beispielsweise ihrem Klienten zu empfehlen, in letzter Minute zu einer gütlichen Einigung Hand zu bieten. Der Ehemann einer anderen Hausangestellten hingegen bleibt draussen vor der Tür und verfolgt das Geschehen durch die Glasscheibe. "Meine Präsenz in der Sala würde meine Frau nur nervös machen", sagt er entschuldigend.
Die Frau hat zwei Kolleginnen als Zeuginnen benannt. Sie sollen bestätigen, dass sie drei Tage in der Woche bei einer Arztfamilie gearbeitet hat und nicht bloss zwei, wie ihre ehemaligen Arbeitgeber behaupten. Mit drei Tagen wöchentlich hat sie Anspruch auf eine Abgangsentschädigung, mit zwei geht sie leer aus. Die eine Zeugin, die im gleichen Gebäude bei einer anderem Familie beschäftigt war, wirkt zwar in der ungewohnten Umgebung etwas eingeschüchtert, beantwortet aber alle Fragen der Richterin klar
Die andere jedoch ist dermassen verunsichert, dass sie sich in ständig neue Widersprüche verwickelt und den Tränen nahe ist. Seit 36 Jahren sei sie schon Hausangestellte, sagt sie, da könne es halt vorkommen, dass sie sich nicht an alle Einzelheiten genau erinnere. Richterin Galindo, die an diesem Vormittag den einen oder anderen Zeugen ziemlich barsch angefahren hat, fragt geduldig weiter, kann aber mit den Antworten nicht viel anfangen. So bleibt ihr schliesslich nichts anderes übrig, als die Frau zu entlassen und auch diesen Fall zu vertagen.
Ausgesagt und abkassiert
"Das hat uns noch gefehlt", schimpft draussen der Gatte der Klägerin, der dem weiteren Verlauf des Prozesses mit einer gewissen Skepsis entgegensieht. Nach seiner Version sollen die Arbeitgeber den Portier in ihrem Gebäude bestochen haben, damit er deren Aussage, seine Frau sei jeweils nur zweimal wöchentlich zu ihnen gekommen, stütze. "Wir haben uns fest auf die Befragung der Kollegin verlassen, da sie ja mit meiner Frau zusammengearbeitet hat und deshalb ganz genau weiss, wie viele Tage in der Woche sie dort war. Und jetzt haben wir diese Pleite erlebt."
Auch Zeugen, die genau das aussagen, was man von ihnen erwartet, sind nicht immer ein Glücksfall. Vor einiger Zeit sei es ihr nach längeren zähen Verhandlungen gelungen, in einem Vergleich für eine Klientin 6000 Reais (umgerechnet rund 3600 Schweizer Franken) zu erkämpfen, erzählt eine junge Anwältin, die im Korridor auf ihren Einsatz wartet. "Die Frau war Mitglied einer Pfingstkirche und hatte einen Vertreter ihrer religiösen Gemeinschaft als Zeugen mitgebracht. Und dem lag offensichtlich nicht bloss das Wohl meiner Klientin am Herzen: Kaum war die Übereinkunft unterschrieben, knöpfte er ihr 1500 Reais als Obolus für seine Kirche ab."
Kurz vor 15 Uhr, viel später als im Zeitplan vorgesehen, schliesst Judith Galindo Sampaio Curdiatuz die letzte Akte des Tages. In diesem Fall war die Sache in wenigen Minuten erledigt, da die Klägerin, eine ehemalige Mitarbeiterin einer Nichtregierungsorganisation, im letzten Augenblick das Angebot der Gegenpartei akzeptierte. Die Richterin musste bloss noch ihre Unterschrift unter die Vereinbarung setzen. Und nicht zum x-ten Mal an diesem Tag eine Zeugin oder eine Zeugin mit strenger Stimme ermahnen, nur auf ihre Fragen zu antworten und selbstverständlich die Wahrheit, nichts als die Wahrheit zu sagen.