Putin glaubte, die Ukraine in wenigen Tagen erobern zu können. Er rechnete auch damit, dass Präsident Selenskyj fliehen würde. Hundert Tage später muss der Kreml-Herrscher nüchtern feststellen: Russland hat seine Ziele bei weitem nicht erreicht.
- Hundert Tage Krieg
- Russland hat keine strategischen Ziele erreicht
- 90 % von Luhans unter russischer Kontrolle
- Russland beherrscht 20 % der Ukraine
- Strassenkämpfe in Sewerodonesk
- Opec erhöht Produktion
- «Zermürbungskrieg»
- Blockiertes Getreide
- Gerüchte um Putins Gesundheitszustand
- Botschafter kehren nach Kiew zurück
Zwar haben russische Kräfte jetzt 90 Prozent der Region Luhansk sowie Gebiete im Süden des Landes, inklusive Mariupol und Cherson erobert, aber aus den Regionen Kiew und Charkiw wurden sie davongejagt.
Für Putin ist das blamabel. Das russische Militär ist dem ukrainischen im Verhältnis von 10 : 1 überlegen. Moskau verfügt über doppelt soviel Infanterie wie die Ukraine und über zehn Mal mehr Kampfflugzeuge und fünf Mal mehr Panzer. Laut jüngsten westlichen Geheimdienstberichten hat die russische Armee zwischen 20'000 und 30'000 Soldaten verloren. Die Moral der Truppe ist erwiesenermassen schlecht. Das Material befindet sich teils in einem erbärmlichen Zustand.
Putin bald in arger Bedrängnis
Der ukrainischen Armee gelang es, russische Panzerkolonnen zu vernichten und das russische Flaggschiff im Schwarzen Meer zu versenken. Russische Kampfflugzeuge getrauen sich noch immer kaum über ukrainisches Gebiet. Der britische Geheimdienst sagt, die Russen würden die Fehler wiederholen, die sie zu Beginn des Krieges gemacht hätten.
Nicht gerechnet hat Putin damit, dass er plötzlich einer überraschend zusammengeschweissten Nato gegenüberstand. Im Westen brach ein eigentlicher Solidaritäts-Tsunami für die Ukraine aus.
Dieser westliche Block zeigt jetzt – nicht überraschend – erste Risse. In der EU gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, wie weit die westlichen Sanktionen gehen sollen. Die Frage eines Öl-Importstopps hat das Bündnis teilweise gespalten. Doch, so sagen amerikanische Analysten, die Anti-Putin-Welle sei noch immer so stark, dass sie den Kreml-Führer bald einmal in arge Bedrängnis bringe. Vor allem Biden und die Briten würden alles daran setzen, um die Ukraine zu stärken.
Kriegsverbrechen
Putin und die russische Armee haben in diesen hundert Tagen auch eine schreckliche Visitenkarte hinterlegt. Da wurden Wohnquartiere bombardiert, Spitäler, Geburtskliniken, Theater, Altersheime, Schulen.
Da die russischen Truppen stecken blieben, entschloss man sich zu einer Politik der verbrannten Erde. Butscha, Irpin, Mariupol, Hostomel, Browary werden noch nicht vergessen sein. Die russische Armee hat sich das Image einer kriegsverbrecherischen Horde zugelegt.
Ankunft amerikanischer Raketensysteme
Nach der Eroberung der Provinz Luhansk greifen nun die Russen die Nachbarprovinz Donezk an und versuchen erneut Charkiw, die zweitgrösste ukrainische Stadt, in die Knie zu zwingen. Die Region Cherson im Süden soll Russland einverleibt werden.
Nach Angaben von Militärfachleuten ist damit zu rechnen, dass die Russen künftig weniger vorankommen als bisher. Der Grund: Die ukrainische Armee erhält die seit Kriegsbeginn geforderten modernen westlichen Waffen, vor allem das amerikanische M142 High Mobility Artillery Rocket System (HIMARS).
Wie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am 100. Kriegstag sagte: Die Ukraine, Russland und der Westen müssen sich auf einen langen Zermürbungskrieg einstellen.
Kein strategisches Ziel erreicht
Das britische Verteidigungsministeriumerklärte am Freitag, Russland habe in der Donbass-Region taktische Erfolge erzielt und werde wahrscheinlich in den nächsten zwei Wochen die vollständige Kontrolle über die Provinz Luhansk übernehmen. Doch nach 100 Tagen Krieg habe Russland keines der strategischen Ziele erreicht, die in Moskaus ursprünglichen Plänen vorgesehen waren.
Russland kontrolliert ein Fünftel der Ukraine
Präsident Wolodimir Selenskyj sagte am Donnerstag, dass die russischen Streitkräfte nun ein Fünftel seines Landes kontrollierten. Die Kämpfe gehen laut Selenskyj entlang einer etwa tausend Kilometer langen Front weiter. Diese erstreckt sich von der nordöstlichen Stadt Charkiw bis in die Aussenbezirke von Mykolaiv in der Nähe des Schwarzen Meeres im Süden.
Noch immer: Strassenkämpfe in Sewerodonesk
Das wichtigste militärische Ziel Moskaus ist derzeit Sewerodonesk, die letzte grössere Stadt in der östlichen Region Luhansk, die sich nicht in russischer Hand befindet. Russland kontrolliert etwa 70 Prozent der Stadt. Ein regionaler Beamter sagte am Donnerstag, dass ukrainische Truppen russische Soldaten in heftige Strassenkämpfe verwickelt und aus einigen Strassen zurückgedrängt hätten. Seit Tagen wird der Fall der Stadt vorausgesagt, doch die ukrainischen Verbände halten noch immer 20 Prozent des Stadtgebietes.
«Zermürbungskrieg»
«Wir müssen uns auf einen langen Zeitraum einstellen, denn wir sehen, dass dieser Krieg zu einem Zermürbungskrieg geworden ist, in dem die Ukrainer einen hohen Preis dafür zahlen, dass sie ihr Land auf dem Schlachtfeld verteidigen, aber wir sehen auch, dass Russland hohe Verluste hinnehmen muss.»
Dies sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg nach einem Treffen mit Joe Biden im Weissen Haus. Der Westen müsse sich «auf eine lange Zeitspanne vorbereiten».
«Unsere Verantwortung ist es, die Ukraine zu unterstützen. Die meisten Kriege – und höchstwahrscheinlich auch dieser – werden irgendwann am Verhandlungstisch enden, aber wir wissen, dass das, was am Verhandlungstisch passiert, sehr eng mit der Situation vor Ort, auf dem Schlachtfeld, zusammenhängt, also müssen wir den Ukrainern helfen, sie unterstützen, damit sie das bestmögliche Ergebnis in diesem Konflikt erzielen können.»
Getreideschiffe können auslaufen, sagt Russland
Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums können Getreideschiffe die ukrainischen Häfen im Schwarzen Meer über «humanitäre Korridore» verlassen. Russland sei bereit, ihre Sicherheit zu garantieren, schreibt die Nachrichtenagentur Interfax.
Die Häfen sind seit Beginn der Invasion im Februar für Exporte weitgehend blockiert. Die Ukraine ist ein wichtiger Getreideexporteur, und die Blockade der Häfen, hat die Lebensmittelpreise weltweit in die Höhe schnellen lassen. Wann die ersten Schiffe die ukrainischen Häfen am Schwarzen und am Asowschen Meer verlassen können, ist unklar.
Millionen von Tonnen Getreide sind in der Ukraine blockiert. Die Uno hat davor gewarnt, dass die russische Seeblockade des Landes zu Hungersnöten in der ganzen Welt führen könnte. Putin hat vorgeschlagen, dass das Getreide freigegeben werden könnte, wenn die westlichen Länder ihre Sanktionen gegen Russland aufheben würden.
Opec erhöht Produktion
Die Sanktionen haben auch zu einem Rückgang der russischen Ölexporte geführt, was eine Neuordnung des Weltenergiemarktes zur Folge hatte. Am Donnerstag einigte sich die «Opec Plus», eine Gruppe ölproduzierender Länder unter der Führung Saudi-Arabiens, darauf, die Fördermengen im Juli und August stärker als geplant zu erhöhen. Die Einigung erfolgte nach monatelangem Lobbying durch das Weisse Haus und wenige Tage, nachdem die Europäische Union beschlossen hatte, die meisten Importe von russischem Öl zu verbieten.
Gerüchte
«Putin ist an Krebs erkrankt und wurde im April operiert», heisst es in einem von «Newsweek» veröffentlichten angeblichen US-Geheimdienstbericht. Das amerikanische Wochenmagazin zitiert drei Geheimdienstquellen. Zudem heisst es, der russische Staatschef sei im März einem Attentatsversuch entgangen.
Andere Medien übernahmen diese Meldung nicht.
Botschafter kehren zurück
In seiner abendlichen Ansprache erklärte der ukrainische Präsident Selenskyj am Donnerstag, dass 50 ausländische Botschaften in Kiew «ihre Tätigkeit in vollem Umfang» wieder aufgenommen hätten. «Dies ist nicht nur in der Praxis – für die Arbeit der Diplomaten – sehr wichtig, sondern auch auf symbolischer Ebene», sagte Selenskyj. «Jede neue Botschaft, die in unsere Hauptstadt zurückkehrt, ist ein Zeugnis für den Glauben an unseren Sieg.»
Wird laufend aktualisiert
Journal 21