„When the facts change, I change my mind – what do you do, Sir?“ Diese scharfsinnige Sentenz hielt der berühmte britische Ökonom und Politiker John Maynard Keynes einem Kritiker entgegen, der ihm vorgeworfen hatte, von früheren finanzpolitischen Ansichten abgerückt zu sein. Auf Keynes’ Diktum könnten sich auch jene Politiker berufen, die als Folge des Katastrophen-Fanals in Japan innerhalb weniger Tage reagiert und ihr bisheriges Ja zu einer längerfristigen Fortsetzung der zivilen Kernkraftnutzung spektakulär in Frage gestellt haben.
Alles nur Wahltaktik?
Die schwarz-gelbe Koalition in Deutschland hat unter Führung der gelernten Physikerin Angela Merkel entschieden, die im vergangenen Herbst beschlossene Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke in Deutschland vorläufig aufzuheben und die sieben ältesten AKW’s sofort abzuschalten. Nicht ganz so drastisch - schliesslich ist er ja kein Regierungschef – reagierte der schweizerische FDP-Chef Pelli. Er kündigte als Konsequenz aus dem Nuklear-Desaster in Japan ein Umdenken seiner Partei in der Atomkraft-Frage an. „Die Ereignisse in Japan verlangen eine Neuorientierung“, erklärte Pelli in einem Interview mit der NZZ. Er betonte aber, dies bedeute noch nicht, dass seine Partei nun den Ausstieg aus der Kernenergie vorschlage.
Solche Kurskorrekturen sind von manchen Kritikern sofort als wahltaktische Anpassungsmanöver vor dem Hintergrund der Japan-Krise taxiert worden. Dass die parteipolitische Konkurrenz dies in anklagender Absicht behauptet, gehört zu ihrem Geschäft. Die rechthaberische Schärfe, mit der etwa der SPD-Vorsitzende Gabriel die Kanzlerin wegen ihres atompolitischen Schwenks attackierte, lies indes keinerlei Zweifel offen, dass es ihm bei diesem Thema nur um Wahlkampf und nicht um Sachpolitik geht. Er musste sich im Bundestag denn auch fragen lassen, weshalb seinerzeit während der siebenjährigen rot-grünen Regierung die alten AKW’s nicht kurzerhand ebenfalls abgeschaltet worden seien, wenn SPD und Grüne die damit verbundenen Risiken als derart unerträglich einstuften, wie sie das heute täten.
Wie dem auch sei – es kann nicht überzeugen, Politiker und Meinungsführer reflexartig als Opportunisten und Heuchler abzukanzlen, nur weil sie bei einem umstrittenen Thema, zu dem neue Fakten und Situationen ins Bewusstsein dringen, umgehend reagierten und sich zum Überdenken bisheriger Standpunkte entscheiden. Auch in der Öffentlichkeit ist ja die Stimmung gegenüber der Atomenergie wegen der Katastrophe in den japanischen AKW’s sehr viel skeptischer und unsicherer geworden. Weshalb sollten Politiker solchen Veränderungen nicht durch pragmatische Anpassungen Rechnung tragen, ohne gleich die Position der absoluten Kernkraftgegner zu übernehmen? Wie würde es von Seiten der Kritiker tönen, wenn Merkel – oder Pelli – gar nicht auf das japanische Menetekel reagiert hätten?
Die Regierung muss nicht alles sagen, was sie weiss
Der frühere Bundeskanzler Schmidt, inzwischen weit abgehoben vom schrillen Parteiengezänk und von kurzatmiger Besserwisserei, hat in einem Interview mit der „Zeit“ zu der japanischen Tragödie sogar das Recht einer Regierung betont, in gewissen Katastrophensituationen nicht immer mit der ganzen Wahrheit herauszurücken. Es sei „notwendig, vermeidbare Paniken zu vermeiden“. Deshalb sei die Regierung nicht gezwungen, alles zu sagen, was sie weiss. „Sie ist nur gezwungen, dass das, was sie sagt, der Wahrheit entspricht.“ Aber weiss die Regierung, die plötzlich mit einer derartigen Dreifach-Katastrophe konfrontiert ist, jederzeit über die Wahrheit Bescheid?
Und auf die Frage, ob womöglich alles wieder gut werde und die Kernkraft auf lange Sicht „ohne grösseren Imageschaden“ aus der Sache herauskomme, antwortet Schmidt mit schöner Offenheit: „Das weiss ich nicht.“ Und fügt hinzu, das Vertrauen des ehemaligen Politikers Schmidt in die Spitzen der Wissenschaft sei durchaus begrenzt. Solche skeptische Offenheit wünschte man sich eigentlich auf allen Seiten der vielschichtigen Atomdebatte – auch im Lager der AKW-Gegner und Befürworter.
“Das Entsorgungsproblem ist gelöst“
Schmidts eigenes Blatt, die „Zeit“ hält sich freilich nicht an dieses aufklärerische Rezept – jedenfalls nicht auf der Titelseite. „Keine Lügen mehr!“ heisst es marktschreierisch in der knallroten Überschrift. Der GAU von Fukushima und das Leid der Menschen in Japan hätten bisher verkündete Behauptungen – wie „Atomausstieg ist schlecht“ „Laufzeitverlängerung ist gut“, „unsere Atomkraftwerke sind sicher“ – in Frage gestellt. Einverstanden – aber waren das einfach Lügen? Kann man so eine ernsthafte Debatte führen, wenn Argumente der Gegenseite kurzerhand als Lügen abgetan werden?
Das ist ebenso wenig glaubwürdig wie die Tendenz auf der andern Seite, die Atomausstiegs-Befürworter pauschal als Sektierer und weltfremde Traumtänzer zu karikieren. In diese Richtung polemisiert etwa die „Weltwoche“ – getreu ihrem schon während der Finanzkrise bewährten Motto „La crise n’existe pas!“ Ohne halbwegs differenzierte Fakten und ohne Hinweis darauf, dass ein offiziell bewilligtes. dauerhaftes Endlager für hochradioaktive AKW-Abfälle bisher noch nicht existiert, wird munter behauptet: „Das Entsorgungsproblem ist gelöst.“ Um dann gleich im nächsten Satz hinzuzufügen: „Die Entsorgung ist damit nur noch ein politisches Problem.“ Alles andere als eine stringente Argumentation!
Geschwätz von gestern
Auch beim brandaktuellen Libyen-Thema machen manche voreiligen Rechthaber-Kommentatoren keine gute Figur. Einige unter ihnen gossen bis vor kurzem Hohn und Spott über die Westmächte im Allgemeinen und Präsident Obama im Besonderen, weil diese sich nicht subito zu einer militärischen Luftaktion entschliessen konnten, um den Vormarsch der Ghadhafi-Truppen gegen die Aufständischen zu stoppen. Inzwischen gehören solche Urteile zum Geschwätz von gestern.
Besonderes Pech hatte in diesem Zusammenhang übrigens das „Wall Street Journal“, das in seiner am Freitag erscheinenden Wochenendausgabe einen gross aufgemachten Kommentar mit der Überschrift „Impotent America“ veröffentlichte. Das böse Verdikt bezieht sich explizit auf Obamas angebliche Weigerung, den libyschen Rebellen zu Hilfe zu eilen. Man darf gespannt sein, ob das Blatt sich in den nächsten Tagen die Weisheit von John Manard Keynes zu Herzen nimmt: „When the facts change, I change my mind.“
Gerade bei aktuellen Themen, bei denen die Dinge noch im Fluss sind – wie der japanischen Atomkatastrophe oder dem Machtkampf in Libyen – kann es nur nützlich sein, die Warnung des französischen Denkers Alexis de Tocqueville im Hinterkopf zu speichern: „Man darf das Ende eines Aktes nicht mit dem Ende des Stückes verwechseln.“