Einige Leser erinnern sich vielleicht, als vor einigen Jahren das Manna touristischer Globalisierung auch das Goms zu beglücken versprach. Nicht nur Andermatt sollte das Gelobte Land werden für den Abzug (von Millionen Dollars) aus Ägypten. Auch ännet der Furka hatte sich ein Geld-Pharao gemeldet, bereit, mit Hotels, Wellness-Zentren, Skiliften, Sesselbahnen den Fremdenverkehr in Fahrt bringen.
Der Füllhorn-Spender kam diesmal aus England, und wie beim Ägypter Samih Sawiris wollte man auch Bruno Prior nicht genau in die Bücher schauen, woher das Geld seiner Firma – ‚Summerleaze‘ – eigentlich kam (Kiesgruben, Abfallhalden-Management). Hauptsache war, dass er fünfzig Millionen Franken auf dem ‚Erner Galen‘ investieren wollte. Das war generös, denn das Inserat in der NZZ im März 2007 („Ein Stück Wallis zu vergeben“) hatte gesagt, dass die Alpe Erner Galen nur einen Franken kosten würde. Natürlich stand dann noch das Kleingedruckte da: Der glückliche Gewinner würde ein ‚Resort‘ entwickeln, ähnlich jenem drüben im Reuss-Tal, wo sich der düstere Militärübungsplatz Andermatt in einen Lustpark für Schneehäschen verwandeln sollte.
Nach der Flut kommt die Ebbe
Doch wie es mit Globalisierungswellen eben so ist – sie schwappen herbei, spülen Schaum bis in die hintersten Täler hinein; dann kommt die Ebbe, das Wasser geht zurück, und es bleiben nur Treibsand und Trümmer. Die Pfundkrise und der starke Schweizer Franken würden allein eine Million Dollars kosten, rechtfertigte Bruno Prior im Jahr 2011 seinen Rückzug aus dem Deal. Summerleaze blieb zwar Besitzer dieses Stücks Wallis, aber in der Bilanz wurde dessen Wert heruntergeschrieben – vermutlich auf einen Franken.
Dem initiativen Gemeinderat von Ernen-Mühlebach blieb noch weniger in der Kasse. Er war so niedergeschlagen über den Fehlschlag, dass er die fällige Konzession für den bestehenden Sessel-Lift auf die ‚Chäserstatt‘ und den Skilift auf den Galen hinauf gar nicht mehr einholte. Noch im gleichen Sommer wurden die Kabel eingerollt, die Masten aufgeschraubt und alles zum Alteisen geworfen. Es war weniger wert als die Kosten für Entsorgung und Helikopter-Transport.
Strom auf der Alp
Nur einen hat‘s gefreut, Jonas Imhof. Denn die Alp-Korporation verlängerte, statt die Stromzufuhr bei der Bergstation des Skilifts ebenfalls zu kappen, bis zum Kuhstall auf der ‚Schäre‘. Nun hat Jonas, seit sieben Jahre für die Sömmerung der Viehherde auf dem Galen verantwortlich, Licht, Heizung, einen Kochherd und einen Anschluss für seinen Laptop.
Ich teilte Jonas‘ Freude. Sieben Stunden war ich an diesem hochsommerlichen 1. August unterwegs, von Mühlebach über die Chäserstatt zum Galen hinauf, über dessen Rücken bis zum Steinmännli, vor dem Chummihorn Abstieg ins wunderschöne Rappental und dann über die Alpe Frid zurück nach Ernen. Ich begegnete der Herde von Jonas mit ihren 143 Rindern, entdeckte Gruppen von Schafen wie weiss-schwarze Punkte zwischen Felsgestein und grossen Schneefeldern weiden; und sah nur drei Wanderer.
Der einzige Wellness-Bereich lag ein paar Meter vom Stall entfernt, wo Jonas und seine Freundin Stefanie unterhalb einer grossen Quelle aus Steinen und Grasbüscheln ein kleines Bassin gestaut hatten. Dort können sie auch ungeniert baden, da sie ja praktisch die einzigen Gäste sind. Und sie geniessen die angenehmen Seiten technischer Innovation. Da der breite Rücken des Erner Galens auf 2400 Meter Höhe liegt, hoch über dem Rhônetal, haben sie auch kein Problem mit dem WiFi-Anschluss. Den ‚App‘ für die automatische Identifikation der Viertausender um ihn herum hat Jonas zwar noch nicht heruntergeladen, sodass er nicht sicher ist, welches nun das Nadelhorn ist, und welches die Lenzspitze.
Schlagzeug statt Muhen
Als ich mich den Stallungen näherte, hörte ich kein Muhen und Blöken, sondern – Schlagzeug. Jonas stammt aus meinem Heimatdorf Lax, aber er lebt in Bern, als Musiker. „Im Sommer habe ich hier viel Zeit; die Rinder müssen ja nicht gemolken werden. Und so übe ich eben“, sagte er mir, nachdem der Hirtenhund angeschlagen hatte und er vor die Stalltür getreten war. „Ich organisiere von hier aus meine Saison bei verschiedenen Bands. Und wir planen unsere Reisen. Bisher war es meist Afrika. Letztes Jahr arbeiteten wir auf einer Farm in Kenia. Jetzt wollen wir unbedingt mal nach Indien“.
Warum gerade Indien? „Stefanie ist Yoga-Lehrerin. Und sie möchte sich dort ein bisschen weiterbilden“. Ob sie denn auch auf der Alp sei, fragte ich, nachdem ich mich vergeblich nach einer Yoga-Matte umgesehen hatte. Natürlich, denn allein könnte er die Elektrozäune ja nicht verschieben und neu ziehen; und zum „Firefare“ – Weitertreiben – der 143 Stück Vieh. „Aber jetzt gerade ist Stefanie in einem der Ställe weiter hinten und übt Yoga. Am nächsten Wochenende macht sie einen Workshop. Fünf ihrer Schüler kommen aus Bern angereist“.
Nach dem Investor der Wolf
„Die Freuden der Globalisierung!“, dachte ich später voller Neid. Früher musste man alles abbrechen, wenn man aussteigen und alternativ leben wollte. Entweder man war voll im gesellschaftlichen Getriebe eingespannt, oder man verschwand und war quasi verschollen. Heute können Jonas und Stefanie ihr Aussteiger-Leben pflegen, gestört nur von den vier Wanderern pro Tag, „wenn’s hochkommt“. Dennoch bleiben sie vernetzt und können weiter an ihrer Zukunft basteln. Sie zeigten‘s auch: Statt der Schweizerflagge flatterten am Nationalfeiertag tibetische Wimpel ihre Gebete in den Wind.
Für die Schafhirtin, die etwas weiter oben haust, galt dies allerdings nur bedingt. Denn nachdem der Engländer Bruno Prior seinen Schwanz eingezogen hatte, meldete sich ein neuer Gast von jenseits der Grenzen: der Wolf. Auch er ist ein Nutzniesser der neuen ‚grenzüberschreitenden Personenfreizügigkeit‘. Ein Wolfspärchen, aus Italien zugewandert, ist durch das Goms ins bündnerische Calanca-Tal gezogen und hat dort eine Familie gegründet. Zwei der Jungtiere, so die NZZ, haben den Weg zurück angetreten. Ende Mai drangen sie am Dorfrand von Münster im Obergoms in einen Pferch und rissen siebzehn Schafe.
Eingezäunte Weissnasen
Die Angst vor dem Wolf hat auch auf den Erner Galen übergegriffen. Neunhundert Schafe weiden diesen Sommer dort. Die Alp-Korporation stellte einen ausgebildeten Schafhirten an, mit einem ebenfalls guttrainierten Herdenhund. Zwei Wochen später suchten beide wieder das Weite. Der Hirt war nicht imstande, die Weissnasenschafe (im Gegensatz zu den Schwarznasen) zu einer kompakten Herde zusammenzutreiben.
An hirtenfreies Äsen gewohnt, verzettelten sie sich ständig und machten jeden Schutz illusorisch. Nun ist die Hirtin vom Vorjahr eingesprungen, und die Weissnasen sind eingezäunt, der Drahtzaun unter Strom wie jener der Rinder. Und wie Jonas und Stefanie selber. Sie Alle beziehen die 3000 Volt Spannung vom alten Skilift, der nur noch aus einem Transformator besteht.