Die Ukraine ist in jüngster Zeit in die Defensive gedrängt worden. Das Land braucht dringend weitere Waffen. Der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin leitet heute, Mittwoch, eine Sitzung, an der fast 50 Länder teilnehmen und an der das weitere Vorgehen beraten wird. Ukrainische Kreise befürchten, dass das westliche Engagement nachlassen könnte.
Die nächsten Tage könnten «den langfristigen Ausgang des Krieges» in der Ukraine bestimmen. Dieser Ansicht sind, nach Angaben von CNN, westliche Geheimdienstkreise und Militäroffiziere.
Die westlichen Regierungen sind zu einer schwierigen Entscheidung gezwungen. Sollen sie die Ukraine noch intensiver unterstützen und vor allem mehr Waffen liefern – auf Kosten der eigenen Wirtschaft?
Der Westen hat eingesehen, dass der bisherige Umfang der westlichen Waffenlieferungen nicht reicht, um die russischen Streitkräfte zurückzudrängen. Die Russen setzen flächendeckend ihr altes sowjetisches Material ein und legen weite Landstriche in Schutt und Asche. Sie werfen Tausende Soldaten in den Kampf; Präsident Selenskyj spricht von «Kanonenfutter».
Werden die Waffen reichen?
Laut hochrangigen von CNN zitierten amerikanischen Verteidigungsbeamten erwarten die USA weitere Ankündigungen von Waffenlieferungen. Möglicherweise werden Emmanuel Macron, Olaf Scholz und Mario Draghi gemeinsam nach Kiew reisen, um den Ukrainern ihre Solidarität zu bekunden und Waffenlieferungen anzukündigen. Doch werden diese reichen?
Ukrainische Regierungskreise fordern täglich die schnelle Lieferung schwerer Waffen. «Oder wollen Sie, dass wir kapitulieren? Sagen Sie es uns!», sagte ein enger Berater von Präsident Selenskyj im Gespräch mit amerikanischen und europäischen Beamten. Die Ukraine ist enttäuscht darüber, dass die versprochenen modernen schweren Waffen nur zögerlich in der Ukraine und auf dem Schlachtfeld eintreffen.
«Ich glaube, dass wir bald an den Punkt kommen, an dem die eine oder die andere Seite erfolgreich sein wird», sagte ein hoher Nato-Beamter.
Gelingt den Russen die Überquerung des Donez-Flusses?
Die grosse Frage ist im Moment, ob es den Russen nach der offenbar bevorstehenden Eroberung von Sewerodonezk gelingen wird, den Donez-Fluss zu überqueren, die Zwillingsstadt Lyssytschansk zu erobern und weiter Richtung Slowjansk, Kramatorsk und Bachmut vorzustossen. Von hier aus könnten die russischen Streitkräfte dann tiefer südlich in die Provinz Donezk vordringen.
Gelingt es den Ukrainern, die Russen bei diesem Vorstoss aufzuhalten, werde das für den weiteren Verlauf des Krieges wichtig sein, erklärten Militärexperten. Dann wird sich wohl ein Abnützungskrieg entwickeln, und die Frage ist: Wie lange können einerseits die Russen und andererseits die Ukrainer durchhalten?
Über wie viele Reserven verfügen die Russen noch?
Westliche Militärexperten sind sich noch immer uneinig, über wie viele Reserven die Russen verfügen. Die einen weisen darauf hin, dass die Russen ein Drittel ihrer Soldaten verloren haben und nur noch über wenige modernen Waffen verfügen. Andere sind der Meinung, dass die russsische Armee noch mindestens zwei, drei Wochen genügend Soldaten und Waffen haben, um ostukrainische Landstriche unter Dauerbeschuss zu nehmen.
Im Moment sieht es nicht gut aus für die Ukrainer. Die Russen nehmen ostukrainische Städte und Landstriche unter ein Trommelfeuer und stossen langsam vor. Doch russische Fortschritte seien keineswegs eine «ausgemachte Sache», sagt ein hoher Beamter der Regierung Biden. Russland könnte es schwerfallen, sagt er, ohne eine generelle Mobilmachung entscheidende Fortschritte zu erzielen. Nicht nur der Ukraine, auch Russland würden da und dort die Waffen ausgehen.
Vorerst abgewehrt
Russischen Soldaten ist es am Dienstag nicht gelungen, die umkämpfte Stadt Sewerodonezk endgültig zu stürmen. Nach Angaben des Generalstabs der ukrainischen Armee ist es den ukrainischen Streitkräften gelungen, einen russischen Grossangriff abzuwehren. Die Stadt würde aber weiterhin pausenlos mit Mörsern, Artillerie und Mehrfachraketenwerfern beschossen.
Aufruf zur Kapitulation
In den Bunkern des Azot-Chemiewerks in Sewerodonezk haben sich auch ukrainische Soldaten verschanzt. Die russische Armee hat ihnen freies Geleit zugesichert, wenn sie heute, Mittwoch, ihre Waffen freiwillig niederlegen.
«Schmerzhafte Verluste»
Die ukrainische Armee erleidet zur Zeit bei den Kämpfen im ostukrainischen Donbass nach Angaben von Präsident Wolodimir Selenskyj «schmerzhafte Verluste». Das Land brauche dringend moderne Raketenabwehrsysteme. Die Verteidigung des Donbass sei von entscheidender Bedeutung, da dies «der Schlüssel zur Entscheidung darüber sein wird, wer in den kommenden Wochen die Oberhand gewinnen wird», sagte er.
«Je mehr Verluste der Feind dort erleidet, desto weniger Kraft wird er haben, seine Aggression fortzusetzen», sagte Selenskyj. Die ukrainischen Verluste sind «leider schmerzhaft – aber wir müssen durchhalten. Es ist unser Staat, unser Land.»
«Humanitärer Korridor» in Sewerodonezk?
Heute, Mittwoch, soll versucht werden, über einen «humanitären Korridor» Zivilpersonen aus der hart umkämpften Stadt Sewerodonezk zu evakuieren. Mehrere hundert Einwohner der Stadt haben sich im Azot-Chemiewerk der Stadt verschanzt. Russland hat sich bereit erklärt, der Zivilbevölkerung zu erlauben, die Stadt zu verlassen. Dies erinnert an Mariupol. Auch im April und Mai hatte sich Russland mehrmals bereit erklärt, humanitäre Korridore in Mariupol zu errichten. Ausreisewillige wurden jedoch immer wieder beschossen.
«Starker Widerstand»
Es sei «höchst unwahrscheinlich, dass Russland mit einem solch starken Widerstand» beim Kampf um Sewerodonezk gerechnet habe, erklärt das britische Verteidigungsministerium am Mittwoch. Noch immer ist es den russischen Truppen nicht gelungen, die Stadt vollständig einzunehmen. Am Montag war die letzte der drei Brücken (zwei Strassenbrücken und eine Eisenbahnbrücke), die nach Sewerodonezk führt, gesprengt worden. Damit ist die Stadt eingekesselt.
Beobachter sind sich uneinig, wer die letzte Brücke gesprengt haben könnte. Einerseits nützt die Sprengung den Russen, da Sewerodonezk jetzt eingekesselt ist. Anderseits hindert sie russische Streitkräfte daran, nach einer Eroberung von Sewerodonezk über den Donez-Fluss zu setzen und die Zwillingsstadt Lyssytschansk anzugreifen.
(Wird laufend aktualisiert)
Journal 21