Es ist kein Geheimnis mehr, dass Richterinnen und Richter des US Supreme Court von reichen Gönnern wiederholt Gefälligkeiten angenommen haben. Falls nicht illegal, so sind solche Transaktionen zumindest ethisch fragwürdig. Dies umso eher, als Involvierte jeweils allein entscheiden, wieviel sie offenlegen wollen.
Dass Geld in der amerikanischen Politik eine wichtige, wenn nicht gar entscheidende Rolle spielt, ist sattsam bekannt. Dass auch die US-Justiz nicht davor gefeit ist, zwar nicht direkt gekauft, aber durch den Einsatz von Ressourcen an richtiger Stelle – Stichwort Klassenjustiz – zumindest beeinflusst zu werden, ist ebenfalls Allgemeinwissen. Dass sich aber Richterinnen und Richter des Supreme Court in Washington DC von befreundeten Milliardären grosszügig beschenken lassen, ist jedoch eher ungewohnt.
Der jüngste Fall betrifft den konservativen Richter Clarence Thomas, der seit 1991 auf Lebzeiten im Amt ist und mit schöner Regelmässigkeit im Sinne des republikanischen Establishments zu urteilen pflegt. Ein Nebenaspekt ist der Umstand, dass seine Frau Virginia «Ginni» Thomas zu jenen Prominenten gehört, die Donald Trumps Verschwörungserzählung von der Wahllüge vorbehaltlos unterstützen und mit dem Weissen Haus diesbezüglich auch in Kontakt standen. Dennoch hielt der Richter es nicht für nötig, in den Ausstand zu treten, als vor Gericht ein Fall verhandelt wurde, der sich um die Präsidentschaftswahl 2020 und die Rolle Trumps drehte.
Erstmals und mit Verspätung hat Clarence Thomas nun Ende August eingeräumt, dass er es in der Vergangenheit mit der Offenlegung von Gefälligkeiten und Geschenken nicht immer so genau genommen hat – absolut unabsichtlich, wie er und sein Anwalt betonen, der jegliche Kritik am Verhalten seines Mandanten von liberalen Watchdog-Gruppen und Demokraten im Kongress als «lächerlich und gefährlich» sowie als lediglich politisch motiviert abtut.
Um was für Gefälligkeiten aber handelt es sich im Fall von Clarence Thomas? Der Richter ist im Privatjet des texanischen Milliardärs Harlan Crow für neuntägige Luxusferien nach Indonesien geflogen, was ihn sonst mehr als eine halbe Million Dollar gekostet hätte. Insgesamt haben der investigativen Redaktion «Pro Publica» zufolge mehrere Milliardäre Thomas mindestens 38 Ferien und 26 Flüge in Privatjets finanziert. Einer der Flüge, kurz nach Bekanntwerden des Urteilsentwurfs zum landesweiten Verbot der Abtreibung durch das Oberste Gericht, basierte Thomas zufolge auf «Sicherheitsbedenken», ein anderer war die Folge «eines unerwarteten Schneesturms».
Harlan Crow, ein prominenter Sponsor der republikanischen Partei, hat 2014 zudem für 133'363 Dollar in Savannah (Georgia) von Clarence Thomas zwei Immobilien sowie das Haus gekauft, in dem dessen Mutter weiterhin gratis wohnt. Crow will es später angeblich in ein Museum für seinen Freund umwandeln. Ferner spendete der Texaner dem Obersten Richter das Schulgeld für dessen Grossneffen Mark Martin, der wie ein Sohn im selben Haushalt aufwächst. Das Schulgeld für die zwei Privatschulen soll mehr als 150'000 Dollar gekostet haben – Geschenke, die Thomas nicht deklariert hat. Ein weiterer reicher Freund kaufte dem Richter für 267’230 Dollar eine zwölf Meter lange Motoryacht, die es ihm erlaubt, «den Gemeinheiten in Washington DC zu entkommen». Auch diese Spende wurde nicht deklariert.
Doch Clarence Thomas ist nicht der einzige konservative Oberste Richter, der von Gefälligkeiten profitiert. Neil Gorsuch besass zusammen mit Partnern Land in Colorado, das kurz nach seiner Ernennung zum Obersten Gericht vom CEO einer prominenten Anwaltsfirma gekauft wurde. Die Firma Greenberg Traurig vertrat in der Folge mehrmals Klienten vor dem Supreme Court, wobei Gorsuch in acht von zwölf Fällen im Sinne von Greenberg Traurig urteilte.
Ein dritter Fall betrifft Chief Justice John Roberts, dessen Frau, eine Juristin, zwei Jahre nach der Ernennung ihres Mannes «aus ethischen Gründen» ihre Kanzlei schloss. Stattdessen begann sie als Personalvermittlerin für prominente Anwaltskanzleien zu arbeiten, in welcher Eigenschaft sie laut der Zeitschrift «Business Insider» mehr als zehn Millionen Dollar an Honoraren einstrich. In einem vierten Fall liess sich Richter Samuel Alito von einem Hedgefonds-Milliardär Ferien in einer Luxuslodge in Alaska bezahlen, die er allerdings als «normale Gastfreundschaft» und den Transport im Privatflugzeug als «für einen sozialen Anlass» einstufte.
Ähnliches, wenn auch nicht in vergleichbarem Ausmass, hat in der Vergangenheit liberale Angehörige des Supreme Court betroffen. Richter Stephen Breyer und Richterin Ruth Bader Ginsburg liessen sich wiederholt von diversen Gruppen zumindest Reisen finanzieren. Im Falle Ginsburgs war der Sponsor ein israelischer Milliardär, der auch in Fälle vor dem Obersten Gericht verwickelt war. Richterin Sonia Sotomayor mochte nicht in den Ausstand treten, als es um einen Fall ging, der den Verlag betraf, der ihre Bücher publiziert.
In keinem der erwähnten Fälle sind Gesetze gebrochen worden. Zwar gibt es in den USA seit Watergate zwei Bundesgesetze, die das Oberste Gericht betreffen: das eine regelt die Offenlegung von Finanzen und das andere die Notwendigkeit, in den Ausstand zu treten in jenen Fällen, in denen es zu Interessenkonflikten kommen kann. Doch die beiden Gesetze sind relativ schwammig und lassen ein breites Interpretationsspektrum zu. Wann hört zum Beispiel zulässige Gastfreundschaft auf und wo beginnt unerlaubte Bestechung?
Doch kein externes Gremium entscheidet heute, was in einem bestimmten Fall zulässig ist und was nicht: Die Angehörigen des Supreme Court selbst haben das letzte Wort. Sie allein bestimmen, wie transparent sie ihre Finanzen offenlegen oder unter welchen Umständen sie in den Ausstand treten wollen. Es ist ein unhaltbarer Zustand, den anzutasten die Politik bisher aber nicht gewagt hat. Dies wohl nicht zuletzt aufgrund der Furcht, einer Verletzung der Gewaltentrennung beschuldigt zu werden.
Das muss sich ändern. Die meisten Aussenstehenden sind sich heute einig, dass es für das Oberste Gericht in Washington DC einen verbindlichen Ethik-Kodex braucht, der sich auch durchsetzen lässt. Fragt sich nur, wer einen solchen durchsetzen soll: der Kongress, das Justizministerium oder eine Art Ombudsstelle? Alle Beteiligten sind sich dabei einig, dass die Justiz völlig unabhängig bleiben muss. Doch ein Ethik-Kodex würde nicht die juristische Tätigkeit des Gremiums betreffen, sondern dessen Lebensstil und allfällige Interessenkonflikte.
Doch noch herrscht in Sachen Verbesserung Stillstand. Im Kongress fehlen die nötigen Stimmen, um einen nachhaltigen Wechsel zu bewirken, und das Oberste Gericht ist nicht willens, sich einschneidender zu regulieren. Auch hat Chief Justice John G. Roberts es «respektvoll» abgelehnt, in Sachen Ethik vor der Justizkommission des US-Senats auszusagen, eine Weigerung, die unter demokratischen Volksvertretern auf Unverständnis stösst. Aber auch Präsident Joe Biden zeigt kein Interesse, sich in die Diskussion einzuschalten. Er hat zwar einzelne Entscheide des Supreme Court wie etwa jenen in Sachen Abtreibung kritisiert, mag aber am Status quo trotzdem nicht rütteln.
So ist es denn kein Wunder, dass das Vertrauen der amerikanischen Öffentlichkeit in die Justiz des Landes schwindet. Weniger als vier von zehn Befragten vertrauen einer jüngsten Umfrage zufolge dem Obersten Gericht noch «stark» oder «ziemlich stark». 2018 waren es noch 59 Prozent gewesen. Und mehr als zwei von drei Amerikanerinnen und Amerikanern finden, dass Oberste Richter nicht mehr auf Lebzeiten gewählt werden sollten, wie es die Verfassung vorsieht.
Währenddessen finden 43 Prozent der Befragten, unter ihnen ein Viertel Republikaner, dass Richter Clarence Thomas wegen inkorrekter Offenlegung von Gefälligkeiten und Geschenken gegen das Gesetz verstossen hat. Höchste Zeit also für Chief Justice John G. Roberts, sein Gremium nicht stur gegen externe Kritik zu verteidigen, sondern interne Probleme offensiv anzugehen.
Da genügt es nicht mehr, auf entsprechende Fragen hin zu erwähnen, wie kollegial sich Richterinnen und Richter des Supreme Court doch verhalten und wie sie sich vor Arbeitsbeginn jeweils sogar die Hand geben. Oder zu erzählen, dass das Gremium selbst nach umstrittenen Entscheiden im Esszimmer des Gerichts zusammen diniert, um dort über alles ausser über die Arbeit zu reden. Besser wäre wohl, die «Supremes» würden sich unter dem Chief Justice mitunter in die Haare geraten. Zum Beispiel in Sachen eines nachhaltigen Ethik-Kodex.