Vergangene Woche erhob ein pakistanischer Staatsanwalt Mordanklage gegen Pervez Musharraf. Er soll – direkt oder indirekt – für den Tod von Benazir Bhutto verantwortlich sein. Sie war am Abend des 27. Dezember 2007 in der Garnisonsstadt Rawalpindi von einem Gewehrschuss getroffen worden, als sie am Ende einer Wahlveranstaltung in ihrem Pajero wegfuhr. Bhutto stand in der Dachluke ihres Wagens und winkte ihren Anhängern zu, als dieser Schuss auf sie abgefeurt wurde. Sekunden später explodierte die Bombe eines Selbstmörders, als wollte er sicherstellen, dass Frau Bhutto diesmal mit Sicherheit ins Jenseits befördert worden war.
Der erste Anschlag
Ich erinnere mich genau an diesen Tag, weil es mein letzter Arbeitstag als NZZ-Korrespondent in Delhi war. Ich hatte soeben meiner Frau „Wir sind frei!“ zugerufen und mit ihr angestossen, als unsere Tochter aus dem Nebenzimmer rief, auf Benazir sei laut CNN ein Anschlag verübt worden. Ich hatte keinen Grund, an der Nachricht zu zweifeln. Zwei Monate zuvor war ich in Karachi gewesen, als Frau Bhutto ihr zehnjähriges Exil beendet hatte und ihr über eine Million Menschen bei ihrer Rückkehr zujubelten. Unter ihnen befand sich auch ein Selbstmordattentäter, der sich auf dem Weg von Flughafen in die Stadt bei ihrem Bus in die Luft sprengte.
Wie durch ein Wunder blieb Bhutto unversehrt. Keine vierundzwanzig Stunden später empfing sie uns Journalisten im Garten ihres Hauses. Bereits in Dubai habe sie erfahren, sagte sie, dass vier Attentatspläne bestanden – einen hätten die pakistanischen Taliban ausgeheckt, einen zweiten eine sunnitische Untergrundorganisation in Karachi, ein weiterer komme aus der Küche des Chefs der Provinzregierung von Punjab und ein vierter aus jener des militärischen Geheimdienstes ISI – und damit von Staatspräsident Pervez Musharraf.
Sicherheit gegen Nettigkeit
Noch unter dem Schock des Attentats vom Vorabend hatten wir keinen Grund, an ihrer Verschwörungsthese zu zweifeln – ausser dem Verdacht gegen Musharraf. Er hatte ja, so argumentierten wir Journalisten unter uns, Bhutto den Weg nach Hause geeebnet, als er die Korruptionsklagen gegen sie aufheben liess. Für den schlauen Fuchs, für den sich Musharraf hielt, machte es Sinn, Bhutto als Premierministerin zu haben. Damit würde er den immer lauteren Ruf nach mehr Demokratie aufnehmen – und selber im Amt bleiben.
Doch es kam anders. Benazir, von der Bhutto-Begeisterung und dem Überdruss von zehn Jahren Militärdiktatur angestachelt, machte den General zu ihrer Zielscheibe. Es sah so aus, dass die demokratische Welle des Wahlkampfs seinen Stuhl, statt ihn zu stärken, umstürzen könnte. Nur Tage vor dem Bhutto-Attentat verriet Musharraf seine Irritation, als er sie in einem Interview beschuldigte, das Übereinkommen für ihre Rückehr verletzt zu haben. Der Untersuchungsbericht der UNO über den Mord zitiert Musharraf mit der Warnung an ihre Adresse: „Ich beschütze Sie nur, wenn Sie nett zu mir sind. Sie müssen eines verstehen: Ihre Sicherheit hängt von der Qualität unserer gegenseitigen Beziehung ab.“ Dem CNN-Journalisten Wulf Blitzer sandte BB ein E-Mail, das im Fall ihres Todes veröffentlicht werden sollte. Es lautete, dass Musharraf die Verantwortung für ihren Tod trage.
Falsche Anschuldigung
Der UNO-Bericht, dessen abgekürzte Version soeben in der Zeitschrift "Foreign Affairs" erschienen ist, zählt eine Reihe von Verdachtsmomenten auf, die den Sicherheitsapparat des Staats belasten. Zwar setzte Musharraf sofort nach dem Mord eine Untersuchungskommission ein. Aber als diese am Schauplatz des Mords Beweismaterial sicherstellen wollte, war der Ort von der Polizei bereits mit Wasserwerfern "gereinigt" worden. Dasselbe geschah mit dem Unglücksfahrzeug, das von allen Spuren gesäubert war, als die Kommission es endlich inspizieren konnte.
Dafür war die Regierung sofort mit einer Klärung des Attentats zur Stelle. Bereits am Tag danach wartete sie mit der Meldung auf, wonach ein Telefongespräch aufgefangen wurde, in dem Taliban-Chef Baitullah Mehsud einem Gewährsmann "für die spektakuläre Aktion" gratulierte. Das genügte offenbar als Evidenz, und Mehsud wurde den Amerikanern zum Abschuss freigegeben. Im September 2009 wurde er durch eine amerikanische Predator-Drohne getötet. Gegenüber dem Parlamentsabgeordneten der Region Süd-Waziristan hatte er mehrfach beteuert, mit dem Mord an Bhutto nichts zu tun zu haben.
Musharraf unter Druck
Trotz der (Weiss-)Waschaktion konnte Musharraf die politischen Folgen des Mords nicht für sich nutzen. Die Benazir-Partei PPP gewann mit einer Sympathie-Welle für die "Märtyrerin" die Wahlen und konnte die Regierung bilden. Musharraf geriet immer mehr unter Druck. Er verwickelte sich in einen Streit mit der Justiz, und dieser brach ihm schliesslich politisch das Rückgrat und zwang ihn ins Exil. Ausgerechnet Asif Zardari, Musharrafs "Bête Noire" und der Witwer von Frau Bhutto, wurde sein Nachfolger als Staatspräsident.
Genau wie Benazir Bhutto und so viele andere Spitzenpolitiker zog auch Musharraf das drohende "Martyrium" einer Pensionärsexistenz in London vor. Überhaupt scheinen viele Pakistaner ihre Politiker dann am meisten zu lieben, wenn sie tot sind. Zudem können sich deren politische Erben mit einem makabren Todeskult Stimmengewinne erhoffen. Er gründete eine Partei, kehrte nach Pakistan zurück und träumte von einem Wahlsieg. Seine vielen Gegner, allen voran die Gerichte, erkannten die Chance, es ihm heimzuzahlen. Statt zum Wahlkampf wurde er vor Gericht geladen. Vier Klagen wurden gegen ihn verhängt, neben jener der Verantwortung für den Bhutto-Mord eine wegen Hochverrat und eine wegen Terrorismus. Letzte Woche begannen die Verhandlungen über die erste Mordanklage.
Sympathie für die Toten
Allerdings wagten es weder die Regierung noch die Justiz, den früheren Militärdiktator in Gefängnis zu werfen. Der militärische "Esprit de Corps" verbot es, einen ehemaligen Offizier gänzlich der Ziviljustiz auszuliefern. Musharrafs Villa am Stadtrand von Islamabad wurde offiziell als Gefängnisfiliale deklariert. Und obwohl für Häftlinge in pakistanischen Gefängnissen Mobiltelefone verboten sind, konnte und kann Musharraf weiterhin mit Twitter-Wortmeldungen Anteil am politischen Geschehen nehmen. Wahlen und Zivilregierungen in Ehren – aber die Armee als Macht im Hintergrund beharrte auf ihrem Sonderstatus.
Oder doch nicht? Dass es überhaupt zur Klage gegen den ehemaligen Armee-Chef gekommen ist, ist für die pakistanischen Medien bereits eine Sensation. Noch nie hat die Justiz des Landes über einen General zu Gericht gesessen. Dass Musharraf nun vielleicht fallengelassen wird, mag ein Symptom für den Verlust an politischer Legitimation sein, welche die Armee angesichts der Unfähigkeit demokratischer Politiker lange genossen hat. Es ist aber auch ein Zeichen dafür, dass demokratische Institutionen sich langsam gegen die Militärs durchzusetzen beginnen. Und vielleicht ist es doch so, dass Tote länger leben: Politische Märtyrer wie Benazir Bhutto können nach ihrem Tod Siege erringen, von denen sie als Lebende nur träumen konnten.