Der Sonntag, 18. November 2012, ist ein friedlicher Tag in Bombay. Kein Lärm von Bussen und ihren quietschenden Bremsen, die holprigen Wasser-Tankwagen bleiben aus, ebenso wie die Taxi-Hupen, und statt dem ständigen Kommen und Gehen an der ‚Bandra Promenade‘ herrscht dort Stille. Doch es ist eine Friedhofsruhe. Als am Samstag am frühen Nachmittag die Nachricht vom Tod Bal Thackerays eintraf, leerten sich die Strassen im Nu. Die schweren Rollläden der Ladenlokale ratterten herunter, die Vorortszüge waren nur noch in einer Richtung überfüllt – hinaus aus der Stadt! – und viele Samstagsarbeiter machten sich zu Fuss auf den Heimweg, weil die Busse aus dem verkehr genommen wurden.
Mit Schlagstöcken und Hebelstangen
Wir waren gewarnt worden. Seit einer Woche wurde die Öffentlichkeit mit Bulletins vom Krankenbett des 86-jährigen Politikers versorgt, die „das Schlimmste befürchten“ liessen. Mehrmals verdichteten sich die Gerüchte von Thackerays Tod so stark, dass die Läden schlossen und die Leute zuhause blieben, bis sich am Abend herausstellte, dass der Tiger noch am Leben war. Statt Parties abzusagen und öffentliche Anlässe zu verschieben, machten sich Twitter und Facebook dann wieder lustig über das Spiel mit dem Tod, das sich dieser dreiste alte Mann mit uns erlaubte. Doch die Angst war nicht gespielt. 45 Jahre lang hatte sich Thackeray – die anglisierte Schreibung des Lokalnamens Thakre – auf ‚Bandhs‘ spezialisiert. Das Wort bedeutet ‚Schliessung‘, und er musste es nur aussprechen, um seine ‚Shivaji-Brigaden‘ (nach Thackerays Nationalhelden Shivaji aus dem 18.Jahrhundert) in Bewegung zu setzen. Mit Schlagstöcken und Hebelstangen bewaffnet, mit der Polizei als lachenden Zuschauern, war die Stadt rasch lahmgelegt. In den sechziger Jahren machten die ‚Boys‘ der ‚Shiv Sena‘ Jagd auf die emsigen Südinder, die den lokalen ‚Mumbai Manoos‘ die Jobs wegnahmen.
Kastenlose und Muslime als Feindbilder
Dann liess sich der Lokalmatador von den Bossen der Kongresspartei anheuern, um den kommunistischen Gewerkschaften in der Textilindustrie das Genick zu brechen. Und er verkaufte seine Dienstleistungen an Industrielle, um streikende Arbeiter zur Ordnung zu rufen. Er liess es zu Strassenkämpfen mit den kastenlosen Dalits ankommen, denn seine Maratha-Kriegerkaste konnte wenig anfangen mit dem weinerlichen Schlapptuch Mahatma Gandhi und dem Dalit-Idol B.R. Ambedkar, diesem unberührbaren Emporkömmling in Krawatte und Anzug. Schliesslich entdeckte Thackeray die indischen Muslime als Feindbild und lehrte diese ‚Fünfte Kolonne Pakistans‘ das Fürchten.
Indien ist stolz auf seine Demokratie, aber im Verhalten der Marathen-Mittelklasse von Bombay zeigt sich auch, wie schnell diese bereit ist, bürgerliche Rechte und Pflichten zu vergessen, wenn ein starker Führer daherkommt, der materielle Sicherheit garantiert und die Brust mit Stolz auf die eigene Herkunft anschwellen lässt. Sei’s drum, wenn er für diesen Zweck die hungrige Jugend aus den Slums kriminalisiert und den vermeintlichen Gegnern die Türen einschlägt und die Werkstätten in Brand steckt.
Nie eine Nacht im Gefängnis
Thackeray verachtete Rechtsstaat und Demokratie. Er gab seiner Geringschätzung Ausdruck, indem er sicherstellte, dass er – obwohl unzählige Male verhaftet – nie auch nur eine Nacht im Gefängnis verbrachte. Und nie einen Tag im Parlament. Die Richter schüchterte er ein, und die Politiker kontrollierte er durch „remote control“. Die „Shiv Sena“ blieb eine Lokalpartei, aber weil sie Bombay beherrscht(e), sind ihre Koffern gut gefüllt. Doch die Kombination von Peitsche und Zuckerbrot bedarf auch eines charismatischen Führers, und sein Sohn Uddhav tönt wie ein sanfter Bauchredner, wenn er Gift speit. Sein Neffe Raj Thackeray hat das Zeug zum Demagogen, hat sich aber von der Familie getrennt. Der Niedergang der Partei scheint vorgezeichnet.
Mit dem Schutz der ‚Sons of the Soil‘, der Legitimierung von Gewalt und dem Schüren von Angst erschöpft sich Thackerays faschistische Ideologie. Alles Andere ist Verhandlungssache, oder eine Frage der Laune – das höchste Adelsprädikat eines Diktators. Seinen Werdegang verdankt er der Gabe, jede Person, Partei oder Thema zur Karikatur zu reduzieren. Thackeray begann als Zeitungskarikaturist, und er liebte es, seine Gegner mit einigen Charakterstrichen zu verhöhnen – aber auch, sie dann zu Tisch zu laden. Er fuchtelte gegen das Schlachten von Kühen, umsomehr als es meist von der Hand der dreckigen Muslime geschah. Anderntags liess er sich aus der Kueche eines Bollywood-Stars ‚Biryani‘ nach Hause bringen, die klassische muslimische Fleischmahlzeit. Thackeray wollte nicht nur als Diktator in die Geschichtsbücher eingehen. Er sah sich auch als Künstler, ähnlich wie Hitler, den er ebenso achtete wie den Zeichner Walt Disney.
Mediale Lobeshymnen von der Prominenz
Solche Verachtung für Prinzipien bescherte ihm Anhänger nicht nur unter den Lumpenelementen, sondern auch in der Mittel- und Oberschicht. Oder war es einfach Angst vor Scherben und aufgeschlitzten Pneus, die so viele Filmstars, Industrielle, Journalisten, Künstler und Sportler in die Knie gehen liess? Weder Amitabh Bachhan noch Ratan Tata liessen es sich nehmen, in den heutigen Sonntagszeitungen Lobeshymnen auf den toten Thackeray anzustimmen. In der vergangenen Woche wand sich jede Gesellschafts-Ikone einen Weg durch die vielen Wartenden vor dem Haus des „Tigers“, um von Fernsehkameras erfasst zu werden und damit eine Versicherungspolice zu haben. Der Cricket-Held Sachin Tendulkar entschuldigte sich öffentlich, dass er nicht in Bombay war und ‚Balasahib‘ besuchen konnte.
Ich begegnete Thackeray nur einmal, am Sonntagabend des 8.Januar 1993, als die Zerstörung der Moschee von Ayodhya durch Hindu-Fanatiker (darunter Thackerays ‚Shiv Sena‘) auch in Bombay zu schweren Ausschreitungen gegen Muslime führte. Thackeray empfing meinen Schwiegervater Kekoo Gandhy und mich auf der Dachterrasse seines Hauses. Er trug einen Bademantel und Lufthansa-Plüsch-Finken, rauchte die Pfeife und trank Bier. In der Ferne, dort wo die Lager der (muslimischen) Holzhändler standen, sah man Rauchsäulen aufsteigen. Thackeray liess seinen Blick über die Stadt schweifen, wie ein General, der das Geschehen auf dem Schlachtfeld verfolgt. Ich fragte ihn, ob seine Shivaji-Brigaden fuer die Brände verantwortlich seien. Er schaute mich, misstrauisch geworden, durch seine übergrosse Brille kurz an. Dann lächelte er, zog an seiner Pfeife und meinte, mit beiläufiger Ironie: „Nein-Nein, meine Boys würden dies doch nicht tun“.
**“Das verzeihe ich Bal Thackeray nicht“
So wie er gelebt hat, ist Bal Thackeray nun gestorben – indem er, über seinen Tod hinaus, Furcht verbreitet und zahllose Menschen in ihren Grundrechten verletzt. Dazu gehört auch das Recht, Trauergebete für einen Verstorbenen (ausser für ihn) zu sprechen. Heute morgen mussten wir das letzte offizielle Trauergebet zuhause für meinen vor zehn Tagen verstorbenen Schwiegervater Kekoo Gandhy absagen. Der Priester befürchtete, dass er auf der Fahrt zu uns in einen Steinhagel geraten könnte, weil er es gewagt hatte, den ‚Bandh‘ zu missachten. Das verzeihe ich Bal Thackeray nicht. Und deshalb ist sein heutiger Begräbnistag für mich auch ein friedvoller, ein freudvoller Tag.