Schwer zu sagen, wer es am buntesten getrieben hat. Der damalige Kabinettschef Antonio Palocci, der im Juni über eine wundersame Vermögensvermehrung gestolpert ist? Der ehemalige Transportminister Alfredo Nascimento, der für Präsidentin Dilma Rousseff nicht mehr tragbar war, nachdem eine Zeitschrift ihn beschuldigt hatte, für Staatsaufträge illegale Kommissionen einkassiert zu haben? Sein Kollege Wagner Rossi, der sich als Landwirtschaftsminister ebenfalls mit überhöhten Rechnungen bereichert haben soll? Ex-Tourismusminister Pedro Novais, dem vorgeworfen wird, seine Hausangestellte aus der Staatskasse bezahlt und einen vom Parlament entlöhnten Mitarbeiter als Privatchauffeur für seine Gattin als Chauffeur abkommandiert zu haben? Oder der vor wenigen Tagen zurückgetretene Sportminister Orlando Silva, der im Verdacht steht, aus Zuschüssen zur Förderung des Jugendsports Millionen für sich beziehungsweise seine Partei abgezweigt zu haben?
Als sechster im Bunde musste im August Verteidigungsminister Nelson Jobim sein Amt abgeben. Er brachte sich allerdings nicht mit einem Korruptionsskandal selbst zu Fall, sondern mit seiner harschen öffentlichen Kritik an zwei Ministerinnen, die die Präsidentin kurz zuvor ernannt hatte.
Der Zorn gegen die Korrupten wächst
Alle Beschuldigten wiesen die gegen sie erhobenen Vorwürfe mehr oder weniger vehement zurück und versuchten, sich als Opfer von Hetzkampagnen politischer Gegner oder ihnen schlecht gesinnter Medien darzustellen. Bisher ist auch keiner von ihnen verurteilt worden. Dilma Rousseff trennte sich dennoch rasch von ihnen, weil ihr klar war, dass Kabinettsmitglieder, die unter Korruptionsverdacht stehen, nicht bloss persönlich angeschlagen sind, sondern den Ruf der ganzen Regierung beschädigen.
Die Bevölkerung weiss es offenbar zu schätzen, dass die Präsidentin im Unterschied zu ihrem Vorgänger und politischen Ziehvater Luiz Inácio Lula da Silva Bestechung und Klientelwesen ernsthaft bekämpfen will, die Enthüllungen der Medien ernst nimmt und Polizei und Justiz freien Lauf lässt. Laut den jüngsten Meinungsumfragen stehen gut 70 Prozent der Brasilianerinnen und Brasilianer hinter ihr. In den vergangenen Monaten und Wochen gingen auch in mehreren Städten Zehntausende auf die Strasse und forderten lautstark „Null Toleranz gegen die Korruption“. „Ein reiches Land“, so lautet das Motto der Bürgerbewegung der Empörten, „ist ein Land ohne Korruption.“
Die katholische Kirche unterstützt Rousseff ebenfalls. Die nationale Bischofskonferenz zeigte sich unlängst „tief beunruhigt nicht bloss wegen der Korruption selbst, sondern auch wegen der Straflosigkeit“ und forderte eine „tief greifende politische Reform“.
Der Staat als Selbstbedienungsladen
Es bedarf tatsächlich grundlegender Veränderungen, um den Korruptionssumpf in Südamerikas grösstem Land trockenzulegen. Korruption und Vetternwirtschaft sind ein fester Bestandteil des politischen Systems. Viele Spitzenpolitiker sehen im Staat eine Art Selbstbedienungsladen, und das keineswegs bloss auf nationaler Ebene. „Hinter den Kulissen einer demokratischen Regierung herrschen häufig Familienclans“, stellt Juliane Hack in einer Untersuchung über den „Einfluss des Wohlstands auf das Korruptionsverhalten eines Staates“ fest, „nepotistisches Handeln und klientelistische Entscheidung anstelle eines fairen Wettbewerbs sind an der Tagesordnung.“
Laut einer Studie der brasilianischen Getulio Vargas-Stiftung versickerten zwischen 2002 und 2008 umgerechnet rund 20 Milliarden Franken in unkontrollierbaren Kanälen. Im internationalen Korruptionsindex belegte Brasilien 2010 unter 178 erfassten Ländern den unrühmlichen 69. Platz (zum Vergleich: Schweiz Platz 8, Deutschland Platz 15). Von den anderen südamerikanischen Staaten schneiden in diesem Ranking Chile (21) und Uruguay (24) besser ab, während Kolumbien (78), Peru (78), Argentinien (105), Ecuador (127) und Venezuela (164) schlechter da stehen.
Korruption kennt keine Parteigrenzen, in Brasilien genauso wenig wie anderswo. Von den sechs Ministern, die zurücktreten mussten, sind drei Spitzenpolitiker der Partei der Demokratischen Bewegung, der stärksten politischen Kraft in der heterogenen Zehn-Parteikoalition von Rousseff, einer gehört wie die Präsidentin zur Arbeiterpartei, einer vertrat die kleine Partei der Republik und einer ist Kommunist.
Ärger auch mit dem Fussball
Der bisher letzte erzwungene Abgang, die Demission von Orlando Silva, bedeutete nicht nur einen neuen Prestigeverlust für die brasilianische Regierung. Der Skandal im Sportministerium hat auch die Vorbereitungen für die Fussball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien weiter verzögert. Geharzt hat es allerdings schon vorher. Sowohl beim Bau der Stadien an den zwölf Austragungsorten als auch mit den dringend erforderlichen Infrastrukturaufgaben – Modernisierung von Flughäfen, Strassen, Telekommunikation, Sicherheitseinrichtungen und Hotels – sind die Brasilianer arg in Verzug geraten.
Der Weltfussballverband Fifa hat Brasilien deswegen bereits mehrfach verwarnt und sich damit bei den Gastgebern nicht gerade beliebt gemacht. Misstöne kamen auch auf, weil die brasilianische Regierung nicht alle Auflagen der Fifa für die WM widerspruchslos hinnehmen will. Differenzen bestehen etwa bei den Regeln für den Alkoholausschank oder den Schutz der Vermarktungsrechte. Rousseff beharrte bisher darauf, dass ein entsprechendes Gesetz dem Interesse der Bevölkerung dienen müsse, und handelte sich damit bei den Fussballoberen vom Zürichberg prompt das Etikett einer Populistin ein.
Die grosse Mehrheit der Brasilianer, so ist anzunehmen, lässt der Knatsch zwischen ihrer Regierung und der Fifa kalt. Ihnen ist viel wichtiger, die WM im eigenen Land zu gewinnen, als sie zu mustergültig zu organisieren.