Er ist wieder da, in seinem „geliebten Venezuela“ und auf dem „Weg der Besserung“. Vor beinahe einem Monat hatten kubanische Ärzte Hugo Chávez notfallmässig einen Tumor entfernt. Die Öffentlichkeit erfuhr allerdings erst vor ein paar Tagen, dass der 56-jährige Präsident in Havanna nicht nur wegen eines Beckenabszesses operiert wurde, sondern an Krebs erkrankt war. Chávez informierte seine Landsleute schliesslich persönlich in einer Radio- und TV-Botschaft, nachdem zuvor wild über seinen Gesundheitszustand spekuliert worden war.
Wie es ihm wirklich geht, wissen allerdings weiterhin nur er selbst und einige Eingeweihte, zu denen zweifellos auch sein Gastgeber und grosses Vorbild, Kubas Ex-Präsident Fidel Castro, zählt. Chávez’ Rückkehr nach Venezuela lässt aber den Schluss zu, dass der Genesungsprozess genügend fortgeschritten ist, um die Behandlung zuhause weiterführen zu können.
Der ehemalige Fallschirmspringer-Oberst dürfte auch deshalb alles daran gesetzt haben, um Anfang der Woche wieder daheim zu sein, weil Venezuela am 5. Juli den 200. Jahrestag seiner Unabhängigkeit von Spanien begeht. Wegen seiner Krankheit kann der glühende Verehrer des Freiheitskämpfers Simón Bolívar, auf den er sich bei seinen sozialistischen Reformen oft und gerne beruft, beim offiziellen Festakt nicht persönlich anwesend sein. Aber Chávez lag viel daran, den Höhepunkt des so genannten Bicentenario zumindest auf heimischen Boden mitzuerleben.
Alle Macht dem Präsidenten
Wenn es um mehr als repräsentative Verpflichtungen geht, will El Comandante offenbar ungeachtet seiner Rekonvaleszenz nicht kürzer treten. Die Opposition hatte verlangt, dass er während seines Kuba-Aufenthalts die Regierungsmacht dem Vizepräsidenten Elias Jaua übertrage. Chávez war jedoch trotz schwerer Krankheit und Landesabwesenheit nicht bereit, die Amtsgeschäfte vorübergehend seinem Stellvertreter anzuvertrauen. Er liess sich deshalb von der Regierungsmehrheit im Parlament eine Sondervollmacht ausstellen, die ihn befugte, vom Krankenbett in Havanna aus zu regieren.
Der Linksnationalist bewies damit einmal mehr, dass er nur sich selbst für fähig hält, die Geschicke des Landes zu lenken und die vom ihm propagierte Bolivarische Revolution voranzutreiben. Chávez verfügt über Charisma und eine beachtliche Führungskapazität. Die absolute Fixierung auf seine Person ist mittlerweile aber selbst vielen seiner Anhänger im In- und Ausland ein Dorn im Auge und mit ein Grund dafür, dass zahlreiche Probleme des Landes ungelöst bleiben. Viele der von Chávez angestrebten Reformziele sind nach wie vor vage formuliert und geben damit Freund und Feind grossen Interpretationsspielraum. Umso wichtiger wäre es, sie eingehend zu diskutieren, unabhängig von der Person des Präsidenten. Doch selbst Debatten innerhalb der Bolivarischen Bewegung werden meist im Keim erstickt, weil alle Kritik als Kritik an Chávez aufgefasst wird.
Lebenslänglich?
Der frühere Oberstleutnant ist mittlerweile seit zwölf Jahren an der Macht. Er überstand 2002 einen Putsch und wurde zweimal wiedergewählt. Wird er trotz seiner angeschlagenen Gesundheit im nächsten Jahr abermals antreten? Auf jeden Fall, sagte Vizepräsident Elías Jaua dieser Tage in einem Interview mit der venezolanischen Tageszeitung El Universal. Chávez selbst hat nie verhehlt, dass er sich für unentbehrlich hält und am liebsten bis ans Ende seiner Tage die Geschicke Venezuelas lenken würde. Fragt sich nur, ob das auch die Mehrheit seiner Landsleute will. Die Bevölkerung ist gespalten in ihrer Meinung über den Präsidenten. Seine Anhänger loben seine Sensibilität gegenüber sozialen Problemen, die Opposition kritisiert seinen autoritären Führungsstil, seine Angriffe auf die Medienfreiheit und seine Intoleranz gegenüber Andersdenkenden.
Chávez hat einiges erreicht, aber auch vieles versäumt. In den vergangenen zehn Jahren ist der Anteil der Armen von 45 auf 28 Prozent gesunken. Bei der Bildung, im Gesundheitsbereich und im Rentenwesen hat die Regierung Reformen in die Wege geleitet, die heute handfeste Ergebnisse zeigen. Diese Fortschritte hin zu einer gerechteren und partizipativeren Gesellschaft können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter Chávez viele Probleme ungelöst blieben oder sogar noch verschärft wurden.
Schwache Opposition
In Venezuela wuchs die Wirtschaft, die nach wie vor extrem von den Erdölexporten abhängig ist, in den letzten Jahren weit weniger stark als in anderen lateinamerikanischen Staaten. Dafür leidet das Land unter einer der weltweit höchsten Inflationsraten; 2010 kletterte sie laut Angaben der Uno-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik auf 27 Prozent. Stark gestiegen ist derselben Quelle zufolge auch die Auslandverschuldung von 35 Milliarden US-Dollar im Jahr 2001 auf 58 Milliarden Dollar im vergangenen Jahr.
Sorgen bereiten den Venezolanern ferner die zunehmende Kriminalität, die wachsende Wohnungsnot, häufige Stromausfälle und Engpässe bei der Lebensmittelversorgung. Nach wie vor weit verbreitet sind Klientelwesen und Korruption: Persönliche Beziehungen und Loyalitäten wiegen in der Regel schwerer als Prinzipien oder berufliche Qualifikationen.
Allen diesen Unzulänglichkeiten zum Trotz konnte Chávez bisher bei seinen Landsleuten auf einen starken Rückhalt zählen. Nicht zuletzt deshalb, weil ein Grossteil der Bevölkerung in der alles andere als homogenen Opposition keine überzeugende Alternative sieht. Wahrscheinlich wissen viele Venezolaner mit den Vorstellungen ihres Präsidenten von einem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ wenig anzufangen. Dennoch: Um ihn an der Urne besiegen zu können, werden seine politischen Gegner den Visionen von Chávez mehr entgegensetzen müssen als bloss den übermächtigen Wunsch, ihn endlich in die Wüste zu schicken.