„My gun is designed to kill bad people who want to harm me or my family. My gun is a good thing.“ So lautet einer der vielen Leserkommentare zu einem Artikel in der Washington Post, in dem über die Rede des Präsidenten Barack Obama vor der Trauergemeinde in Newtown berichtet wird.
Waffen statt Politik
Es kann kein Zweifel bestehen, dass eine Gesellschaft, in der sich die Leute in dieser Absicht bewaffnen, in ihrer Mehrheit nicht wirklich an politische Mittel der Konfliktbewältigung glaubt. Da herrscht die Meinung , dass Polizei und Militär nicht ausreichen, dem Recht zur Geltung zu verhelfen und Bürgerinnen und Bürger zu schützen.
Das individuelle Wettrüsten charakterisiert nicht nur die über vier Millionen Mitglieder der National Rifle Association NRA, sondern ist offenbar weitherum akzeptiert. Im letzten April ergab eine Umfrage dass 68 Prozent der Amerikaner die NRA in positivem Licht sehen. (Ignaz Staub, Die Wölfe im Schafspelz)
Das Böse kommt immer von aussen
In einer der zahlreichen TV-Reportagen, in denen in den vergangenen Tagen Amerikaner und Amerikanerinnen beim Kauf von Schusswaffen zu ihrer Motivation befragt werden, antwortet eine Frau: „Ja sicher, seit 9/11 haben wir mehr Angst, wir bewaffnen uns besser.“ Mit Rationalität hat das – wie das Beispiel zeigt - sicher nichts zu tun. Das Phänomen ist in hohem Mass neurotisch.
Woher kommt die notorische Wagenburg-Mentalität der Waffenbesitzer? Offenbar weit verbeitet ist die Auffassung, man sei das Opfer böser Mächte. Zuerst die Japaner, dann die Vietnamesen, die Russen und schliesslich noch die Islamisten. In jedem Fall ist das Böse externalisiert: Es wird draussen gesucht und trifft einen von aussen, und sei es nur in Gestalt des immer wieder zitierten „burglar“, des Einbrechers, der vermeintlich mit der sicheren Absicht kommt, eine friedliche Familie umzubringen.
Erbsünden und alte Schuld
Sigmund Freud ging davon aus, dass kollektive Neurosen von Generation zu Generation weitergetragen werden können: „Es kann niemand entgangen sein, dass wir überall die Annahme einer Massenpsyche zugrunde legen, in welcher sich die seelischen Vorgänge vollziehen wie im Seelenleben eines einzelnen. Wir lassen vor allem das Schuldbewusstsein wegen einer Tat über viele Jahrtausende fortleben und in Generationen wirksam bleiben, welche von dieser Tat nichts wissen konnten.“ (Über das Unbehagen in der Kultur)
Unbewusste Vorgänge, die quasi über Generationen weitergegeben werden können? Wie auch immer man zu dieser These stehen will, eines scheint einleuchtend: Die Projektionen einer äusseren Bedrohung halten sich umso hartnäckiger, wenn mit ihnen starke Schuldgefühle verdeckt werden müssen. Und es wäre ein Wunder, wenn solche Schuldgefühle nicht in der kollektiven amerikanischen Psyche wirksam wären.
Schlicht und einfach Landraub
Die weissen amerikanischen Siedler haben ihr Territorium von einem kleinen Streifen an der Ostküste über den ganzen Kontinent hinweg nach Westen ausgedehnt. Sie haben dabei über die Dauer von weit mehr als einem Jahrhundert einheimische indianische Völker vertrieben und ausgerottet. Sie haben darüber hinaus mexikanische Gebiete wie Kalifornien, Arizona, New Mexiko und Texas gewaltsam an sich gerissen. Es war schlicht und einfach Landraub. Washington war oft nicht einmal bemüht, die militärische Eroberung durch politisch-diplomatisches Theater zu kaschieren.
Die Vertreibung und Ausrottung der eingeborenen Ethnien begann - wenn man einmal historische Ereignisse symbolisch als Eckdaten setzen will - mit einem Aufstand in Virginia 1622 und endete kurz vor Weihnachten 1890 mit dem Massaker an Dakota-Indianern bei Wounded Knee Creek. (Die spanische Conquista im Südwesten Nordamerikas ist eine andere Geschichte)
Kriminelle Energie
Der amerikanische Anthropologe Peter Nabokov hat Zeugenaussagen indianischer Stammesführer, Protokolle von Kongress-Hearings, Autobiographien und andere Dokumente zusammengestellt. (Native American Testimony. New York 1978). Man denkt, das Jahrhundert-Verbrechen der sogenannten „indian wars“ sei hinlänglich bekannt, doch die Lektüre dieses Buches kann einen zum Verzweifeln bringen. Zum Verzweifeln an der Natur des Menschen.
Apachen, Dakota, Sioux, Mohawk, Delaware, Shawnees, Navajo und viele andere berichten in allen Einzelheiten von Landraub, Vertreibung, ethnischen Säuberungen („indian hunts“), systematischen Enteignungen auf der Grundlage von gefälschten Dokumenten und schliesslich von Strategien der verbrannten Erde und Massenmorden. Der kriminellen Energie der Agenten des grossen Weissen Vaters in Washington waren keine Grenzen gesetzt.
Eine Geschichte der Waffengewalt
Corn Tassel, ein Vertreter der Cherokee-Nation, gab im Juli 1785 gegenüber Delegierten einer Friedenskommission Folgendes zu Protokoll:
„Ich frage euch, mit welcher Autorität oder welchem Recht ihr diese grenzenlose Forderung aufstellt, dass wir das gesamte Land zwischen unsern Dörfern und eueren Siedlungen hergeben sollen, damit Friede zwischen uns herrscht?... Wir wollen mit euch in Frieden leben. Wir streiten nicht mit euch, wenn ihr gelegentlich einen Büffel oder einen Bär oder ein Reh tötet, weil ihr etwas zu essen braucht. Aber ihr geht zu weit. Ihr tötet unser gesamtes Wild, ihr habt ein Geschäft daraus gemacht. Unsere jungen Leute empfinden das als Unrecht und die Folge ist Krieg und Blutvergiessen…. Der grosse Gott der Natur hat uns in verschiedene Situationen gestellt. Es ist wahr, dass er euch mit viel grösseren Vorteilen ausgestattet hat; aber er hat uns nicht geschaffen, um euere Sklaven zu sein.“ (Nabokov S.122, 123)
Sicher war es eine lange Abfolge von verschiedenen Kriegen mit ständig wechselnden Allianzen und komplexen Faktoren. Die Historiker sind sich einig, dass wahrscheinlich mehr Indianer von Indianern getötet wurden als von der US-Kavallerie. Und sicher waren es Kämpfe, in denen auch amerikanische Siedlerfamilien brutal ermordet wurden, obwohl sie sich keiner Schuld bewusst waren.
Eine Art "Erbsünde"
Einzelne weisse Politiker in Washington hörten auf ihr Gewissen und versuchten, den Landraub und die gewaltsamen Vertreibungen zu stoppen, doch die Gier nach dem Land und seinen Bodenschätzen gewann die Oberhand. Es war ein Konflikt, der – auf beiden Seiten – mit entsetzlicher Grausamkeit ausgetragen wurde, wobei von Anfang an klar war, dass weder die Büffel jagenden kriegerischen Prärie-Völker noch die sesshaften Pueblo-Ethnien des Südwestens die geringste Chance hatten gegen die weissen Siedler mit ihrer waffentechnischen und logistischen Überlegenheit.
Wollte man Politik religiös beurteilen – was in den USA nicht ungewöhnlich ist - dann wäre die Vertreibung und Ausrottung der indianischen Völker eine Art „Erbsünde“ , die im Unterbewusstsein wirkt und den stets von neuem den Zwang zur Bewaffnung verursacht. Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend immer Böses muss gebären, heisst es bei Schiller.
Das Recht des Stärkeren
Ist es erstaunlich, dass eine Nation, die sich unter den beschriebenen Umständen geformt hat, das Recht auf Waffentragen in der Verfassung festschreibt?
So ergibt sich das Paradox, dass die demokratischen Bürgerrechte und das Recht des Stärkeren – zwei Konzepte, die sich ausschliessen – in der Geschichte der USA nie als Widerspruch angesehen wurden. Der Waffen-Fetischismus und die Gewohnheit, politische Probleme durch Anwendung von Gewalt zu lösen, sind zwei Seiten derselben Münze.
Dabei war der politische Diskurs traditionell stark geprägt von der religiösen Vorstellung eines totalen Kampfes zwischen den Auserwählten und dem Bösen. Im 19.Jahrhundert herrschte die weitgehend akzeptierte Vorstellung, die USA seien von der Vorsehung dazu bestimmt, sich über den Kontinent auszudehnen und anderen Völkern Demokratie und Freiheit zu bringen. Dies sei ihre Bestimmung: ihr „manifest destiny“. Mit diesem göttlichen Diplom liess sich in der Folge alles rechtfertigen: der Abwurf von Atombomben über japanischen Grossstädten, die Flächenbombardierungen in Vietnam, die Rolle als Weltpolizist im Kampf gegen kommunistische Ideen. Mit dem Terroranschlag vom 9/11 war das Böse erneut einfach zu definieren. Präsident George W. Bush erkannte eine „Achse des Bösen“..
Wer weiss noch, wofür wir kämpfen?
Der präventive Angriff und das willkürliche Töten von vermutlichen Gegnern seien den USA zur Norm geworden, kritisiert Amnesty International. In den letzten Jahren vergeht im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan keine Woche ohne Drohnenangriffe. Dass dabei nicht nur einzelne Häuser und ihre Bewohner getroffen, sondern oft halbe Dörfer zerstört werden, wird in Washington als Kollateralschaden verbucht. Das sinnlose Gemetzel, das den Hass auf die USA in den betroffenen Regionen ins Grenzenlose steigert, ist der Öffentlichkeit fast verborgen geblieben. In westlichen Fernsehsendern existiert das Thema fast nicht.
„Wer weiss eigentlich noch, warum wir in Afghanistan kämpfen?“ fragte der Kolumnist James Caroll an Weihnachten vor zwei Jahren in der Herald Tribune. Amerika bilde sich ein, es sei frei von den dunklen Impulsen primitiver Völker. Das Gegenteil sei der Fall: „We are the dogs of war.“ .