Eric Gujer, Chefredaktor der NZZ, hat am vergangenen Samstag seines Amtes gewaltet und der Leserschaft auf der Front seines Blattes die Zeitansage durchgegeben. Unter dem apodiktischen Titel „Die Ära der Werte ist vorbei“ erklärt er die westliche Politik seit 1990 für gescheitert. Diese habe nach dem Ende des Kalten Kriegs den Pfad des Pragmatismus verlassen und sich mit einer „Überschätzung des Völkerrechts und der ‚internationalen Gemeinschaft’“ gewissermassen selber aus dem Spiel der Mächte genommen.
Aufhänger für diese Abrechnung ist der Uno-Migrationspakt. Gujer sieht in dem zunehmend umstrittenen Abkommen den erneuten Beweis für die notorische Hybris der Weltorganisation. Sie erwecke einmal mehr „den falschen Eindruck, sie könne in die Zeitläufte eingreifen“. Über diesen Einwand lässt sich diskutieren. Der Pakt schiesst in seinem Totalitätsanspruch und Perfektionismus tatsächlich übers Ziel hinaus. Nicht zuletzt wegen seiner Überfrachtung wird er wohl als eine der vielen gutgemeinten und wirkungslosen Deklarationen enden, die der internationale Konferenzbetrieb immer wieder produziert.
Neben diesem Treffer macht Gujer in seinem Rundumschlag noch einige weitere Punkte, bei denen man seinen Argumenten einiges abgewinnen kann. Es stimmt und niemand bestreitet es, dass die Uno bei ihren Versuchen der Konfliktbeilegung eine durchzogene Erfolgsbilanz hat. Zudem hat sie sich mit ihrer 2005 beschlossenen „Responsibility to Protect“ (R2P) – dem Mandat, Unrechtsregimen in den Arm zu fallen – offensichtlich zu viel vorgenommen.
Die Weltorganisation mag vielleicht einen Hang haben, allzu gross zu denken und sich unerreichbare Ziele zu setzen. Ihr deswegen vorzuwerfen, sie vernachlässige das Engagement für klar begrenzte praktische Aufgaben, ist jedoch ungerecht. Denn die Uno und ihre Sub-Organisationen sind auf zahlreichen Feldern aktiv, in denen sie beharrliche und wirkungsvolle Arbeit leisten. Nur finden solche Einsätze meistens keine Beachtung in den Medien – auch in der NZZ nur sehr selten.
Doch Gujer geht es nicht um ein abwägendes Urteil über die Versuche, eine von Werten geleitete Staatengemeinschaft aufzubauen. Vielmehr behauptet er deren endgültiges Scheitern und – daraus folgend – das Aus für die „Ära der Werte“. Es ist eine Absage voller Genugtuung, die aus seinem Leitartikel spricht. Gujer sonnt sich in der Rolle dessen, der es schon immer gewusst hat. Wie naiv sie doch waren, die Verfechter von Völkerrecht und Menschenrechten: „Wenigstens für einen Augenblick schien es, als setze sich in der Welt das Wahre, Schöne und Gute durch.“ Und weiter: „Keine Aufgabe konnte gross genug sein, Pragmatismus galt als Verrat an den moralischen Zielen.“ Damit ist nun Schluss, jedenfalls wenn man es mit dem intellektuellen Chic eines Robert Kagan hält, der doziert: „The jungle grows back.“
Gujer kennt Moral nur in Form von weltfremdem Idealismus, und der ist nun durch „ein Rollback der Realpolitik“ obsolet. Erledigt sind nicht nur Migrationspakt, R2P, Vermittlung in Syrien und wahrscheinlich das (von Gujer nicht erwähnte) Pariser Klima-Abkommen, sondern auch Völkerrecht und Menschenrechte, die er ausdrücklich in seine Generalabrechung einbezieht. Denn was könnte grösser gedacht sein und sich als weniger durchsetzbar erwiesen haben als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948.
Ein Grund für Gujers Schieflage ist sein unzureichender Begriff von Moral. Er kennt sie offenbar bloss als abgehobene Weltfremdheit und selbstgerechten Moralismus. Dass Moral in der reflektierten Form von Verantwortungsethik sich mit harten Realitäten und realen Wirkungsmöglichkeiten redlich auseinandersetzt, will Gujer nicht in Betracht ziehen. Wäre ja auch schade um die schöne Headline seines Leitartikels. Denn für eine rationale Ethik sind Werte eben nicht passé, sondern unverzichtbar.
Am Schluss seiner Eloge der Illusionslosigkeit sucht Gujer einen milderen Ton. Weder „Moral vor Macht“ noch „Macht vor Moral“ seien als Devisen tauglich. Es bleibe nur ein Mittelweg, mithin die „gelassene Selbstbeschränkung in einer aus den Fugen geratenen internationalen Ordnung“. – Gelassene Selbstbeschränkung: Das wäre auch eine Empfehlung für Chefredaktoren, die mit Rundumschlägen zwecks Zeitansage vor ihre Leser treten.