Man kann die gegenwärtigen Zustand Libyens, anderthalb Jahre nach dem Sturz Ghadhafis, als eine gemütliche Anarchie beschreiben. Zurzeit sind das Aussenministerium und das Justizministerium von Bewaffneten umstellt, die in leichten Panzern vorgefahren waren. Sie haben die dortigen Angestellten, einschliesslich des Justizministers, nach Hause geschickt, und sie halten Picknicks ab rund um die Ministerien. Sie seien "nicht aggressiv", wird berichtet, und sie schössen nicht einmal in die Luft.
Ein Gesetz gegen die Ghadhafi-Anhänger
Die Bewaffneten fordern, dass ein umstrittener Gesetzesentwurf über die politische Isolierung der ehemaligen Mitarbeiter Ghadhafis endlich in Kraft gesetzt und durchgeführt werde. Sie hatten zuvor im Februar und im März das provisorische Parlament, genannt Nationaler General Kongress, belagert und die gewählten Abgeordneten stundenlang dort festgehalten, ebenfalls im Versuch, das Isolierungsgesetz durchzusetzen.
Das Innenministerium ist geplündert worden, weil gewisse Milizen dort Sold forderten. Im Fernsehgebäude von Tripolis kam es zu Zusammenstössen zwischen Bewaffneten und Angestellten des Fernsehens. Sie verursachten keine Verluste oder Verwundungen, doch die Sendungen mussten kurz eingestellt werden.
Wer war Mitarbeiter Ghadhafis?
Das Justiz- und das Aussenministerium sind den Bewaffneten ein Dorn im Auge, weil dort besonders viele ehemalige Mitarbeiter Ghadhafis, Juristen und Diplomaten, auch heute noch angestellt sind. Das Isolierungsgesetz ist umstritten, weil der Begriff "Mitarbeiter" eng oder weit gefasst werden kann. So gut wie alle Libyer sind einverstanden, dass jene Anhänger Ghadhafis, die im Namen des Regimes Verbrechen begangen haben, politisch isoliert und auch bestraft werden sollen.
Doch den bewaffneten Gruppen ist dies nicht genug. Sie sehen alle Anhänger und Mitarbeiter des früheren Regimes als politisch Kompromittierte an, die in Zukunft keine politische Funktion mehr ausüben sollten. Dahinter steckt gewiss bei vielen der Wunsch und die Ansicht, dass sie und ihre Freunde nun in die politischen Ämter einrücken sollten. Nur so werde "die Revolution" endgültig.
Revolution" oder Demokratie?
Vielen der gewählten Abgeordneten und der von ihnen ernannten Minister geht die weite Fassung der Isolierung jedoch zu weit. Viele von ihnen waren auch Würdenträger und Amtsinhaber zur Zeit Ghadhafis, und sie sind der Ansicht, dass das Land ohne die Mitarbeit der gebildeten Schichten, von denen viele auch unter Ghadhafi Ämter bekleideten, schlechterdings nicht regiert werden kann.
Die bewaffneten Gruppen rufen nach der Bewahrung und Fortführung einer "Revolution", die sie als soziale Umschichtung sehen wollen. Dabei sollten primär sie und ihre politischen Freunde und Kampfgefährten die neue Führungsschicht bilden. Die gewählten Abgeordneten und die von ihnen ernannte Regierung stehen für ein "demokratisches Regime", das aus der nun beendeten Revolution gegen Ghadhafi hervorgehen sollte.
Die Bevölkerung hat in den Wahlen überwiegend gezeigt, dass sie hinter diesem Konzept einer gewählten demokratischen Führung steht. Sie hat überwiegend die lokal angesehenen Fachleute, Würdenträger und Stammesautoritäten gewählt, von denen schon viele unter Ghadhafi Ansehen genossen. Dabei wurden nur jene übergangen, die sich als Profiteure, Marktschreier und Schergen des Regimes hervorgetan hatten.
Die Macht der Bewaffneten
Doch die bewaffneten Kampfgruppen haben ihre Waffen behalten, und sie agieren nach wie vor unter der Autorität von Gruppenchefs, die sich zur Zeit der Kämpfe gegen die Truppen Ghadhafis profiliert hatten. Es gibt eine Vielzahl von ihnen. Sie wollen alle für "die Revolution" kämpfen. Doch ihre revolutionären Ziele sind sehr unterschiedlich. Es gibt unter ihnen radikal islamische Gruppen der sogenannten Salafiya. Sie streben einen Islamischen Staat an, der möglichst so werden sollte, wie jener, der unter dem Propheten nach 622 in Medina bestand. Doch sie sind eine Minderheit.
Die meisten der Kampfgruppen sind lokal und stammesmässig umschreibbar. Ihre Anhänger identifizieren sich mit einer Stadt, einer Region, einem Stamm oder mit Bündnissen solcher lokaler Milizen.
Vom Staat angestellte Milizen
Die anderthalb Jahre seit dem Ende Ghadhafis sind nicht spurlos vorüber gegangen. Sie haben manchen der bewaffneten Gruppen eine Art von gewohnheitsrechtlicher Legitimität verschafft. Weil den provisorischen Regierungen Libyens die notwendigen Machtinstrumente einer aktionsfähigen Polizei und einer nationalen Armee fehlten, haben die Minister der ersten Stunden taktische Bündnisse mit ausgewählten Kampfgruppen geschlossen, die bereit waren, ihnen als Ersatz für die fehlenden eigenen Machtinstrumente zu dienen.
Diese Gruppen stellten sich zu Verfügung unter dem Vorbehalt, dass sie als eigenständige Gruppen unter ihrer eigenen Führung bestehen blieben und ihre Waffen behalten konnten. Solange sie für den Staat wirkten, erhielten sie auch vom Staat Besoldung.
Eine Ersatz-Armee und Ersatz-Polizei
Die wichtigste dieser vom Staat eingestellten Kampfgruppen wirken in Tripolis, sie heissen "die Kräfte des Libyschen Schildes" als Ersatz für eine Armee und die "Höchste Sicherheitsautorität", die als Ersatz für eine Polizei dient. Sie bestehen aber weiterhin aus mehr oder weniger lokalen Kämpfern unter ihrer eigenen Führung.
Diese zentralen Sicherheitsmilizen sind des Öfteren im Dienst der Regierung gegen andere Milizen eingeschritten, die allzu energisch ihre eigenen partikularistischen Ziele verfolgten. Sie haben in diesem Sinne die Regierung gestützt.
Provisorien, die bleiben
Dies war natürlich von Seiten der provisorischen Regierung und des Parlamentes als eine provisorische Lösung gedacht. Mit der Zeit hofften sie, die Bewaffneten dazu zu überreden, ihre Waffen abzuliefern und sich selbst in die neu aufzustellenden Polizei- und Armeekräfte einzugliedern. Einige wenige waren bereit, dies zu tun.
Doch andere Gruppen stellten politische Forderungen auf, die sie erfüllt sehen wollten, bevor sie ihre Waffen abgaben. Als die wichtigste dieser Forderungen kristallisierte sich in den letzten Monaten jene nach der politischen Isolierung der "Mitarbeiter" Ghadhafis heraus, weil viele der Kampfgruppen sich unter dieser "offenen" Zielsetzung zusammenfinden konnten. Die Ziele aller waren und bleiben im Grunde, dass sie, ihre Freunde, Kampf- und Gesinnungsgenossen im Namen der fortzusetzenden Revolution führende Stellungen einnehmen möchten.
Wie lange noch zahlt die Regierung?
Die gegenwärtige Krise wird dadurch verschärft, dass die Regierung versucht, die Regularisierung der Waffenträger dadurch zu fördern, dass sie die Gelder, die sie bisher an die Irregulären bezahlt hat, allmählich einstellt, oder mindestens davon redet, dass dies demnächst geschehen könnte. Der seit Oktober regierende Ministerpräsident Ali Zidan, der auf eine breite parlamentarische Grundlage zurückgreifen kann, hat die Druckversuche der Milizengruppen scharfzüngig zurückgewiesen. "Niemand kann uns unsere Arme verdrehen", verkündete er mehrmals. Er hat Eingriffe gegen "illegale" Hauptquartiere von Milizen durchführen lassen.
Sein Justizminister erntete den Zorn der Bewaffneten, weil er öffentlich davon sprach,dass diese "illegale Gefängnisse " unterhielten. Die Bewaffneten sehen sich durch solche Äusserungen und Taten zu Kraftproben herausgefordert. Die Regierung findet sich dabei meist unterlegen, weil diese die Waffen besitzen und die Regierung noch immer über keine eigne "Hausmacht" verfügt, die sie ihnen glaubwürdig entgegenzustellen vermöchte.
Ein Land voller Waffen
Der Umstand, dass praktisch jedermann in Libyen über Waffen verfügt, auch wenn er sie nicht offen zur Schau stellt, kompliziert die Lage. Doch er hat bisher auch mitgeholfen, die Aktionen der Waffenträger in Grenzen zu halten. Schwere Ausschreitungen kamen vor, die schlimmste war der Angriff auf das Generalkonsulat der Amerikaner in Benghazi und die Ermordung des Botschafters am vergangenen 11. September, doch auch der jüngste Bombenanschlag auf die französische Botschaft in Tripolis vom 23. April mit der Verletzung von zwei französischen Wächtern und der Zerstörung von Teilen der Botschaft muss als schwere Ausschreitung gelten.
Solche Aktionen finden deutliche Missbilligung bei den libyschen Bürgern und auch bei den wichtigsten der bewaffneten Gruppen. Die Bewaffneten möchten als Revolutionäre gesehen werden und vermeiden es deshalb normalerweise, die Bevölkerung durch allzu brutale Aktionen gegen sich aufzubringen. Als Revolutionäre möchten sie doch auf Seiten der Bevölkerung stehen, nicht gegen diese.
Doch die bange Frage bei alledem muss lauten: wie lange kann die gegenwärtige "gutartige" Anarchie andauern, ohne am Ende in "bösartige" Interessenkämpfe und Zusammenstösse umzuschlagen?