Ich gestehe, dass ich auf die Frage, ob ein ausländisches Ehepaar eine Fahrrad-Reise durch Zentralindien wagen dürfe, wahrscheinlich mit einem Ja geantwortet hätte. Zu vereinzelt waren die Berichte von Raub, Vergewaltigung oder gar Mord, die mir in den letzten dreissig Jahren zu Ohren gekommen sind. Natürlich gab es das alles, aber es überstieg nie eine Risikogrenze, so dass sich Touristen, gerade wenn sie die landesüblichen Vorsichtsmassnahmen befolgten, hätten fürchten müssen. Ich las die Warnungen von EDA und Botschaft mit einer tüchtigen Prise Salz, wohlwissend dass solche Ukas das worst case-Szenario zum Normalfall machen und zudem mögliche Kosten für den Staat einkalkulieren.
Alltäglichkeit sexueller Gewalt
Allerdings hätte ich gewarnt sein müssen. Vor fünfzehn Jahren wurde ich selber Zeuge eines sexuellen Gewaltakts. Ich hatte an einem Sommerabend in meiner Nachbarschaft in Delhi ein Kino besucht, verliess die Vorführung aber mittendrin. Auf dem Parkplatz hörte ich plötzlich das Stöhnen einer weiblichen Stimme, und als ich mich im Dunkel dem Ort näherte, erblickte ich eine offene Wagentür, aus der der Kopf einer Frau hing. Neben dem Auto machte sich ein Mann mit sich zu schaffen, und als ich nähertrat, zwängte sich ein Zweiter aus der hinteren Wagentüre. Ich rief sie an, und sie liefen davon. Ich war unschlüssig, ob ich sie verfolgen oder der Frau zu Hilfe kommen sollte, und dieses Zögern nutzten die Beiden zur Flucht.
Es war ein Fehler gewesen, denn in derselben Nacht wurde eine junge Schweizer Diplomaten-Stagiaire keine fünf Kilometer entfernt von zwei Männern, ebenfalls in ihrem Auto, sexuell missbraucht. In den nächsten Tagen besuchte ich mehrmals die Quartierwache, die das erste Verbrechen untersuchen sollte. Ich sah, mit welcher routinemässigen Nachlässigkeit die Polizei den Fall verfolgte. Die beiden Täter waren schlank und, wie mir schien, gut angekleidet gewesen. Aber die Polizisten präsentierten mir junge, verwahrloste Strassenjungen, die sie überall aufgreifen konnten, zur Identifizierung. Sie schlugen und traktierten sie, und tauschten bedeutungsvolle Blicke untereienander, wenn sich die eingeschüchterten Jungen verhaspelten und widersprachen.
Bei Unterhaltungen mit dem Station House Officer erfuhr ich auch, wie alltäglich in Delhi Vergewaltigungen waren, und wie selten es gelang, die Schuldigen aufzubringen (beide erwähnten Fälle wurden nie aufgeklärt). Wenn Täter überführt werden konnten, kam es selten zu Strafurteilen, und oft sah sich das Opfer einer Phalanx von Wellwishers – Familie, Polizei, Gericht – gegenüber, die ihr rieten, ihren Schändiger doch zu heiraten, damit sich der «Zwischenfall» ohne Gesichtsverlust erledigte.
Der Fall vom 16. Dezember 2012: eine Wende
Dennoch muss ich gestehen – vielleicht spielt hier tatsächlich eine schiefe männliche Optik herein – dass ich trotz dieser Statistiken damit weiterfuhr, sexuelle Gewalt eher als die Ausnahme statt als die Regel zu kategorisieren. Diese mentale Schubladisierung wurde durch die Medien verstärkt. Sie mochten über ausserordentliche Fälle berichten – jenen der Schweizer Diplomatin etwa – aber gerade dies stempelte sexuelle Gewalt zur Ausnahme. Die Frau auf dem Kino-Parkplatz fand nie eine Erwähnung.
Die Vergewaltigung einer Schweizerin am letzten Freitag in Zentralindien wird nun allerdings nicht mehr zur Ausnahme gestempelt. Dafür bietet das Datum vom 16. Dezember 2012 Gewähr, als eine Studentin in einem Bus in Delhi von sechs Männern mit derartiger Brutalität missbraucht wurde, dass sie an den Folgen ihrer Unterleibsverletzungen starb. Seitdem berichten die Zeitungen und Fernsehstationen von neuen Gewalttaten in einer derartigen Kadenz, dass man damit ohne weiteres eine tägliche Seite füllen könnte.
Doch waren die Reaktionen auf jenen Dezembertag, die Schweigemärsche, Strassenschlachten, Medienkampagnen und Gesetzesentwürfe ein Auslöser für eine gesellschaftliche Katharsis? Zweifellos kann sich die indische Oeffentlichkeit den Luxus der Verdrängung nun nicht mehr leisten. Zu intensiv ist das plötzliche Trommelfeuer der Medien. Zum ersten Mal muss sie der Realität sexueller Unterdrückung und Gewalt im eigenen Haus ins Auge schauen.
Die steigende Flut von Nachrichten, die zahllosen Petitionen, das Wiederaufrollen verschleppter Gerichtsverfahren – sie wirken auch wie ein Schuldgeständnis: Dass nämlich Polizei, Politik und Medien und ein passives Publikum es routinemässig vermieden haben, das weite graue Feld sexueller Gewalt auszuleuchten, das von männlichem Prahlgehabe über Belästigung und forciertem Sexualverkehr bis ins Dunkel physischer Gewaltanwendung reicht, auch und gerade im Bereich der Familie.
Ansporn für Nachahmungstäter?
Es gibt nun aber Stimmen, die argumentieren, die Untat von Delhi sei eine goldene Gelegenheit für Nachahmungstäter gewesen. Dies erkläre die plötzliche Zunahme von Vergewaltigungen und ihrer Berichterstattung. Das wäre nicht überraschend im Kontext unserer hochgradig medialisierten Welt. Wie anders lässt sich etwa die plötzliche Zunahme von Gruppen-Vergewaltigungen wie jener in Datia vor drei Tagen erklären, sind es doch Handlungen, die ein Mindestmass an Planung, Koordination und Stillschweigen voraussetzen.
Ist es abwegig, zwischen dem Mord vom letzten Dezember und der Zunahme von Gewalt einen Zusammenhang herzustellen? Genauso wie die spontanen Demonstrationen in Delhi mithilfe medialer Multiplikatoren solche in vielen anderen Städten auslösten, genauso könnte das ständige verbale und visuelle Replay des Gewaltakts auch einen voyeuristischen Effekt haben. Wir gehen ja noch immer reflexhaft davon aus, dass Nachrichten über schlimme Ereignisse eine kathartische Wirkung auf den Empfänger haben. Doch wie haltbar ist diese Theorie? Hat unser Informationskonsum nicht derartige Formen angenommen, dass man eher von medialer Bulimie reden sollte statt von einer geregelten Nahrungseinnahme? Wecken ein schmerzverzerrtes Gesicht, ein hilfloses Stöhnen, angstvolle Augen noch immer das klassische Mitleid, wie es Aristoteles dozierte? Oder lösen sie nicht bei vielen eine sexuelle Reizung aus, weil ein Ausdruck von Schmerz inzwischen in einen Medienkonsum eingebettet ist, der mit den flirrenden Bildern von Pornografie und Gewaltspielen unterfüttert wird?
Labilität des männlichen Medienpublikums
Die Möglichkeit von Nachahmungstaten soll nicht etwa als Ausrede für das Ansteigen von sexueller Gewalt in Indien herhalten. Aber sie kann das Vorurteil relativieren, dem Land generell eine Anfälligkeit für Verbrechen gegen die Frau zu unterschieben. Sie verweist im Gegenteil auf die hohe Labilität eines männlichen Medienpublikums, das auf Schritt und Tritt den Einbruch der Sexualität in seinen Alltag erlebt, auf den es in keiner Weise vorbereitet ist, weder durch elterliche Aufklärung noch durch Sexualkunde in der Schule.
Es ist eine junge Öffentlichkeit, die den Spannungsbogen zwischen der familiären Tabuisierung des Geschlechtverkehrs und der krassen Explizitheit der Medien nicht zu überbrücken vermag. Stattdessen fliehen die Jungen in die Sicherheit patriarchalischer Vorurteile, in der die Frau wie selbstverständlich das Objekt männlichen Verlangens und Machtgehabes bleibt. Und welcher Akt koppelt die beiden Impulse besser als sexuelle Gewalt?