Es begann wie so oft: Mehr als einhundert paraguayische Kleinbauernfamilien besetzten ein Areal an einem abgelegenen Ort etwa 380 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Asunción, um ihrer Forderung nach einem eigenen Stück Boden Nachdruck zu verleihen. Sie pochten darauf, dass es sich bei dem Land um öffentliches Eigentum handle, da der aktuelle Besitzer Blas Riquelme, ein konservativer Ex-Senator der Colorado-Partei, es unrechtmässig erworben habe. Ein Gericht stellte sich jedoch auf die Seite von Riquelme und ordnete die Räumung des besetzten Geländes an.
Der Innenminister musste gehen
Als eine mehr als 200 Mann starke Sondereinheit der Polizei anrückte, um die Landlosen zu vertreiben, eskalierte der Konflikt. Laut einheimischen Medienberichten waren die Besetzer teilweise mit Pistolen und Gewehren bewaffnet und nicht bereit, das Feld kampflos zu räumen. Es kam zu einem Massaker, bei dem offiziellen Angaben zufolge neun Mitglieder der Landlosenbewegung „ Nationale Liga der Zeltbewohner“ und sieben Polizisten getötet wurden. Zudem soll es Hunderte Verletzte gegeben haben. Der genaue Tathergang ist noch ungeklärt.
Als Reaktion auf die blutigen Auseinandersetzungen hat Staatschef Fernando Lugo unverzüglich sowohl seinen Innenminister als auch den obersten Polizeikommandanten ausgewechselt. Damit ist es freilich nicht getan. Die Regierung muss endlich das Problem an der Wurzel anpacken und die überfällige Agrarreform weit zielstrebiger als bisher vorantreiben.
Das Erbe der Stroessner-Diktatur
In Paraguay, das zu den ärmsten Ländern Südamerikas zählt, lebt rund die Hälfte der 6,5 Millionen Einwohner auf dem Land. Der Grossteil der Familien führt einen ständigen Kampf ums tägliche Brot. Sie besitzen überhaupt kein Terrain oder höchstes ein kleines Stück, auf dem sie etwas anpflanzen und sich damit wenigstens mit einigen Grundnahrungsmitteln versorgen können. Und selbst dort müssen sie ständig befürchten, von mächtigen Sojabaronen oder Viehzüchtern verjagt zu werden.
Während die Kleinen darben, können die Grossen nicht genug bekommen. Laut dem jüngsten Agrarzensus aus dem Jahr 2008 sind 85,5 Prozent der rund 40 Millionen Hektar kultivierbares Land in den Händen von zwei Prozent Grossgrundbesitzern. Die starke Bodenkonzentration geht zurück auf die fünfziger Jahre, als der damalige Machthaber Alfredo Stroessner einigen wenigen Familien auf illegale Weise riesige Terrains zuschanzte. Der fanatische Antikommunist, der 1954 durch einen Militärputsch an die Macht kam und das Land bis 1989 regierte, sicherte sich so die Loyalität der aus Europa eingewanderten Elite.
Soja, wohin das Auge reicht
Nach dem Sturz des Diktators wendete sich nichts zum Bessern. Unter der Alleinherrschaft der bis auf die Knochen korrupten Colorado-Partei, die erst 2008 mit der Wahl von Lugo zu Ende ging, erschlossen sich die, die schon viel hatten, weitere Millionen Hektar an neuen Anbaugebieten für Soja oder an Weideland für ihre Viehherden. Eine Million gehört allein Tranquilo Favero, dem grössten Sojaproduzenten des Landes.
Von den schätzungsweise 300 000 Kleinbauern konnten die wenigsten neuen Boden dazukaufen und so die Ertragslage ihrer Farmen verbessern. Im Gegenteil: Die einzelnen Höfe wurden ständig kleiner, weil die Grundstücke im Lauf der Zeit unter mehreren Erben aufgeteilt wurden.
Auch keine Fortschritte unter Lugo
In ihrer Not begannen sich immer mehr Landlose zusammenzuschliessen und Kampfaktionen zu organisieren. Mit Strassenblockaden und Landbesetzungen versuchten sie, der Colorado-Regierung Landumverteilungen abzuringen, wurden aber stets mit leeren Versprechen abgespeist und auf später vertröstet.
Als dann Lugo Präsident wurde, schöpften sie neue Hoffnung. Doch der ehemalige Befreiungstheologe konnte die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Zwar hat seine Regierung die angekündigte Landreform in Angriff genommen, aber dermassen zögernd, dass bisher kaum Fortschritte erkennbar sind.
Lugo hat offenbar die Macht der Grossgrundbesitzer und ihrer Gefolgsleute unterschätzt und auch die Kräfteverhältnisse und Interessenskonstellationen in seiner heterogenen Koalition falsch eingeschätzt. Seine politisch stärksten Verbündeten, die Liberalen, wehren sich vehement gegen eine Agrarreform. Der Präsident muss sich dennoch die Frage gefallen lassen, ob er wirklich genug getan hat, um sein Wahlversprechen einzulösen und die Stagnation in der Landfrage zu überwinden.
Soziale Bewegungen werden stärker
Die ungerechte Landverteilung ist nicht nur in Paraguay, sondern auch in anderen lateinamerikanischen Ländern immer wieder Auslöser für mehr oder weniger heftige soziale Proteste. In mehreren Staaten vereinigten sich ländliche Basisgruppen zu nationalen Bewegungen mit dem Ziel, durch Besetzungen und politischem Druck möglichst vielen Landarbeitern und Kleinbauern zu einem Stück Land und damit zu einer Existenzgrundlage zu verhelfen.
Die grösste und einflussreichste Organisation dieser Art ist der 1984 gegründete Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra in Brasilien, der mittlerweile 1,5 Millionen Mitglieder zählt. Er gilt als eine der wichtigsten sozialen Bewegungen in ganz Lateinamerika und hat grossen Anteil daran, dass mehrere Hunderttausend Familien in den Besitz legaler Landtitel gelangten.
Von einer wirklichen Umverteilung kann damit allerdings noch nicht die Rede sein, gehört doch nach wie vor mehr als die Hälfte der Landfläche einem Prozent von Grossgrundbesitzern. Dieser Minderheit stehen 56 Prozent der Bevölkerung gegenüber, die von gut fünf Prozent der Agrarfläche zu leben versuchen. Über fünf Millionen Familien sind in der Landwirtschaft tätig, besitzen aber kein Land und werden ohne eine grundlegende Agrarreform auch keine Möglichkeit bekommen, Boden zu erwerben.
Mit dem Land allein ist es nicht getan
Eine gerechtere Landverteilung ist eine Grundbedingung, um mehr Menschen langfristig ein Auskommen und Nahrung zu sichern. Aber sie reicht allein nicht aus. Die Agrarreform muss in ein umfassendes Programm zur ländlichen Entwicklung eingebettet werden, das den Schutz und die Förderung von Kleinbauern beinhaltet. Nur so haben die Campesinos eine Chance, gegenüber dem modernen Agrobusiness zu bestehen.
Der Weg zu einem solchen alternativen Landwirtschaftsmodell ist noch weit – nicht bloss in Paraguay und Brasilien, sondern auf dem ganzen Kontinent. Und es besteht weiterhin ein grosses Risiko, dass Landkonflikte gewaltsam ausgetragen werden.