Die ukrainischen Kämpfer, die über 80 Tage lang den Russen in Mariupol trotzten und dann kapitulierten, sind nach Russland überstellt worden. Angehörige befürchten, dass sie als «Terroristen» und «Kriegsverbrecher» vor ein Gericht gestellt werden. In der Ukraine gelten sie als Nationalhelden.
- Asow-Kämpfer nach Russland deportiert
- Leichen gegen Leichen
- Hin und her in Sewerodonezk
- Wiederholt sich Mariupol?
- Gibt die Ukraine Sewerodonesk auf?
- Erklärt: «Oblast»
- Grossangriffe im Oblast Donezk
- «Buch der Henker»
- Russische Marine zieht sich zurück
- «In den Strassen verrotten Leichen»
- «600 ukrainische Journalisten und Aktivisten inhaftiert»
Deportiert
Unter den weit über tausend Soldaten, die jetzt nach Russland deportiert wurden, befinden sich Marineinfanteristen, Grenzschützer und Asow-Kämpfer. Fast drei Monate lang hatten sie zunächst in der Stadt Mariupol gekämpft und dann das Stahlwerk Asowstal verteidigt. Wochenlang harrten sie in den Bunkern des Werks unter «apokalyptischen Bedingungen» aus. Ende Mai kapitulierten sie schliesslich.
«Kriegsverbrecher»
Laut offiziellen russischen Quellen wurden sie «zu Ermittlungszwecken» nach Russland deportiert. Laut den Genfer Konventionen müssten sie als Kriegsgefangene «menschenwürdig» behandelt werden.
Viele in Russland argumentieren jedoch, es handle sich nicht um «Kriegsgefangene», sondern um «Kriegsverbrecher» und um «Terroristen», die nicht unter die Bestimmungen der dritten Genfer Konvention fallen.
«Nazi-Kämpfer»
Vor allem die Kämpfer des Asow-Regiments sind den Russen ein Dorn im Auge. Moskau bezeichnet sie als «ultranationalistisch» und «rechtsextrem». Tatsache ist, dass Anführer des mehrheitlich russischsprachigen Verbandes nach der Gründung im Jahr 2014 sich ab und zu «rechtsextrem» äusserten. Doch seit der Eingliederung des Regiments in die Nationalgarde gelten die rechtsextremen Strömungen im Verband weitgehend als überwunden. Russland wird die Asow-Kämpfer jedoch als «Nazi-Kämpfer» präsentieren, die beweisen sollen, dass in der Ukraine «die Nazis» herrschen.
Leichen gegen Leichen
Bei den Kämpfen um Mariupol sind etwa 20’000 Zivilisten ums Leben gekommen. Im Stahlwerk selbst starben weit über 200 Menschen. Viele von ihnen wurden in Kühlaggregaten wochelang aufbewahrt.
In der Zwischenzeit ist es Russland und der Ukraine gelungen, einen Austausch von Leichen vorzunehmen. Jede Seite gab 160 Tote frei. Unter ihnen befinden sich getötete Asowstal-Kämpfer und – andererseits – getötete russische Soldaten.
Die ukrainischen Angehörigen erklärten, die getöteten Ukrainer seien nun in Kiew eingetroffen.
Hin und her in Sewerodonezk
Die Ukraine behauptet, neue russische Angriffe in der hart umkämpften Stadt Sewerodonezk abgewehrt zu haben. Von unabhängiger Seite lässt sich das nicht überprüfen. Die Lage ist unübersichtlich. Sewerodonezk ist die letzte grosse Stadt in der Provinz (Oblast) Luhansk, die noch nicht in die Hände der Russen gefallen ist. Militäranalysten erklären, es sei schwierig zu sagen, wer welche Gebiete beherrscht. Die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin Hanna Maliar hatte am Wochenende gesagt, die Situation könne sich «alle 30 Minuten radikal ändern».
Sewereodonezk wird von den Russen von drei Seiten her angegriffen. Das britische Verteidigungsministerium sagte am Mittwoch, trotz heftiger Angriffe würden die ukrainischen Streitkräfte die Stadt «halten». Es sei unwahrscheinlich, dass eine der beiden Seiten im Laufe des vergangenen Tages nennenswerte Gebietsgewinne erzielt habe, erklärt das Verteidigungsministerium.
Wiederholt sich Mariupol?
In Bunkern der Chemiefabrik Azot in Sewerodonezk sollen 800 Zivilisten vor den Kämpfen Zuflucht gesucht haben. Zu ihnen gehören 200 Arbeiter des Werks, erklärt der Werkeigentümer. Die Angestellten seien vor Ort geblieben, um «so gut wie möglich zu schützen, was von den hochexplosiven Chemikalien des Werks übrig ist», heisst es in der Mitteilung.
In der südukrainischen Stadt Mariupol hatten Hunderte Menschen Zuflucht in den Bunkern des Asowstal-Metallwerk gesucht. Viele harrten wochenlang aus, einige starben.
Sollen sich ukrainischen Truppen zurückziehen?
In Sewerodonezk gehen die schweren Kämpfe weiter. Präsident Selenskyj bezeichnete die Stadt und das gegenüber des Donezk-Flusses liegende Lyssytschansk als «tote Städte», die durch russische Angriffe völlig verwüstet wurden und in denen nur noch wenige tausend Zivilisten in Kellern und Unterständen ausharren.
Die russischen und pro-russischen Milizen sind den Ukrainern zahlenmässig weit überlegen. Zudem verfügen die Russen über «zehn Mal mehr» Artillerie und Raketen, erklärt die Ukraine. Die Gefahr besteht, dass die ukrainischen Truppen von den Russen eingekesselt werden, so wie dies in Mariupol geschah. Die Frage, die sich nun ukrainische Militärplaner stellen, ist: Sollen sich die Ukrainer von der Front zurückziehen, um das Leben ihrer Soldaten zu schützen? Die Meinungen gehen in der Ukraine auseinander.
Ein Rückzug aus Sewerodonezk würde Moskau die Kontrolle über die gesamte Region Luhansk geben. Nächstes Ziel wird die vollständige Eroberung der Region Donezk sein. Luhansk und Donezk bilden zusammen den Donbass.
Selenskyj sagte, wenn es Russland gelänge, die Kontrolle über die gesamte Industrieregion Donbass zu erlangen, würde dies eine «existenzielle Herausforderung» für die Ukraine darstellen. Von diesem Gebiet aus könnten die russischen Streitkräfte «ständige Raketenangriffe auf das Zentrum der Ukraine» starten.
Später sagte Selenskyj: «Der ukrainische Donbass steht. Er steht fest.» Westliche Analysten werten solche Sätze als «Durchalteparolen». Der Bürgermeister von Sewerodonezk hatte am Sonntag erklärt, die ukrainischen Truppen würden nicht aufgeben. Hanna Maliar, die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin, hatte gesagt, die Situation in der Stadt könne sich «alle 30 Minuten radikal ändern». Serhyi Haidai, der militärische Verantwortliche der Region Luhansk, hatte letzte Woche erklärt, die ukrainischen Soldaten hätten wieder Terrain von den Russen zurückerobert. Am Wochenende sagte er, die Situation habe sich wieder verschlechtert. Die ukrainische Armee hofft nun, dass der baldige Einsatz modernster amerikanischer und britischer Waffensysteme eine Wende im Krieg bringen könnte.
«Russland kontrolliert 97% von Luhansk»
Nach Angaben des russischen Verteidigungsministers Sergei Schoigu kontrollieren russische Truppen fast die ganze ukrainische Provinz Luhansk. Russische Kräfte hätten Wohngebiete in Sewerodonezk erobert, sagte er. Noch immer tobten heftige Kämpfe. «Russland kontrolliert jetzt 97 Prozent der Region Luhansk», sagte er.
Kurz erklärt: «Oblast»
Die Ukraine ist in 24 «Oblaste» eingeteilt. Auf Deutsch wird Oblast meist mit «Gebiet», «Verwaltungsgebiet», «Provinz», «Region» oder gar «Kanton» übersetzt. Die Namen der meisten Oblaste richten sich nach dem Namen ihrer grössten und wichtigsten Stadt (z. B.: die Stadt Luhansk ist Namensgeberin des Oblasts Luhansk).
Die Hauptstadt Kiew hat einen besonderen Status und wird direkt von der ukrainischen Zentralregierung verwaltet. Das Gebiet rund um Kiew gehört zum «Oblast Kiew». Dazu gehören unter anderem die jetzt schwer beschädigten Städte Irpin, Butscha und Browary.
Neben den 24 Oblasten gibt es die «Autonome Republik Krim», die 2014 von Russland annektiert wurde. Hauptstadt ist Simferopol.
Die Oblaste Luhansk und Donezk bilden zusammen den Donbass. Der Oblast Donezk gehört zu den am dichtesten besiedelten Gebieten in der Ostukraine und ist mit (vor dem Krieg) 4,1 Millionen Einwohnern der bevölkerungsstärkste ukrainische Oblast.
Angriffe im Norden der Provinz Donezk
Nachdem die Russen fast die ganze Provinz Luhansk erobert hatte, intensivieren sie nun ihre Angriffe auf die Nachbarprovinz Donezk.
Slowjansk unter Beschuss
Die Stadt Slowjansk wird seit Dienstag laut dem ukrainischen Militär heftig beschossen. Hunderte Granaten, Artilleriegeschosse und Raketen schlugen rund um die Stadt und teils in der Stadt ein.
Intensivierte Angriffe auf Bachmut
Russland setzt zu einem Grossangriff auf Bachmut in der Provinz Donezk an. Elf russische Angriffe seien in den vergangenen Tagen abgewehrt worden, erklärt das ukrainische Militär. Drei Panzer seien zerstört worden. Russland führt sowohl Angriffe mit seiner Artillerie als auch mit Kampfflugzeugen durch.
«Buch der Henker»
Die Ukraine ist dabei, Russen zu registrieren, denen Kriegsverbrechen vorgeworfen werden. Dazu soll ein Datenerfassungssystem eingerichtet werden, eine Art «Buch der Henker». Dies gab Präsident Selenskyj bekannt. In dem Buch soll nach Angaben russischer Beamter minutiös beschrieben werden, welche Verbrechen einzelnen russischen Soldaten und Kommandanten vorgeworfen werden. Ziel ist es, die Schuldigen dann zur Rechenschaft zu ziehen, auch wenn sie (noch) auf freiem Fuss sind.
Russische Kriegsschiffe entfernen sich
Russische Kriegsschiffe, die vor der ukrainischen Schwarzmeerkünste stationiert und in der Lage waren, ukrainische Gebiete zu beschiessen, haben sich hundert Kilometer von der Küste zurückgezogen. Ukrainische Militäranalysten glauben, der Grund dafür sei die Ankunft dänischer Harpoon-Schiffsabwehrraketen. Solche Geschosse haben eine Reichweite von fast hundert Kilometern.
Trotz dieses Rückzugs kontrollieren die Russen das Schwarze Meer und strangulieren mit der Blockade der ukrainischen Häfen die ukrainische Wirtschaft. Millionen Tonnen ukrainisches Getreide können deshalb nicht exportiert werden. Die Ukraine versucht nun, via das westliche Nachbarland Moldawien (Moldau) Weizen zu exportieren.
40’000 tote Zivilisten
Nach Angaben der ukrainischen Regierung sind im Ukraine-Krieg bisher 40’000 ukrainische Zivilisten getötet worden. Drei Millionen Menschen leben unter russischer Besatzung.
«Einige ukrainische Erfolge» in Cherson
Gemäss dem britischen Verteidigungsministerium haben die ukrainischen Streitkräfte bei ihrer Gegenoffensive im südukrainischen Cherson «einige Erfolge» erzielen können und östlich des Flusses Ingulets wieder Fuss gefasst. Cherson war die erste ukrainische Stadt, die die Russen erobert haben.
«In den Strassen verrotten Leichen»
In der von Russland eroberten südukrainischen Stadt Mariupol brechen Krankheiten aus. Die Abwassersysteme funktionieren nicht, erklären lokale Beamte. In den Strassen würden Leichen verrotten. Zehntausende, die noch in der Stadt ausharren müssen, haben keinen Zugang zu sauberem Wasser. Ein Berater des Stadtpräsidenten erklärte am Sonntag, die Gefahr eines Cholera-Ausbruchs sei real.
«600 ukrainische Journalisten und Aktivisten inhaftiert»
Nach Berichten von Tamila Taschewa, der ukrainischen Aktivistin und Gesandten von Präsident Selenskyj, werden in Cherson und den umliegenden Gebieten etwa 600 Zivilisten, meist Journalisten und Aktivisten, in improvisierten Gefängnissen interniert. Sie seien «eigentlich Geiseln und werden in speziell ausgestatteten Kellern, eigentlich Gefängnissen, festgehalten», wird Tamila Taschewa von der ukrainischen Nachrichtenagentur Interfax zitiert.
«Sie werden unter unmenschlichen Bedingungen gehalten und gefoltert. Zeugen berichten von Schreien, die von den Orten aus zu hören waren, an denen unsere Bürger solchen illegalen Handlungen ausgesetzt sind», sagte Taschewa.
(Wird laufend aktualisiert)
Journal 21