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Ukraine Tag 115

«Die USA, Gottes Stellvertreter»

17. Juni 2022
Putin
Putin am Freitag am Wirtschaftsforum in St. Petersburg (Foto: Keystone/AP/Tass/Sergei Bobylev)

Die «Ära der unipolaren Welt» sei zu Ende, erklärt Präsident Putin in einer kämpferischen Rede am Wirtschaftsforum in St. Petersburg. «Als sie den Kalten Krieg gewannen, erklärten sich die USA zu Gottes Stellvertretern auf Erden, zu Menschen, die keine Verantwortung tragen – nur Interessen. Sie haben diese Interessen für heilig erklärt.

Putin begann wegen eines massiven Cyberangriffs mit seiner Rede anderthalb Stunden später als geplant. Es war nicht sofort klar, wer hinter dem Angriff steckte. Ein ukrainisches Hackerkollektiv hatte vor einigen Tagen Angriffe auf das St. Petersburg-Forum nicht ausgeschlossen.

Scharf schoss Putin gegen die USA: «Sie leben in der Vergangenheit, in ihrem eigenen Wahn ... Sie denken, dass ... sie gewonnen haben und alles andere eine Kolonie ist, ein Hinterhof. Und die Menschen, die dort leben, sind Bürger zweiter Klasse», sagte er.

«Florierende russische Wirtschaft»

Putin sprach mehr als 70 Minuten lang, ging aber kaum auf den Krieg in der Ukraine ein. Stattdessen konzentrierte er sich darauf zu erklären, dass Russlands Wirtschaft trotz der westlichen Sanktionen florieren könne. Er versprach Umwelt- und Regulierungsreformen sowie staatliche Initiativen zur Förderung der Nachfrage nach russischen Unternehmen.

«Russland tritt als mächtiges, souveränes Land in die bevorstehende Epoche ein», sagte er. «Wir werden die neuen, kolossalen Möglichkeiten, die sich uns in dieser Ära eröffnen, mit Sicherheit nutzen und noch stärker werden.»

«Die Sanktionen waren nicht erfolgreich»

Der «Sondereinsatz», wie Putin den Krieg in der Ukraine nennt, sei zu einem «Rettungsanker für den Westen geworden, um alle Probleme auf Russland zu schieben».

Die Regierung Biden und die «Euro-Bürokratie» seien schuld an den steigenden Lebensmittelpreisen. Die westlichen Sanktionen gegen Russland nennt er «verrückt» und «rücksichtslos». Die Absicht sei klar. Der Westen wolle «die russische Wirtschaft zerstören, indem er die logistischen Ketten unterbrechen, nationale Vermögenswerte einfrieren und den Lebensstandard angreifen wolle». Aber: «Sie waren nicht erfolgreich, es hat nicht geklappt. Die russischen Geschäftsleute haben sich zusammengetan und arbeiten fleissig und gewissenhaft.» «Schritt für Schritt normalisieren wir die wirtschaftliche Lage.»

Offen für ausländische Investitionen

Die russische Wirtschaft bleibe für ausländische Investitionen und Kooperationen offen. «Russland wird, auch wenn unsere westlichen Freunde buchstäblich davon träumen, niemals den Weg der Isolation und Autarkie einschlagen», sagte er.

Er versprach, die bürokratischen Hürden abzubauen, indem er die Häufigkeit von Audits und die Inhaftierung von Führungskräften im Rahmen von Ermittlungsverfahren reduzieren will.

Schelte für Oligarchen

Er appellierte an die russischen Wirtschaftsmagnaten, ihr Geld zu Hause zu lassen. Die westlichen Sanktionen seien ein Beweis dafür, dass sie ihre Beziehungen zum Westen abbrechen sollten.

«Echter, solider Erfolg und das Gefühl von Würde und Selbstachtung werden sich nur einstellen, wenn Sie Ihre Zukunft und die Ihrer Kinder an Ihr Mutterland binden», sagte Putin. Im Publikum sassen mehrere Oligarchen, unter anderem Oleg Deripaska und Viktor Vekselberg.

«Diejenigen, die diese offensichtliche Botschaft nicht hören wollten, haben Hunderte von Millionen, wenn nicht gar Milliarden von Dollar im Westen verloren», sagte er.

«Den Neonazis ausgesetzt»

Im Westen war die russische Invasion lange als Reaktion auf die russischen Ängste vor einem Erstarken und einer Erweiterung der Nato gedeutet worden. Letzte Woche dann zog er einen Vergleich zu Zar und Kaiser Peter den Grossen und machte so klar, dass sein Ziel die Wiederherstellung Russlands als imperiale Macht ist.

Putin behauptete erneut, Russland sei in den Krieg «hineingezwungen» worden. Als «souveränes Land» habe Russland das «unbedingte Recht, seine Sicherheit zu verteidigen». Russland habe mit der «speziellen Operation» eine Entscheidung getroffen, «die darauf abzielt, unsere Bürger, die Bewohner der Volksrepubliken des Donbass, zu schützen, die acht Jahre lang einem Völkermord durch das Kiewer Regime und Neonazis ausgesetzt waren und den vollen Schutz des Westens erhielten», sagte er.

«Diskriminierte ethnische Russen»

Die beiden ostukrainischen Oblaste (Provinzen) Donezk und Luhansk waren 2014 unter die Dominanz pro-russischer Separatisten geraten. Zur gleichen Zeit eroberte Russland die Krim. Der Kreml hat den ukrainischen Behörden vorgeworfen, ethnische Russen und russischsprachige Menschen in den Regionen zu diskriminieren, was Kiew bestreitet.

Ab 2019 wurden den Bewohnern von Donezk und Luhansk russische Pässe angeboten. Ende Februar kündigte Putin an, er werde die beiden Provinzen als unabhängig anerkennen, was als Auftakt zum Krieg gewertet wurde. Kein anderes Land ausser Russland anerkennt die beiden Provinzen als unabhängig.

«Für die Verteidigung ihres Volkes»

Die russischen Soldaten und die Separatisten würden im Donbass «für die Verteidigung ihres Volkes» kämpfen, sagte Putin. Sie hätten jedes Recht, Pseudowerte abzulehnen und moralische Erniedrigungen von sich zu weisen.

Die Ukraine und die internationale Staatengemeinschaft betrachten die Provinzen Donezk und Luhansk als von Russland unrechtmässig besetzte Gebiete.

Die EU habe «ihre Souveränität vollständig verloren», sagte Putin. «Ihre Eliten tanzen nach der Pfeife eines anderen und schaden ihrer eigenen Bevölkerung. Die wahren Interessen der Europäer und der europäischen Unternehmen werden völlig ignoriert und beiseite geschoben», erklärte er.

«Die alte Leier»

Amerikanische Medien und Beamte bezeichnen Putins Rede als «die alte Leier». Sein vehementer Auftritt habe sich vor allem an die Russinnen und Russen gerichtet, denen er in dieser schwierigen Situation Mut machen wollte.

Die wirtschaftliche Bedrohung durch die westlichen Sanktionen rede er «schön», liess aber durchblicken, dass sich Russland mächtig anstrengen müsse, um die Ausfälle kompensieren zu können. «Eigentlich bettelte er auch um weitere ausländische Investitionen», sagte ein Beamter. Vor allem habe er den russischen Oligarchen, die das Geld im Ausland einlegen, die Leviten gelesen. Mehrere dieser Oligarchen waren im Saal in St. Petersburg anwesend. Putin forderte sie ultimativ auf, kein Geld mehr ins Ausland zu transferieren. Diese Aufforderung zeige, erklären amerikanische Beobachter, wie sehr die russische Wirtschaft zur Zeit leide. Zum Ukraine-Krieg habe er den bisherigen «grotesken Lügen» nichts beigefügt. Zwischen den Zeilen könne man lesen, sagte ein Beamter, dass sich Putin «in grossen Schwierigkeiten» befinde.

Putin nicht gegen EU-Mitgliedschaft der Ukraine

Am Wirtschaftsforum in St. Petersburg sagte Putin, er habe keine grundsätzlichen Einwände gegen einen EU-Beitritt der Ukraine. «Wir haben nichts dagegen. Es ist die souveräne Entscheidung jedes Landes, Wirtschaftsbündnissen beizutreten oder nicht beizutreten.» Die EU sei «im Gegensatz zur Nato keine militärische Organisation, kein politischer Block». Ob eine Mitgliedschaft der Ukraine im Sinne der EU sei, müsse sie selbst wissen. «Aber die Wirtschaftsstruktur der Ukraine ist so, dass sie sehr grosse Substitutionen brauchen wird.»

Selenskyj besucht die südliche Stadt Mykolajiv

Der ukrainische Präsident hat die Schwarzmeerhafenstadt Mykolaijv während einer Arbeitsreise in der Region besucht, wie sein Büro in einer Erklärung mitteilte.

«Der Präsident besichtigte das Gebäude der regionalen Staatsverwaltung in Mykoljaiv, das durch einen Raketenangriff der russischen Streitkräfte zerstört wurde", heisst es.

In der Erklärung wurde nicht angegeben, wann der Besuch des Präsidenten stattfand.

Die Stadt und ihre Umgebung werden seit Wochen von russischen Truppen beschossen. Selenskj hatte früher bereits Charkiw, Lyssytschansk und Saporischschjia besucht.

Ukraine
Mikolajiv, Cherson, Melitopol (Karte: Journal21.ch/stepmap.de)

Johnson zum zweiten Mal in Kiew

Einen Tag nachdem die Staats- und Regierungschefs aus Frankreich, Rumänien, Deutschland und Italien Kiew besucht hatten, ist am Freitag auch der britische Premierminister in die ukrainische Hauptstadt gereist.

Johnson teilte der ukrainischen Führung mit, Grossbritannien sei bereit, bis zu 10’000 ukrainische Soldaten aus- und weiterzubilden. Diese Trainings sollen innerhalb von vier Monaten stattfinden. Grossbritannien hat seit 2015 mehr als 22’000 Personen in der Ukraine für das Militär ausgebildet. Seit Beginn des Kriegs findet das Training in Nachbarländern statt.

Johnson, Selenskyj
Johnson und Selenskyj am Freitag in Kiew (Foto: Twitter)

Johnson hatte Kiew schon im April besucht.

Johnson versprach auch, sein Land werde mit der Ukraine zusammenarbeiten, um das ukrainische Getreide frei zu bekommen, das vom russischen Präsidenten Wladimir Putin «als Geisel» gehalten werde. Der ukrainische Präsident Selenskyj sagte, er freue sich, «den grossen Freund der Ukraine» wieder in Kiew zu sehen.

22 Jahre alte Lok

Lokführer
Er heisst Vasyl, ist Lokomotivführer und posiert im polnischen Bahnhof Przemysl in einer alten russischen Lokomotive, einer «VLIO-1310». Am Mittwoch und Donnerstag transportierte er kostbare Fracht. Er war es, der den französischen Präsidenten Macron und den deutschen und italienischen Ministerpräsidenten, Scholz und Draghi, von Polen in acht Stunden in die ukrainische Hauptstadt fuhr – und zurück. Die Fahrt bei Nacht war in der stets mit Bomben und Artilleriefeuer belegten Ukraine nicht ohne Risiko. (Foto: Keystone/EPA/Ludovic Marin)

(Wird laufend aktualisiert)

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