Eine junge Frau demonstriert auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew für die Evakuierung ihres Mannes, der in Mariupol eingekesselt ist. Eine erste Gruppe von 100 Menschen hat das Stahlwerk «Asowstal» am Sonntagabend verlassen. Dies bestätigt der ukrainische Präsident. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) erklärt, dass die Evakuierung «im Gange» ist. Die ersten Evakuierten sind am Montag in der nordwestlich von Mariupol gelegenen Stadt Saporischschja eingetroffen.
Die Evakuierung erfolge «in Abstimmung mit den Vereinten Nationen und den Konfliktparteien», erklärt das IKRK. Zur Zeit würden keine weiteren Einzelheiten bekanntgeben, um die Evakuierung nicht zu gefährden.
Am Samstagmorgen hatten Busse und andere Fahrzeuge, die Zivilisten evakuieren sollen, Mariupol nach einer 230 Kilometer langen Fahrt erreicht.
Am Montag soll eine weitere Gruppe evakuiert werden.
Das Stahlwerk Azowstal ist der letzte Zufluchtsort für ukrainische Soldaten und etwa 1’000 Zivilisten in Mariupol. Laut ukrainischen Angaben befinden sich etwa 1’500 Kämpfer in den unterirdischen Bunkern und Tunnels der Anlage. Mindestens 500 Soldaten seien verwundet und bräuchten dringend eine medizinische Versorgung. Es fehlen Nahrungsmittel, frisches Wasser und Medikamente. Nach Angaben von Militäranalysten wurde der ausgedehnte Industriekomplex in den letzten Tagen von russischer Artillerie und aus der Luft bombardiert.
Nicht nur im Stahlwerk harren Menschen aus. In der Stadt Mariupol selbst kämpfen etwa 100’000 Ukrainerinnen und Ukrainer ums Überleben. Der Bürgermeister der Stadt sagte der BBC, die Menschen befänden sich «an der Grenze zwischen Leben und Tod». Die Hölle – sie gebe es, und das sei Mariupol, erklärte er. Nicht nur das Asowstal-Werk wird kontinuierlich bombardiert, auch in der Stadt selbst gehen täglich Raketen nieder. Nach Angeben von Hilfsorganisationen sind in Mariupol vermutlich etwa 20’000 Menschen getötet worden.
Es war nicht klar, ob die Evakuierung nur die im Stahlwerk eingeschlossenen Menschen umfasst oder ob auch Menschen aus der Stadt selbst evakuiert werden. Vor dem Krieg lebten rund 450’000 Menschen in der Hafenstadt. Jetzt leben schätzungsweise noch 100’000 Menschen in den Ruinen der zerstörten Metropole.
Ukrainische Beamte beschuldigen die Russen, Massengräber auszuheben, um das Ausmass des Gemetzels zu verbergen.
«Sie können sich nicht vortstellen, was wir durchgemacht haben»
Die evakuierte 37-jährige Natalia Usmanova berichtete als Erste der Nachrichtenagentur Reuters von ihrem Leben im Untergrund und den Bombardierungen.
«Ich fürchtete, dass der Bunker dem Einschlag der Bomben nicht standhalten würde - ich hatte schreckliche Angst», sagte sie. «Als der Bunker zu wackeln begann, war ich hysterisch, das kann mein Mann bestätigen: Ich war so besorgt, dass der Bunker einstürzen würde.»
«Wir haben die Sonne so lange nicht gesehen», fügte sie hinzu.
«Sie können sich gar nicht vorstellen, was wir durchgemacht haben - den Terror.»