Weltweite Appelle stiessen genauso auf taube Ohren wie die Proteste einheimischer Umweltschutzorganisationen. Selbst die Regierung konnte sich gegen die mächtigen Vieh- und Sojabarone nicht durchsetzen. Mit deutlicher Mehrheit hat sich das brasilianische Unterhaus den Forderungen der Agrarlobby gebeugt und den bisher fortschrittlichen Waldschutz zugunsten rein wirtschaftlicher Interessen aufgeweicht. Der revidierte Código Florestal lockert die Umweltauflagen für Grundbesitzer drastisch. Sie dürfen auf ihren Ländereien im Amazonas den Waldanteil von 80 auf 50 Prozent reduzieren. Das neue Gesetz begrenzt ferner die Verpflichtung zur Aufforstung entlang von Flüssen und öffnet Wege für eine Amnestie illegaler Abholzungen, die bis im Juli 2008 erfolgten.
Verheerende Folgen
"Das ist ein Tiefschlag gegen das grösste Tropenwaldgebiet der Erde", klagt Roberto Maldonaldo, Lateinamerika Referent beim WWF Deutschland, im Pressedienst der Umweltschutzorganisation. Mit der vorgesehenen Amnestie würden die Umweltverbrechen der Vergangenheit nachträglich legitimiert: "Sie kommt einer Quasi- Aufforderung zu weiterem Kahlschlag gleich." Betroffen seien bis zu 76,5 Millionen Hektar - eine Fläche so gross wie Deutschland, Österreich und Italien zusammen. 28 Milliarden Tonnen Kohlendioxid würden damit zusätzlich freigesetzt.
Die Abholzung verschlechtert aber nicht bloss die CO2-Bilanz. Sie zerstört auch den Lebensraum der Ureinwohner und vieler Tiere, fördert die Bodenerosion und Erdrutsche, führt zu steigendem Düngemitteleinsatz und gefährdet die Trinkwasserversorgung.
Ein solcher Rückschritt, so argumentieren Umweltschützer, dürfe unter keinen Umständen hingenommen werden. Es gehe nicht an, dass die in den vergangenen Jahren erkämpften Verbesserungen den materiellen Interessen der Grundbesitzer geopfert würden - und dies in einem Land, das sich brüstet, dank dem Amazonas-Regenwald die Lunge der Welt zu sein.
Verlangsamter Raubbau
Im Amazonas-Becken liegt das grösste noch verbliebene Regenwaldgebiet der Erde. Mit mehr als 40 000 Pflanzen- und über 200 Säugetierarten weist es weltweit die reichste Biodiversität auf. Wie lange wird das so bleiben? Der brasilianische Regenwald schrumpft seit längerem besorgniserregend. In den vergangenen fünf Jahrzehnten ist etwa ein Fünftel der Gesamtfläche verschwunden. Viehzüchter, Sojabauern und Zuckerrohrproduzenten beschaffen sich immer wieder durch illegalen Kahlschlag oder Brandrodungen auf billige Weise neues Weideland oder zusätzliche Anbaugebiete. Aber auch landlose Bauern sichern sich oft so eine Existenzgrundlage.
Durch schärfere Schutzbestimmungen konnte der Raubbau am Regenwald in den vergangenen Jahren zumindest verlangsamt werden, gestoppt ist er noch längst nicht. Vom August 2010 bis im Juli 2011 sind offiziellen Angaben zufolge 6238 km2 zerstört worden, elf Prozent weniger als im vergleichbaren Zeitraum 2009/10.
Die üppige Pflanzenwelt im Regenwald hat auch einen grossen Einfluss auf die CO2-Bilanz. Die Bäume des Amazonas speichern Riesenmengen Kohlendioxid. Die Abholzung entlässt jedes Jahr bis zu 400 Millionen Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre, das sind 70 bis 80 Prozent der von Brasilien produzierten Treibhausgase. Brasilianische und US-amerikanische Forscher warnen in einer kürzlich veröffentlichten Studie, dass der Regenwald sich durch Rodung, Feuer und Verschmutzung von einem Speicher für Kohlendioxid in eine Quelle des Treibhausgases verwandeln könnte (Nature Bd. 481, S. 321, 2012).
Die Präsidentin soll es richten
Damit das neue Waldgesetz in Kraft treten kann, muss es von Präsidentin Dilma Rousseff unterzeichnet werden. Die Staatschefin hat mehrmals versichert, sie werde keine Bestimmungen gutheissen, die eine neue Welle von Kahlschlägen im Regenwald auslösen oder illegale Rodungen im Nachhinein legitimieren könnten. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass sie zumindest gegen Teile des revidierten Código Florestal das Veto einlegen wird. Im Einklang mit der Mehrheit der Bevölkerung: In einer Meinungsumfrage im Juni 2011 sprachen sich 85 Prozent gegen die Verwässerung des Waldschutzes aus. Rousseff, die in der Umweltpolitik bisher keine besonderen Akzente gesetzt hat, wird wohl auch im Hinblick auf den bevorstehenden Nachhaltigkeitsgipfel im eigenen Land die Ratifizierung des umstrittenen Gesetzes verhindern. "Es wäre absurd", schreibt der WWF Deutschland in einer Pressemitteilung, "die Welt im Juni zur Nachhaltigkeitskonferenz Rio +20 einzuladen und gleichzeitig auf Druck der Agrarlobby die Axt an einen der grössten Naturschätze der Erde anzulegen."
Nutzen, aber nicht zerstören
Die Frage, wie stark der Regenwald wirtschaftlich genutzt werden soll und darf, gibt immer wieder Anlass zu heftigen Diskussionen. Selbst radikale Umweltschützer verlangen nicht, dass das ganze Amazonasgebiet in ein Reservat verwandelt wird. Es ertönt aber immer lauter der Ruf nach einer nachhaltigen Bewirtschaftung des Waldes, die der Umwelt nicht schadet, insbesondere auf die Bedürfnisse der Ureinwohner, der Hauptleidtragenden der Waldzerstörung, Rücksicht nimmt und nicht in erster Linie die Profite der Viehwirtschaft maximiert. Eine ökologisch ausgerichtete Land- und Forstwirtschaft im Rahmen von Familienbetrieben trage zum Schutz des Regenwaldes bei und garantiere unzähligen Menschen eine Existenzgrundlage, betonen Nichtregierungsorganisationen immer wieder.
Der Kleinbauer Zé Rosana weiss inzwischen aus eigener Erfahrung, dass man besser fährt, wenn man den Regenwald schützt, anstatt ihm ständig neue Wunden zu schlagen. Vor gut 20 Jahren waren er, seine Frau und seine Kinder zusammen mit 150 anderen Familien in der Nähe der Amazonasstadt Ulianópolis in den Regenwald gezogen. Die Siedler brannten Waldstücke nieder, errichteten primitive Hütten, pflanzten Bohnen und Mais. Warf der Boden nicht mehr genug ab, opferten sie die nächste Waldparzelle den Flammen und legten neue Felder an.
Die Familien mussten Tag für Tag hart kämpfen, damit sie zu essen hatten. Und zu allem Elend wollte sie auch noch der angebliche Besitzer des von ihnen besetzten Landes, ein Geschäftsmann aus der Wirtschaftsmetropole São Paulo, vertreiben. Zunächst mit juristischen Mitteln und später mit Gewalt.
Allen Schwierigkeiten zum Trotz gaben die Siedler nicht auf. Und leben heute wesentlich besser. Nicht zuletzt, weil sie mit Hilfe des brasilianischen Umweltministeriums neue Produktionswege eingeschlagen haben. Die Bauern erschliessen nicht mehr ständig neue Anbaugebiete, sondern steigern ihre Erträge auf den bestehenden Feldern. Sie setzen nicht mehr auf Monokulturen, sondern pflanzen - mit umweltgerechten Methoden - unterschiedliche Produkte an: Mais, Reis, Maniok, Bohnen, Kaffee, Kakao, Nüsse, Gemüse und tropische Früchte. Daneben haben sie mehrere zusätzliche Verdienstquellen erschlossen, indem sie Gemeinschaftsgärten mit Medizinalkräutern anlegten, Hühner aufzogen oder Bienen züchteten.
"Heute", sagt Zé Rosano, "produzieren wir nicht nur genug, um uns selbst zu versorgen. Wir können sogar einen Teil unserer Ware verkaufen und uns damit ein anständiges Einkommen sichern."